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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Gehobene Fäuste und ein gebogenes Knie

Victor Grossman, Berlin

 

An meinem allerersten Schultag lehnte ich, 6 Jahre alt, es ab, den von allen Kindern ver­langten täglichen Fahneneid mitzusprechen, stehend, damals mit der Hand nicht am Her­zen, sondern schräg und steif an der Stirn. Als alle Kinderaugen staunend auf mich gerich­tet waren, stotterte ich etwas Lobendes über Russland und fing an zu heulen. Draußen herrschte die große Krise; ich hatte lange Schlangen von Männern um eine warme Suppe anstehen gesehen und Gutgekleidete, die Äpfel, 5 Cent das Stück, an den Straßenecken verkauften. Ich hatte neben Müllbergen Hunderte von zusammengeschusterten Hütten ex­mittierter Familien gerochen. Und ich hatte gehört, dass in Russland alle Arbeit hätten. Das war im zunehmend roten New York der 1930er Jahre. Abends sprach wohl die Lehre­rin mit meinen Eltern, und die mit mir, und ab dem zweiten Schultag sprach ich die kleine Treueformel artig mit.

Die schöne Nationalfahne und die schöne Nationalhymne (wenn auch die hohen Töne schwer erreichbar sind) spielten seit mehr als hundert Jahren eine besonders große Rolle – wobei die Wortverbindung zu Nationalismus nicht nur sprachlich galt. Fahne wie Hymne wurden immer mehr betont und oft verlangt, je weiter und härter die USA-Mächtigen sich in der Welt ausbreiteten.

Mexiko 1968: Schwarzer Protest gegen Rassismus

Im USA-Innenleben spielt der Zuschauersport eine gewichtige Rolle, und es wird ständig versucht, ihn mit dem Nationalismus zu verbinden. Das Singen der Nationalhymne vor je­dem Baseballspiel begann während des Zweiten Weltkriegs, und da durch elektrische Ver­stärkung Kapellen nicht mehr nötig waren, verbreitete sich die Sitte schnell in allen Diszi­plinen, auch beim amerikanischen Football, der 1972 den »amerikanischen Nationalsport Baseball« nach der Popularität von der ersten Stelle verdrängte. Gerade während des Viet­namkriegs beschloss der oberste Football-Zar gar, dass während der nun obligaten Hymne alle Spieler in Habachtstellung zu stehen hätten, mit Helm unterm Arm, und weder reden, Gummi kauen noch die Beine bewegen durften. Meist kam dabei eine Solostimme aus den Lautsprechern, während das Publikum mehr oder weniger mitsang.

Es besteht in den USA noch eine Tradition, älter als Football, Baseball und auch die Natio­nalhymne. Schon 1619, mit dem ersten Sklavenschiff, landete der Rassismus, der bis heu­te und wie kein anderer Faktor die USA-Geschichte bestimmt und vergiftet hat. Bei jedem Fortschrittskampf versuchten seine Gegner, meist mit Erfolg, ihn zu spalten und die Gefüh­le weißer Arbeitender gegen die schwarzen Menschen zu lenken, statt gegen ihre wahren Gegner und Ausbeuter. Dabei musste die schwarze Bevölkerung immer wieder verzweifelt und isoliert um ihre Rechte kämpfen.

Vor fünfzig Jahren trafen alle drei Faktoren zusammen. Mit hohen Fahnen zog das USA-Team in die Olympischen Spiele nach Mexiko. Hier im Nachbarland musste es unbedingt der Sieger werden.

Doch war 1968 kein gewöhnliches Jahr. Die USA führten einen fürchterlichen Krieg gegen Vietnam, und zwar mit verhältnismäßig vielen schwarzen Soldaten. Martin Luther King mahnte 1967:

»Wir nahmen die schwarzen jungen Männer, denen unsere Gesellschaft das Lebensrecht versagte, und sandten sie 8.000 Meilen weit weg, um die Freiheiten in Südostasien zu sichern, die sie in Südwest-Georgia und East-Harlem nicht gefunden hatten … Schwarze und Weiße … töten und sterben gemeinsam für eine Nation, die es nicht fertig gebracht hat, sie in den gleichen Schulen nebeneinander sitzen zu lassen. Wir sehen, wie sie mitein­ander in brutaler Solidarität die Hütten eines armen Dorfes niederbrennen, aber es ist uns klar, dass sie niemals in dem gleichen Häuserblock in Detroit wohnen würden.«

Dr. King hatte sich weit vorgewagt; ein Jahr später wurde er ermordet. Im Protest kam es im April zu Aufständen in schwarzen Wohngebieten von über 110 Städten; die Uniformier­ten zogen dagegen, und 39 Menschen kamen ums Leben, 2.000 wurden verletzt, etwa 10.000 verhaftet. Es entstand allmählich wieder Ruhe, doch blieb eine seit Jahren aufge­staute Wut.

