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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Meine siebzig Jahre und die vergangene DDR

Victor Grossman, Karl-Marx-Allee, Berlin, August 2022

 

Es ist ein bedeutsamer Tag! Nicht für die Welt – für die es nichts Besonderes ist. Aber für mich! Vor gerade einmal siebzig Jahren zog ich in nervöser Panik meine Jacke, Schuhe und Ärmelabzeichen der US-Armee aus und trat in die reißende Donau, die bei Linz im immer noch besetzten Österreich die US-Zone von der UdSSR-Zone trennte. Obwohl dieser kurze Abschnitt sehr nass war, war er Teil des langen Eisernen Vorhangs. Und ich schwamm in eine Richtung, die die meisten Amerikaner für eine sehr falsche Richtung halten würden!

Es war nicht wirklich meine freie Wahl! 1950 entschied der McCarran Act, dass sich alle Mitglieder von Organisationen der »Kommunistischen Front« sofort als ausländische Agenten registrieren lassen müssen. Ich war in einem Dutzend gewesen; American Youth for Democracy, das Anti-Fascist Spanish Refugee Committee, der Southern Negro Youth Congress (ich gab ihnen einen Dollar als Solidarität), die Sam Adams School, die American Labour Party, Young Progressives und – am abscheulichsten von allen – die Communist Party. Die Höchststrafe für die Nichtregistrierung könnte 10.000 US-Dollar betragen und – pro Tag! – 5 Jahre Gefängnis!! Weder ich noch sonst jemand beugte sich vor dieser Monstrosität!

Aber im Januar 1951, während des Koreakrieges, wurde ich eingezogen – und musste unterschreiben, dass ich nie auf dieser langen, langen Liste stand. Sollte ich Jahre im Gefängnis riskieren, indem ich meine Schande eingestehe? Oder unterschreiben und im Verborgenen hoffen, zwei Jahre in der Armee zu überleben, ohne dass jemand nachschaut?

Ich habe unterschrieben.

Sie haben es jedoch überprüft! Jahrzehnte später, dank des FOIA (Freedom of Information Act), enthüllten 1100 Seiten (!) FBI-Akten über mich (bei 10c/Seite), dass die Jungs von J. Edgar Hoover mich genau beobachtet hatten, als linken Harvard-Studenten (die Namen von sieben Informanten wurden redigiert) und als Arbeiter in Buffalo, wo ich gehofft hatte, helfen zu können, den kämpferischen Charakter der CIO-Gewerkschaften der 1930er Jahre zu retten.

Im August 1952 listete ein Pentagon-Brief sieben meiner Mitgliedschaften auf und befahl mir, mich »am Montag beim Hauptquartier zu melden«. Die angedrohte Strafe für meinen Meineid: bis zu 5 Jahre, vielleicht in Leavenworth. Bis dahin waren Dutzende von Kommunisten angeklagt worden; viele wurden ins Gefängnis geschickt. Zum Glück war ich nicht nach Korea geschickt worden, sondern nach Bayern, neben Österreich. Da mich niemand beraten konnte, entschied ich mich für die Donau.

Jenseits des Flusses, in einer überraschend stillen Sonntagslandschaft, keineswegs wie ein Eiserner Vorhang, hielten mich die Sowjets zwei Wochen lang in einem vergitterten, aber höflichen Gefängnis fest und fuhren mich dann nach Norden in die Deutsche Demokratische Republik, Ostdeutschland. Ich hatte wieder Glück; die DDR war das erfolgreichste, unbeschwerteste von allen im »Ostblock«. Die nächsten 38 Jahre, als Amerikaner, aufgewachsen mit einer breiten, vielfältigen Bildung (sechs öffentliche Schulen, Bronx Science, Dalton, Fieldston, Harvard), beobachtete ich mit linksgerichteten, aber nicht dogmatisch beschränkten Augen den Aufstieg und dann den Fall dieses westlichen Vorpostens des Sozialismus (oder Kommunismus, »Staatssozialismus«, »Totalitarismus« oder was auch immer).

