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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Georgia – Martin Luther King, Biden und andere

Victor Grossman, Berlin

 

Millionen schauen auf Georgia. Nicht auf das Georgia im Kaukasus (zu deutsch »Georgien«), Geburtsland eines berühmten Regierungsführers, sondern auf den südlichen »Pfirsich-Staat« in den USA, der gerade jetzt so sehr im Mittelpunkt steht.

Tradierter Rassismus ...

Georgias Regierung stand immer rechts, war reaktionär, repressiv. Lange vor seiner Gründung brachte 1526 ein spanischer Abenteurer die ersten versklavten Afrikaner zu jener Küste – in der Hoffnung auf eine Dauersiedlung. Doch die Afrikaner und die bedrängten Indianer verbündeten sich und beendeten den Versuch binnen zweier Monate.

Nur, die Sklaverei ließ sich nicht stoppen. In Georgia, der letztgegründeten der dreizehn Kolonien, die ab 1776 die Vereinigten Staaten bildeten, fand man, dass von Afrika entführte Schwarze profitabler wären als britische und deutsche Arbeiter, die frei wurden, nachdem sie die Reisekosten abgearbeitet hatten. Als Eli Whitney 1793 – zuerst in Georgia – seine neue »Cotton Gin« genannte Maschine vorgeführt hatte, die raue Baumwolle schnell reinigte, brauchte man fortan für die Baumwoll-Ernte Tausende von schuftenden Sklaven. Damit wurde das Schicksal der Südstaaten bestimmt – sowie das rasche Wachstum der Wirtschaft der nördlichen Händler, Kreditanstalten und Schiffsunternehmer. Es schien alles für immer befestigt.

Das war ein Trugschluss! Es dauerte allerdings noch sieben Jahrzehnte des Leidens und kostete am Ende den Tod von 620.000 Soldaten im Bürgerkrieg. Als General Sherman und seine Nordtruppen durch Georgia von Atlanta bis Savannah blitzten, zerstörten sie vieles, auch die letzten Träume der Slavenbesitzer sowie das verlogen-romantische Bild des friedlichen Südens – so populär und so rassistisch wie in dem Roman und dem Film »Im Winde verweht«.

… in langen harten Kämpfen attackiert

Für einige kurze Jahre nach dem Sieg von 1865 entstand ein Bund von aufgeklärten Weißen und befreiten Schwarzen, geschützt durch die Besatzungstruppen des Nordens, der eine erstaunlich fortschrittliche Verfassung schrieb, mit Wahlrecht für schwarze Männer, ein erstes gebührenfreies Schulsystem, Hilfe für Schuldner und Kontrolle von Frauen über ihr eigenes Eigentum. Doch bald wurden die schützenden Nordtruppen abgezogen, Ku-Klux-Klan-Terror herrschte, und Schwarze wurden von jeglicher Teilnahme an der Regierung ausgeschlossen. Georgia verblieb bis zu den Bürgerrechtskämpfen der 1950er Jahre noch im rassistischen Mittelalter.

Es war nicht so, dass damals keiner kämpfte. 1933 wurde der 19-jährige schwarze Kommunist Angelo Herndon »wegen des Versuchs, einen Aufstand anzuzetteln« angeklagt; er war dabei, eine Gewerkschaft der Landarbeiter mitzuorganisieren. Ein junger schwarzer Anwalt aus Atlanta, Benjamin Davis jun., setzte sich für Herndon ein. Im offen rassistischen Prozess wurde Herndon zu 18 bis 20 Jahren Haft verurteilt, doch mit Hilfe einer breiten Solidaritätskampagne kam er 1937 frei. Diese Kampagne und Herndons Mut und klare Worte beeindruckten Davis so sehr, dass er auch Kommunist wurde, und er gewann danach dreimal die Wahl in den Stadtrat, zwar nicht in Atlanta, aber in New York, wo er den Stadtteil Harlem vertrat. Doch im Kalten Krieg wurde er illegal abgesetzt und selbst ins Gefängnis gesperrt, wie die ganze Leitung der Kommunisten, und zwar etwa wie Herndon wegen der Verbreitung von »marxistischen Umsturz-Ideen«. Auch er blieb länger als drei Jahre im Zuchthaus.

Ein anderer Prominenter aus Atlanta, geboren am 15. Januar 1929, ebenfalls mit dunkler Hautfarbe, kam auch ins Gefängnis, sogar mehrmals, wenn auch nie lange. Kein Kommunist, kein Anwalt, kein gewählter Stadtrat – er war Pfarrer. Er wurde mit dem Nobelpreis geehrt, nach langjähriger Opposition feiert man seinen Geburtstag seit 1986 als nationalen Feiertag – und 1968 wurde er ermordet.