Und nun sollten gerade schwarze Sportler*innen, vor allem Leichtathleten, Boxer und Bas­ketballer, ersehnte Medaillen erkämpfen. Ein Plan, wonach schwarze Spieler die Spiele boykottieren sollten, schlug fehl; solche Medaillenchancen bedeuteten zu viel in den Hoff­nungen schwarzer Männer und Frauen. Sie machten also doch mit und stiegen recht oft auf die erträumten drei Edelmetallstufen.

Doch nach dem 200-Meter-Lauf wagten zwei Sportler, Tommie Smith, der Sieger, und John Carlos, der Bronze-Medaillist, ihren Protest zu demonstrieren. Ohne Schuhe, um die Armut so vieler Schwarzer zu symbolisieren, standen sie während des Spielens der Nationalhym­ne, schweigend, mit gesenkten Köpfen und gehobenen Fäusten in schwarzen Handschu­hen. Sofort denunziert von dem rassistischen IOC-Präsidenten Avery Brundage, wurden sie in äußerster Ungnade nach Hause geschickt und viele Jahre lang als Aussätzige behandelt. Erst langsam schien durch, wie mutig sie gewesen waren, erst Jahre später konnten sie als Sporttrainer arbeiten. Beide, heute pensioniert, werden sogar, auf dem Gelände ihrer Hochschule in Kalifornien, mit einer Statue geehrt, die ihre Tat nachgestaltet.

Tommie Smith, der sieben Weltrekorde gelaufen ist, erklärte damals: »Es ist sehr enttäu­schend, in einer Mannschaft mit weißen Sportlern zu sein. Auf der Laufbahn bist du Tom­mie Smith, der schnellste Mensch auf der Welt, doch in den Umkleidekabinen bist du nicht mehr als ein dreckiger Neger.« Er fügte hinzu: »Das schwarze Amerika wird das verstehen, was wir heute gemacht haben.«

Heraus aus der Seifenblase

Ihr Protest war Teil eines langen Kampfs um die Rechte von Schwarzen im Sport. Der erste schwarze Welt-Boxchampion (1910), Jack Johnson, kam ins Gefängnis als Rache für seine Siege über Weiße. Es dauerte bis 1946, ehe schwarze Baseball-Spieler nicht mehr nur in der ärmlichen »schwarzen Liga«, sondern in der bisher nur weißen Baseball Major League glänzen durften, nach jahrelangem Kampf besonders der kommunistischen Zeitung Daily Worker und dem schwarzen Sänger, Schauspieler und in seiner Jugend Star-Footballer und Athleten Paul Robeson.

Auch Mohammed Ali musste teuer für seine Aufmüpfigkeit bei der Ablehnung des Vietnam­kriegs bezahlen. Es erforderte jahrzehntelange Kämpfe und bittere Schläge, ehe es so weit war, dass man im Golf einen Tiger Woods und im Tennis Serena und Venus Williams akzep­tierte.

Dennoch bleiben die Probleme für Schwarze brennend und brutal. Die fast tägliche Brutali­tät der Polizei, ihr Schikanieren und häufiges, schnelles Totschießen, wurden erst jetzt durch Handkameras und Internet weiteren Kreisen sichtbar. Allein 2016 wurden fast 1.100 Menschen durch die Polizei getötet; wie immer waren farbige Menschen in der Mehrzahl. Es geschah oft eilig, völlig unnötig, etwa durch triviale Autoprobleme verursacht, oder einfach das »dort sein, wohin sie nicht gehörten«. Besonders Jugendliche mussten ständig Angst haben.

Neulich sagte John Carlos: »Viele Sportler beginnen heute zu begreifen, dass sie in einer Seifenblase leben. Sie sind den Slums und den Straßen entkommen, doch haben sie ihre Mutter, ihren Sohn oder ihre Tochter noch nicht mitnehmen können. Und wenn sie das Sportdress ablegen und durch die Straße fahren, dann sind sie auch nicht mehr in der Sei­fenblase. Ich glaube, viele beginnen zu begreifen, dass sie für jene sprechen müssen, die allein für sich nicht sprechen können.«

Einer, der für sie doch ein Zeichen setze, war der Footballspieler Colin Kaepernick. 1,93 Meter groß und 204 Kilogramm schwer, mit weißer Mutter, aber selbst dunkelhäutig, spiel­te er für das Team von San Francisco und war einer der besten Offensivspieler im Profi-Football. In einem Vorsaison-Spiel 2016 blieb er während der Hymne sitzen, dann aber, aus »Achtung vor den Menschen in Uniform«, kniete er lieber mit einem Bein, ruhig und ernst, statt aufzustehen mit der Hand am Herzen.