In antifaschistischer Atmosphäre

Ich fand weder Utopia noch damals oder je den Hunger, die Armut und das allgemeine Elend, die mich die amerikanischen Medien erwarten ließen. Selbst im entscheidenden, schwierigen Jahr 1952-1953, weniger als acht Jahre nach dem Krieg, war das Angebot der Geschäfte zwar begrenzt, es mangelte an Vielfalt, Stil und oft genau an dem Artikel, den man suchte, aber sie waren mit dem Nötigsten gut genug bestückt. Ostdeutschland war viel kleiner und in Bezug auf Industrie und Bodenschätze weitaus ärmer als Westdeutschland. Es hatte über 90 Prozent der Kriegsreparationslast getragen; die schwer zerstörte UdSSR ließ diese erst 1953 fallen. Der DDR fehlten die enormen Investitionsmöglichkeiten durch kriegsverbrecherische Monopole wie Krupp, Siemens, Bayer oder BASF, deren Fabriken sie verstaatlichte, sowie die politisch gewollte Hilfe des Marshallplans. Ein großer Teil ihres wissenschaftlichen, leitenden und akademischen Personals, überwiegend nationalsozialistischen, war vor der Roten Armee und den mit ihr einhergehenden linken, meist kommunistischen Verwaltungsbeamten geflohen – und bekam Jobs bei seinen ehemaligen Chefs, denen es bald wieder gut ging an Rhein und Ruhr. Das schwächte den wirtschaftlichen Aufschwung ernsthaft, aber ich war froh, dass die Kriegsverbrecher weg waren.

Als leidenschaftlicher (und jüdischer) Antifaschist stellte ich mit Freude fest, dass die gesamte Atmosphäre antinazistisch war! Anders als in Westdeutschland wurden die Schulen, Universitäten, Gerichte, Polizeibehörden alle von der Hakenkreuz-Anhängerschaft gesäubert, auch wenn dies zunächst neuen, kaum ausgebildeten Ersatz bedeutete, wie meinen Schwiegervater, einen gewerkschaftsfreundlichen Zimmermann, als Dorf-Bürgermeister oder meine beiden Schwäger als Lehrer. Meine Frau zitterte, als sie an ihre brutalen Lehrer vor 1945 erinnert wurde. Dann wurde in den reformierten Schulen Ostdeutschlands die körperliche Züchtigung sofort verboten.

Natürlich gab es unzählige Probleme in einem Land, das zwölf Jahre lang von Hitler & Co. regiert wurde, in dem Zynismus weit verbreitet war und Stalins kulturelle Ansichten und Antisemitismus bis zu seinem Tod 1953 einen unangemessenen Einfluss ausübten. Zum Glück war der betagte Kommunistenführer Wilhelm Pieck in der Lage dazu, die DDR diesbezüglich bis zu einem gewissen Grade abzuschirmen. Und von Anfang an wurden linke Antifaschisten, oft zurückgekehrte jüdische Exilanten, zu Führern in der gesamten Kulturszene; Theater, Musik, Oper, Literatur, Journalismus und Film, wo wahre Meisterwerke entstanden, oft gegen den Faschismus, aber in Westdeutschland und den USA boykottiert und daher unbekannt. Im allmächtigen Politbüro der Regierungspartei hatte Hermann Axen Auschwitz und Buchenwald nur knapp überlebt (sein Bruder und seine Eltern nicht). Albert Norden war in die USA geflüchtet; seinen Vater, einen Rabbiner, töteten die Nazis in Theresienstadt. In der DDR bin ich in all den 38 Jahren bis auf 3 oder 4 milde Wortklischees keinem Antisemitismus begegnet. Diejenigen, die noch mit faschistischer Ideologie infiziert waren, hielten, außer gegenüber der Familie oder Gesinnungsfreunden, sorgfältig den Mund. Was für mich OK war!

Schritt für Schritt verbesserte sich unser Lebensstandard – meiner sehr lieben Frau, die mich vor Heimweh bewahrte, unserer beider Söhne und meiner – immer weiter, so wie bei fast jedem in der DDR, indem man sich aus eigener Kraft hochzog. Was mich als Amerikaner am meisten beeindruckte: keine Entlassungen, keine Arbeitslosigkeit; es gab Jobs für alle. Die Mieten machten im Durchschnitt weniger als 10 Prozent der meisten Einkommen aus; Zwangsräumungen waren gesetzlich verboten. In den Anfangsjahren wurden große Wohnungen nach Bedarf aufgeteilt; niemand schlief auf der Straße oder ging betteln. Tafeln wurden nicht benötigt, selbst das Wort war unbekannt. Sowenig wie Studentenschulden. Die gesamte Ausbildung war kostenlos, und die monatlichen Stipendien deckten die Grundkosten, wodurch alle Jobs während des Studiums unnötig wurden.

Eine monatliche Lohn- bzw. Honorarpauschale (maximal 10 Prozent) deckte alles Medizinische ab: in meinem Fall neun (kostenlose) Krankenhauswochen mit Hepatitis plus vier Wochen Kur zur Erholung und vier weitere ein Jahr später in Karlsbad. Meine Frau hatte drei Rheumakuren, jeweils vier Wochen, in Polen und im Harz. Alle Kosten wurden übernommen und wir bekamen auch 90 Prozent unserer Gehälter. Verschriebene Medikamente wurden voll übernommen, auch Zahnersatz, Brillen, Hörgeräte; Ich brauchte weder mein Portemonnaie noch mein Scheckheft, um meine täglichen Insulinspritzen oder meinen seit zehn Jahren aktiven Herzschrittmacher zu bezahlen. Auch nicht für die zwei Elternzeiten meiner Frau (sechs Monate bezahlt, der Rest auf Wunsch mit Jobgarantie). Keine Gebühr für volle Kinderbetreuung, Teilnahme an Sport, Sommercamps, weder für Verhütungshilfe noch für kostenlose Abtreibungen, nachdem 1972 ein neues Gesetz verabschiedet wurde. So viele Ängste waren verschwunden – so viele waren völlig unbekannt!

