Der Kampf gegen das Vergessen: Vor 80 Jahren wurde Gladys Marín geboren
Gudrun Mertschenk, Berlin
Fast 50 Jahre begleitet mich (der Name) Gladys Marín. »Live und in Farbe« begegnete ich ihr das erste Mal 1973 während der X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Berlin. Gladys war die Leiterin der Delegation des chilenischen kommunistischen Jugendverbandes (JJCC). Überall, wo die hellblauen Blousons der chilenischen Teilnehmer auftauchten, schlug ihnen eine Welle der Sympathie entgegen. Sie wurden als Repräsentanten der Unidad Popular empfunden, die mit ihrem demokratisch gewählten Präsidenten, Dr. Salvador Allende, an der Spitze einen neuen Weg der Volksherrschaft in Chile gehen wollten. Rund 6 Wochen nach dem Festival putschten die chilenischen Generäle unter Regie und mit tatkräftiger Hilfe der CIA. Das Leben von Tausenden, nein, von Millionen Chilenen änderte sich grundlegend.
Gladys del Carmen Marín Millie wurde nach eigenen Angaben am 16. Juli 1941 in Curepto, rund 300 km südlich von Santiago de Chile, geboren. Bald danach verzog die Familie nach Talagante, nahe Santiagos, wo Gladys die Grundschule besuchte und sich der christlichen Jugendbewegung näherte, bis sie Mitglied in der Katholischen Arbeiterjugend (JOC) wurde. Das war dann schon in Santiago, wohin sie im Alter von 11 Jahren zusammen mit ihrer älteren Schwester gegangen war, um dort die Mittelschule zu besuchen und dann direkt auf das Lehrerbildungsinstitut zu wechseln, so dass sie bereits mit 16 Jahren ihre Ausbildung zur Grundschullehrerin mit der Spezialisierung Förderschule abschloss.
Santiago öffnete ihr eine neue Welt. Die jüngste Geschichte des Landes, die Kämpfe der Arbeiterklasse – all das spielte in der Schule oder am Lehrerbildungsinstitut keine Rolle. Das Zusammentreffen und die Gespräche mit Schülern anderer Schulen bzw. mit Studenten erweiterten ihren Horizont. In diesen Gesprächsrunden wurden nicht nur die Schulprobleme, sondern auch die allgemeinen Probleme der Jugend, der Arbeiter und der Bevölkerung diskutiert. Gladys kannte Geldsorgen und Hunger aus eigenem Erleben. An der Abschlussfeier des Lehrerbildungsinstituts nahm sie nicht teil, weil ihr für Kleid und Feier das Geld fehlte. Die ersten Schülerstreiks dieser Zeit richteten sich gegen die Fahrpreiserhöhungen speziell für Schüler – ein ähnlicher Anlass wie der, der die bis heute andauernden Unruhen im Oktober 2019 auslöste.
Für Bildung, Kultur und Zusammenhalt der progressiven Jugend
All diese Erlebnisse und Erfahrungen führten dazu, dass sich Gladys mehr und mehr zum Kommunistischen Jugendverband (JJCC) hingezogen fühlte und 1958 offiziell Mitglied wurde.
Das Ende der 50er Jahre brachte große Veränderungen im politischen Leben: Die KP Chiles verließ nach mehr als 10 Jahren die Illegalität. In Kuba zogen die Rebellen unter Fidel Castro siegreich in Havanna ein. Der Jugendverband unterstützte den damaligen Wahlkampf Allendes, und Gladys nahm aktiv daran teil.
In dieser Zeit lernte sie Jorge Muñoz Poutays kennen, den sie 1960 heiratete. Die junge Familie wurde bald durch die Söhne Rodrigo und Álvaro komplettiert.
1962 hatte der Jugendverband 400 Mitglieder, 1973 waren es 80.000! Ein gehöriger Anteil am Erstarken war zweifellos dieser jungen Generalsekretärin zuzuschreiben. Seit 1965 im Amt, war die zweite Hälfte der 60er Jahre geprägt von der Suche nach neuen politischen Wegen unter Einbeziehung der Jugend. Der Jugendverband, dessen Mitglieder Studenten, Schüler, junge Arbeiter in den größeren Fabriken, Landarbeiter, aber auch Bewohner der immer größer werdenden Armenviertel waren, gründete einen Buchverlag und das eigene Plattenlabel DICAP, wodurch Victor Jara, die Geschwister Parra, Inti Illimani und Quilapayún mit ihren aktuellen politischen Liedern weit über die Ländergrenzen hinweg bekannt wurden. Kultur und Bildung wurden so Teil des politischen Prozesses.