Er erklärte: »Ich stehe nicht stolz vor der Fahne eines Landes, das schwarze und farbige Menschen unterdrückt. Das ist für mich wichtiger als Football; es wäre selbstsüchtig, wenn ich davor wegschauen würde. Leichen liegen in den Straßen, während die Täter dafür bezahlten Urlaub bekommen und von jeder Strafe verschont werden.« Er setze das Knien fort, sagte er, bis er überzeugt ist, dass »die amerikanische Fahne das repräsentiert, was sie repräsentieren soll«.

Eigentlich scheint Knien nicht weniger respektvoll als Stehen und Herzhalten. Doch ist es nicht Standardpraxis – also eindeutig Protest. Solcher Protest wird vielerorts nicht er­wünscht, erst recht nicht von Farbigen oder wenn es um USA-Fahnen und Hymnen geht. Als andere schwarze Footballspieler »took a knee« (»ein Knie nahmen«) und manche, auch einige Weiße, während der Hymne in der Umkleidekabinen blieben oder verbal Unterstüt­zung erklärten, kam es zu einer riesigen Spaltung im Land, denn in der Saison war Foot­ball, im Stadion oder im Bild, der Höhepunkt des Sonntags für Millionen. Viele äußerten Verständnis, besonders als zwei neue Fälle von Schwarzen, die von Polizisten getötet wur­den, in Videobildern zu sehen waren.

Doch Millionen von »Patrioten« empörten sich. Wo Kaepernicks Unterstützer spielten, buh­ten und brüllten sie. Noch schlimmer, sie blieben Spielen fern. Der Prominenteste, Donald Trump, sagte: »Möchten Sie nicht mal gern sehen, falls sich jemand vor unserer Fahne re­spektlos zeigt, wie einer von den Team-Besitzern sagt, ›Vertreibt den Hundesohn gleich vom Spielfelde. Er ist gefeuert, gefeuert!?‹« Über Kaepernick sagte er: »Vielleicht soll er ein Land suchen, dass für ihn besser ist.«

Das Wettern solcher Empörter bedeutete, dass Kaepernick, ein Star-Spieler, keine Stelle mehr fand. Mit seinem Team nicht, dann mit keinem Team. Als ein kleines Team es mit ihm wagen wollte, bekam der Besitzer Warnungen, wie viele Kunden er verlieren könnte. Im Laufe von zwei Jahren, obwohl Kaepernick die Besitzer gerichtlich anklagte, blieb die Zahl der tapferen, die auch »ein Knie nahmen« begrenzt, und sein Name kam seltener in die Schlagzeilen.

Das änderte sich dramatisch am 2. September. Nike, weltgrößter Produzent von Sportklei­dung, gab einen neuen Vertrag mit Kaepernick bekannt. Er wurde Sponsor von deren Schuhen, Jerseys und anderer Bekleidung. Überall sah man Werbung mit seinem ernsten Gesicht, ohne seinen großen Afro, doch mit der Aufforderung: »Glaubt an etwas. Auch wenn es bedeutet, alles dafür zu opfern.«

Da war die Hölle wirklich los. Vor allem Rassisten schworen, sie würden Nike boykottieren. Einige verbrannten ihre Nike-Schuhe oder schnitten deren Logo aus den Hemden. Nikes Aktienwert sank.

Aber wie ein Wunder, stieg dann der Verkauf und die Kassen klingelten. Nike hatte klug gerechnet: ihre Hauptkunden sind weniger ältere »reinweiße« Reaktionäre als eher junge Menschen, die selbst Sport treiben, meist ganz anders denken – und nun gerade Nike kau­fen.

Also wird Kaepernick, auch wenn er nicht mehr mit dem ovalen Ball über das Spielfeld läuft, keineswegs verhungern. Die neuen Millionen kann man ihm nicht einmal verübeln.

Doch dabei spielt der Kampf der schwarzen Amerikaner und ihrer Verbündeten, ob bei den baldigen Wahlen, auf den Straßen oder Arbeitsplätzen, weiterhin eine Schlüsselrolle im Le­ben der USA!

 

Mehr von Victor Grossman in den »Mitteilungen«: 

2018-04:  Dr. Kings Leben und Tod für uns heute!

2017-08:  Vier Tischbeine der USA-Politik

2017-05:  USA und Erster Weltkrieg