Ich nahm voll am allgemein sehr normalen Leben teil. Zunächst als Fabrikarbeiter, Dreherlehrling, dann Student, Redakteur, Leiter eines neuen Paul/Eslanda-Robeson-Archivs, schließlich als freiberuflicher Journalist, Vortragsredner und Autor. Ich wurde nicht als privilegierter »Amerikaner« behandelt, wie manche annehmen, aber meine letzten drei Tätigkeiten führten dazu, dass ich mit meiner Serie von vier kleinen Zweitakt-Trabant-Fahrzeugen wirklich in fast allen Bezirken, bei allen Altersstufen und in allen möglichen Milieus herumgekommen bin.

Warum ist die DDR gescheitert?

Das mag wirklich fast utopisch erscheinen. Warum haben dann einige ihr Leben riskiert, um zu gehen? Warum wurde eine Mauer gebaut, um sie zurückzuhalten? Warum haben sie für die Vereinigung mit Westdeutschland gestimmt – und dafür, die DDR loszuwerden? Warum ist sie gescheitert?

Es gab allzu viele Gründe. Ostdeutschland war von einem Land besetzt, das man ihm beigebracht hatte zu hassen, dessen Soldaten es am härtesten bekämpft hatten, die in den ersten Wochen oft gewalttätig waren und ärmer und schwieriger zu lieben waren als wohlhabende, daher großzügige, kaugummikauende GIs, die aus einer wohlhabenden, unbeschädigten Heimat kamen. Viele, aber sicherlich nicht alle Ostdeutschen schätzten die wichtige Rolle der Sowjets bei der Niederlage der Nazis und ihren Druck und ihre Führung bei der Beschlagnahme der großen Industrie und dem Brechen der Macht dieser schlimmsten Feinde der Welt und der Deutschen, der Krupps, Siemens’ und der IG Farben, und die Vertreibung preußischer Großgrundbesitzer, der Junker, die in Deutschland so oft bei Massenblutvergießen und Katastrophen kommandierten.

Die Russen boten viel gute Kultur, wie Tolstoi und Dostojewski, Tanz auf höchstem Niveau, »Peter und der Wolf« und »Wenn die Kraniche ziehen«. Doch mit den Beatles und Stones, Elvis Presley und spannungsgeladenen Hollywood-B-Filmen konnten diese an Massenpopularität kaum mithalten.

Solche Verlockungen, darunter einige von hoher Qualität, basierend auf einer ungewöhnlichen amerikanischen Mischung aus anglo-schottischer, irischer, jüdischer, italienischer und insbesondere schwarzer Kultur, wurden geschickt missbraucht, um den politischen und wirtschaftlichen Einfluss und die Macht in der Welt, insbesondere im Ostblock, zu erhöhen. Sie wurden, vor allem in Deutschland, mit cleverer Propaganda gepaart, die sowohl von Goebbels als auch von Edward L. Bernays, dem Meister der Reklamekunst für alles, von der Zahnpasta bis zum Kapitalismus, übernommen wurde. Sie bedrohen die großen alten Kulturen Frankreichs, Italiens, Indiens und sogar Chinas. Während die DDR-Führer in voller Kraft edle Ziele verfolgten, wie konnten solche älteren Männer, durch jahrelangen Kampf auf Leben und Tod gegen Nazi-Mörder abgehärtet, aber normalerweise mit stalinistischen Klischees trainiert, flexibel genug werden, um in gedruckter oder gesprochener Sprache in einen Dialog mit dem durchschnittlichen, wandelbaren Bürger zu kommen? Erfolge gab es zwar – aber zu wenige und zu seltene.

In den 1980er Jahren nahmen die Schwierigkeiten zu, die Aufwärtstrends verlangsamten sich und rutschten nach unten. Die UdSSR bot mit ihren eigenen Problemen keine Hilfe an. Solche Probleme waren schwierig, aber in einer sich verändernden Welt kaum selten oder unüberwindbar – außer dass hier jedes Problem für die unaufhörlichen Versuche benutzt wurde, Ostdeutschland zurückzuerobern und seine qualifizierte, aber ausbeutbare Arbeiterklasse zu gewinnen und von dort nach Osten zu ziehen. Die Staatssicherheit oder »Stasi«, die geschaffen wurde, um sich solchen Machenschaften entgegenzustellen, war unangenehm genug, um die Situation noch zu verschlimmern.