Putsch, Folter, Mord, Verschwindenlassen, Isolation, Infiltration
1965, 1969 und auch 1973 wurde Gladys ins Parlament gewählt. Während sie in den ersten beiden Legislaturperioden Mitglied der Kommission für öffentliche Bildung war, sollte es zur Erfüllung ihres dritten Mandates nicht mehr kommen.
Gladys kehrte am 9. September 1973 von ihrer Solidaritätsreise zurück, die sie nach den Weltfestspielen angetreten und sie unter anderem bis nach Vietnam geführt hatte.
Am 11. September putschten die Generale, der Kongress wurde aufgelöst und die Legislaturperiode für beendet erklärt. Die Putschisten starteten eine Menschenjagd auf der Grundlage einer schwarzen Liste, auf der Gladys weit oben stand.
In ihrem 2002 erschienenen Buch »La vida es hoy« (»Das Leben ist heute«) schildert sie, wie sie den 11. September 1973 erlebte. Die alarmierenden Nachrichten am Morgen veranlassten sie, ihre beiden Söhne sofort aus der Schule abzuholen und zu den Großeltern väterlicherseits in Sicherheit zu bringen. Ein Wiedersehen gab es erst im Januar 1987 im argentinischen Bariloche.
Sie verabschiedete sich von ihrem Mann Jorge, den sie nicht mehr wiedersehen sollte.
Noch am selben Tag ging Gladys in den Untergrund. Das hieß wechselnde Unterkünfte, ständige Gefahr, Verkleidungen, Unbekannte, denen sie bedingungslos vertrauen musste und konnte, aber auch Hunger, da die Quartiergeber oft selbst nur wenig zu essen hatten. Mehrere Male entkam sie nur knapp den Häschern.
Im November 1973 beugte sich Gladys dem Wunsch der Partei und flüchtete in die Botschaft der Niederlande. In der Botschaft fühlte sie sich isoliert und machtlos. Die Nachrichten über Durchsuchungen, Verhaftungen, Folterungen und Todesopfer erreichten auch die Schutzsuchenden in der diplomatischen Vertretung. Auf Umwegen erhielt sie Briefe ihres Mannes und ihrer Kinder.
Schon zu Weihnachten hatten die Geflüchteten in der Botschaft ihrem Alltagsleben Struktur gegeben. Gymnastik, stundenlange »Märsche« in den Innenräumen, Kurse für Marxismus und Sprachlehrgänge wurden abgehalten. Im Juli 1974 konnte sie endlich ausreisen. Über die Stationen Niederlande und die DDR erreichte sie Moskau, das ihr für zweieinhalb Jahre zur Heimat wurde.
Noch in der Botschaft hatte Gladys verkündet, dass sie in jedem Fall nach Chile zurückkehren würde. In der Zeit ihres Exils machte sie unzählige Reisen, auf der sie die Gräueltaten der Junta anprangerte, Freiheit für die politischen Gefangenen und die Aufklärung der Schicksale der verschwundenen Gefangenen forderte. Im Februar 1975 trat sie als Zeugin bei der III. Tagung der Internationalen Kommission zur Erforschung der Verbrechen der chilenischen Militärjunta auf, vor der UNO-Vollversammlung prangerte sie die Verbrechen der Junta an.
Als ich Gladys im Januar 1977 das zweite Mal begegnete, besuchte sie gemeinsam mit Luis Corvalán nach dessen Freilassung die DDR. Ob im Friedrichstadtpalast, in Schulen oder Betrieben – überall wurden sie voller Achtung und mit Herzlichkeit empfangen.
Im Jahr 1976 hatten der Jugendverband und die Partei große Verluste erlitten. Ende März wurde der stellvertretende Generalsekretär des Jugendverbandes, José Weibel, verhaftet, gefoltert und ermordet. Seine sterblichen Reste wurden bis heute nicht gefunden. Als es dem chilenischen Geheimdienst im Mai gelang, die Inlandsleitung der KP festzunehmen, war darunter auch der Ehemann von Gladys. Gewiss ist, dass alle in das Folterzentrum Villa Grimaldi gebracht wurden. Ebenso wurde bekannt, dass die bereits gefolterten Gefangenen in die Kaserne Simón Bolívar 8630 gebracht und dort der Brigade Lautaro des Geheimdienstes DINA übergeben wurden, wo sie weiter gequält und dann ermordet wurden. Ihre sterblichen Überreste wurden bis heute nicht gefunden.