Martin Luther King wird in Schulbüchern und Politikerreden als Gegner aller Gewalt gepriesen, als friedlicher Apostel der Harmonie, als eher milder Kritiker der noch mächtig gebliebenen südlichen Rassisten. Anfangs könnte das zutreffend erscheinen, es war dennoch äußerst irreführend. Dr. King nahm immer fester Positionen ein, die ihn gar nicht beliebt machten. Bei vielen Mächtigen nicht, allen voran beim üblen Chef des FBI, J. Edgar Hoover, der sogar versuchte, ihn zum Selbstmord zu treiben. Warum?

King organisierte eine Kampagne der armen Leute – der Schwarzen, Latinos, Indianer und Weißen –, die sich gemeinsam hinter ihre Forderungen stellen sollten:

»Menschen sollen nach Washington kommen, sich wenn nötig mitten auf die Straße setzen und sagen: Wir sind hier; wir sind arm; wir haben kein Geld; ihr habt uns in diese Lage gebracht … und wir bleiben hier, bis ihr etwas dagegen unternehmt. «

Während des Streiks der Müllabfuhrleute in Memphis sagte King: »Ihr gemahnt nicht nur Memphis, sondern die Nation daran, dass es ein Verbrechen ist, Menschen in dieser reichen Nation für Hungerlöhne arbeiten zu lassen. … Die Arbeiterbewegung hat die Stärke dieser Nation nicht vermindert, sondern vergrößert.«

In seiner Rede in der Riverside-Kirche in New York sagte Dr. King noch Gefährlicheres: »Die Notwendigkeit, um zur Sicherung unserer Investitionen den gesellschaftlichen Status quo aufrechtzuerhalten, erklärt … warum amerikanische Hubschrauber gegen Guerillas in Kolumbien eingesetzt werden und warum amerikanisches Napalm und Elitetruppen bereits gegen Rebellen in Peru eingesetzt wurden … Wenn Maschinen und Computer, Profitbestrebungen und Eigentumsrechte für wichtiger gehalten werden als die Menschen, dann wird die schreckliche Allianz von Rassenwahn, extremem Materialismus und Militarismus nicht mehr besiegt werden können. … Ungerecht ist auch die westliche Überheblichkeit, die meint, dass sie den anderen alles beibringen kann und von ihnen nichts zu lernen hat. Ein Volk, das seit Jahren mehr Geld für militärische Verteidigung als für den Ausbau sozialer Reformen ausgibt, gerät in die Nähe des geistlichen Todes. … Heute haben wir noch die Wahl: gewaltlose Koexistenz oder gemeinsame Vernichtung durch Gewalt.« (Übersetzt v. Anne Bahr und Hans-Jürgen Benedict).

Solche Sätze wurden unterschlagen oder angegriffen von jenen Medien, die King sonst so gelobt hatten – und ihn heute loben. Sie können auch erklären, warum er ein Jahr später auf dem Balkon seines Hotelzimmers erschossen wurde.

Warum schauen wir heute so sehr auf sein Georgia, wo so oft und so viel verloren wurde?

Der Bundesstaat verändert sich

Er wird nicht mehr von recht armen weißen Farmern dominiert, die gegen die eigenen Interessen stimmen, vor allem durch die Furcht gelenkt, eine Position zu verlieren, mit der sie zwar tief unten stehen, doch immer noch höher als die schwarzen Menschen, die sie schikanieren und auf die sie herabblicken können. Das sahen sie schon gefährdet durch die Wahl eines gebildeten schwarzen Präsidenten – und weiterhin durch eine angeberische Elite – vor allen im Nordosten und in Kalifornien –, durch Professoren, Schauspieler, Vertreter*innen von Gruppen, die sie hassen und fürchten; Homosexuelle, Transsexuelle, Abtreibungsbefürworterinnen – also lauter Sündige, wie ihre Prediger, Funk- und Fernsehlieblinge ständig sagen oder andeuten. Lauter Heiden und Vaterlandsverräter!

Nun aber bleiben die Schwarzen in Georgia nicht mehr ängstlich. Sie wollen sogar wählen, haben zwar noch keine Mehrheit, doch es fehlten nicht mehr viele, und nun kommen spanischsprechende Immigranten hinzu, und viele stimmen mit den Schwarzen. Rings um die schnellwachsende Hauptstadt Atlanta entsteht eine gebildete Schicht von Schwarzen, oft zurück nach ihrer Flucht in den Norden in früheren Zeiten, dazu oft liberale weiße Professionelle.