Und doch war die DDR dem legendären Ziel, die Armut abzuschaffen und gleichzeitig die furchtbar wachsende Kluft zwischen Arm und Reich auf der Grundlage eines obszönen Profitsystems drastisch zu verringern, wahrscheinlich näher gekommen als jedes andere Land der Welt. Aber sie konnte sich das immense Warenangebot – Lebensmittel, Kleidung, Haushaltsgeräte, Elektronik, Fahrzeuge und Reisen –, das der Westen, allen voran die USA und Westdeutschland, bot, nicht leisten. Die DDR-Bürger nahmen all ihre erstaunlichen gesellschaftlichen Vorteile als selbstverständlich hin und träumten von selten vorhandenen Bananen und unerreichbaren VWs, von Golden Arch und Golden Gate – ohne zu ahnen, dass diese aufgrund der Armut von Kindern in Westafrika oder Brasilien, von ausgebeuteten Pflückern auf andalusischen oder kalifornischen Feldern und Obstplantagen weitgehend verfügbar und bezahlbar sind. Einige beginnen gerade erst zu begreifen, dass die Milliardärsgiganten, nachdem sie so viele Farbige betrogen, das Weltklima zerstört und immer tödlichere Vernichtungswaffen eingesetzt haben, bald den Drang verspüren könnten, die komfortabel lebenden Mittelschichten in ihren eigenen Ländern auszuquetschen und zu ruinieren. Der Beginn ist bereits bei vielen Familien zu spüren.

Ich blicke auf meine siebzig Jahre als Auswanderer zurück und betrachte mich immer noch als patriotischen Amerikaner – nie für die USA von Morgan oder Rockefeller, sondern für die von John Brown, Harriet Tubman, Eugene Debs und Elizabeth Gurley Flynn, von DuBois, Robeson, Malcom und Martin.

Ich liebe und bewundere auch große Deutsche: Karl Marx, Friedrich Engels, Karl Liebknecht, die große polnisch-deutsche Rosa Luxemburg – oder große Schriftsteller: Lessing, Goethe, Heinrich Heine, Thomas Mann, Bertolt Brecht. Und ich achte Menschen aus allen Ländern und fühle mit ihnen, meinen Brüdern und Schwestern, von Guam bis Guatemala – und Gaza.

Ich kann nur hoffen, dass neue Generationen von der DDR lernen und nicht nur von ihren Fehlern, üblen Gewohnheiten und Beschränkungen, die aus ihrer Geschichte und allzu realistischen Umsturzängsten entstanden sind.

Sie wurde schließlich gestürzt und steht nicht länger als Hindernis für eine erneute milliardenschwere Expansion – wirtschaftlich, politisch und militärisch – nach Süden und Osten im Wege. Sie wird immer noch herabgesetzt oder verleumdet – hauptsächlich aus Angst, dass sie noch nicht ausreichend ausgelöscht und vergessen ist. Trotz meiner manchmal in diesen Jahren empfundenen Verzweiflung, ja Wut über Irrwege oder verpasste Chancen, blicke ich immer noch mit einer Mischung aus Nostalgie, Bedauern und auch Stolz zurück auf ihre vielen hart erkämpften Errungenschaften, in der Kultur, im Zusammenleben, in teilweiser Überwindung des Habgier- und Rivalitätskults, in unbeirrbarer DDR-Unterstützung für die Mandelas, die Allendes und Ho Chi Minhs, auch für Angela Davis – und nicht, wie ihre letztlich stärkeren und siegreichen Gegner in Bonn, für die Pinochets, Francos, die Rassisten und Apartheid-Tyrannen. Ich erinnere mich an unsere Erfolge bei der Vermeidung von Krieg und dem Streben nach einem Leben ohne Angst oder Hass. Im Großen und Ganzen waren es gute Jahre. Ich bin froh, dass ich sie durchlebt habe.

 

(Englischsprachige Rundmail an die Empfänger von »Victor Grossman's Berlin Bulletin« –https://victorgrossmansberlinbulletin.wordpress.com – am 21. September 2022, vor allem für Amerikaner. Übersetzung: Redaktion. In der Printfassung geringfügig gekürzt, komplett in der Online-Ausgabe)

 

Mehr von Victor Grossman in den »Mitteilungen«: 

2022-03:  Guadalajara und heute

2021-01:  Georgia – Martin Luther King, Biden und andere

2020-12:  Joseph Biden – Gibt es Fragezeichen?

2020-04:  Sanders, Biden und die Demokraten

2018-10:  Gehobene Fäuste und ein gebogenes Knie