Die Rassisten, die für so lange allein herrschten, benutzen jeden Trick, um oben zu bleiben. Zwei- bis dreihunderttausend Namen wurden einfach aus den Wahllisten gestrichen, angeblich wegen Umzugs oder der Fälschung. Wahlbezirksgrenzen wurden so geschickt gezogen, dass unliebsame Wählergruppen benachteiligt werden. Wahllokale in schwarzen Wohngegenden – oder wo Studenten wählen – wurden so reduziert, dass stundenlanges Anstehen nötig wurde – und manche aufgeben. Und manches mehr.

Das wirkte in Mississippi, Florida, Texas, … Aber, oh Schreck, in Georgia hat Biden Trump geschlagen!

Nun stehen zufällig am 5. Januar in Georgia zwei amtierende Senatoren gleichzeitig zur Wiederwahl, da beide im November die nötigen 50 Prozent zum Amtserhalt nicht erreichten. Beide sind Republikaner, ein Mann und eine Frau, und beide sind äußerst reich, äußerst korrupt und äußerst reaktionär! Davon gibt es im Senat viele, doch hier geht es um Extremfälle! Und durch einen nochmaligen Zufall hängt gerade hier davon außerordentlich viel ab. Wenn auch nur diese Dame oder dieser Herr die knappe Wahl gewinnt, behalten die Republikaner mit 51:49 Sitzen die Kontrolle im Senat. Biden hätte es dann doppelt schwer! Falls es aber allen beiden Kandidaten der Demokraten gelingt, am 5. Januar zu gewinnen, dann wird er genau halbiert; 50 Republikaner gegen 50 Demokraten. Bei Halbe-halbe-Abstimmungen im Senat darf der Vizepräsident bestimmen, und das wird nun die Demokratin Kamala Harris. Also bekäme Biden verbesserte Chancen, sein Programm durchzusetzen.

Eine neue aktive Bewegung

Daher werden von beiden Parteien Millionen an Spenden nach Georgia geschickt, um diese Wahlen zu gewinnen. Fortschrittliche versuchen, per Telefon und in Gesprächen von Tür zu Tür (mit Maske und Distanz) Menschen zur Wahl zu bewegen, die ansonsten an einer Nachwahl wenig Interesse haben.

Die zwei Kandidaten der Demokraten sind keine linken á la Bernie Sanders. Einer ist ein schwarzer Pfarrer, der in Martin Luther Kings alter Kirche predigt, ein »Moderater«. Der andere Demokrat neigt nach rechts. Doch – so meinen die meisten Linken – hier gilt es vor allem, den »Alt-Südstaatler-Rassismus« ausgerechnet in Georgia zu schlagen, und den Republikanern die Senatsmehrheit nicht zu überlassen. Ein Ereignis voller Spannung!

Was ist aber Bidens Programm? Nach seinem Résumé zu urteilen ist es kein fortschrittliches, sondern fast wie Obamas. Nun waren es aber vor allem die linken Kräfte in der Partei, wie die kämpferische Alexandria Ocasio-Cortez (AOC) und viele Freunde von Bernie Sanders, die Bidens Sieg durch harte Überzeugungsarbeit in den Großstädten ermöglichten. Wird das mit Einfluss belohnt? Wohl recht wenig: die Führung der Demokratischen Partei ist wie Biden selbst eng mit der Hochfinanz und vielen superreichen Lobbys liiert. Wird sich die kriminelle Politik gegenüber Kuba, Iran, Venezuela zum Besseren verändern? Wie wird es mit der Umwelt sein? Und mit Gewerkschaftsrechten – und den Gefängnissen, die mit zwei Millionen ausgebeuteter Häftlinge überfüllt sind? Und mit Flüchtlingsfamilien an den Grenzen?

Harte Kämpfe stehen bevor! Man kann hoffen, dass eine solche Energie, wie sie linke (besonders schwarze) Aktivistinnen in Georgia gerade aufbringen, auch in den nächsten Jahren zunehmend wirkt. Nur sie kann solche Demokraten wie Republikaner stoppen, die das Land in Richtung Krieg mit Russland oder China treiben und ansonsten den Status quo in den Machtfragen erhalten wollen. Eine dramatische neue Bewegung in den USA tut mehr not denn je. Wird sie erstarken?

21. Dezember 2020

 

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