Nach der Zerschlagung der zweiten illegalen Parteileitung im Dezember 1976 hatten sich international unbekannte Genossen gefunden, die die stark dezimierten Kräfte bündelten. Ein großes Problem stellte die praktische Mittellosigkeit der Partei dar. Ohne finanzielle Ressourcen wurde das »Überleben« noch schwieriger.
Die »Operation Condor« der Geheimdienste bedeutete nicht nur einen Todesfeldzug in Chile und mehreren Ländern Lateinamerikas, sondern auch die Infiltration der Exilchilenen. Genossen, für den Aufbau der Rückkehrstrukturen in Buenos Aires verantwortlich, wurden verraten und fielen oben genannter Operation zum Opfer. Trotz der Gefährlichkeit setzte sich Gladys gegenüber der Auslandsführung der Partei durch und lebte und arbeitete ab Februar 1978 illegal in Chile.
Die Jahre 1985 bis 1987 waren geprägt von Fortschritten und Rückschlägen. Mehr und mehr kehrten bekannte und hochrangige Politiker linker Parteien zurück. Andererseits kam es am 30. März 1985 zum bestialischen Mord an drei Kommunisten, die mit durchgeschnittenen Kehlen aufgefunden wurden.
Die Militärjunta hatte unmittelbar nach dem Putsch indigene Instrumente, bestimmtes Liedgut sowie Bücher und Bilder verboten bzw. vernichtet. Gladys sah deshalb die Kultur als wichtigen Faktor in der Parteiarbeit an.
Täter blieben anonym
Im Oktober 1988 kam es zum Referendum über eine weitere Amtszeit von Pinochet. Das chilenische Volk stimmte mit knapp 56 Prozent gegen eine weitere Amtszeit des Diktators. Die politischen Parteien aller Lager suchten in Verhandlungen den Weg des Übergangs aus der Diktatur in die Demokratie. Die Kommunistische Partei wurde dabei von Anfang an ausgeschlossen. Offiziell war sie noch immer verboten.
Zur ersten offiziellen öffentlichen Veranstaltung der KP seit September 1973 kam es am 13. Januar 1990. Vor 40.000 Menschen sprach Gladys und forderte die Bestrafung der Putschisten.
Mit der Amtsübernahme der Regierung Aylwin im März 1990 trat die von Pinochet erarbeitete und bis heute gültige Verfassung in Kraft. Pinochet war als Senator auf Lebenszeit und Oberbefehlshaber der Streitkräfte weiterhin präsent.
Auf dem XX. Parteitag 1994 wurde Gladys zur Generalsekretärin ihrer Partei gewählt. Weltweit war sie damit die erste Frau, die so eine hohe Funktion ausübte.
Im April 1995 kam es zur 3. Begegnung mit Gladys, als wir im Sitz der Partei auf einen Bekannten warteten, während sich die Mitglieder des Politbüros zu einer Beratung versammelten. So konnten wir Gladys Marín und Luis Corvalán begrüßen, die sich ihrerseits freuten, Genossen aus der DDR zu treffen.
Am 11. September 1996 fand vor dem Ehrenmal der Toten und Verschwundenen auf dem Hauptfriedhof in Santiago eine Gedenkveranstaltung statt, die von der Polizei brutal zusammengeprügelt wurde. Auf dieser Kundgebung hielt Gladys eine Rede, in der sie Pinochet, der noch immer Chef der Streitkräfte war, hart angriff und seine Bestrafung forderte. Umgehend erhoben die Streitkräfte, im Namen Pinochets, Klage gegen Gladys. Im Oktober 1996 fanden Parlamentswahlen statt, bei denen Gladys als Senatorin kandidierte. Eine Kandidatin für den Senat wollte man nicht verhaften, aber einen Tag nach den Wahlen erfolgten Festnahme und Untersuchungshaft. Eine Welle der Solidarität erhob sich, so dass Gladys nach wenigen Tagen freigelassen und die Klage zurückgezogen wurde.
Am 12. Januar 1998 reichte Gladys ihrerseits die erste offizielle Klage gegen Pinochet ein: Wegen des Verschwindenlassens ihres Ehemannes Jorge Muñoz.
Die 1991 von der Regierung Aylwin eingesetzte Rettig-Kommission erkannte offiziell 2.950 namentlich genannte ermordete und verschwundene Opfer an. Die Namen der Täter blieben anonym und sollen es nach dem Willen der Kommission die nächsten 50 Jahre bleiben. Die »Nationale Kommission für politische Haft und Folter« von 2003 konstatierte 28.000 Fälle von Folter, 1.132 Orte von Gefangenenhaltung und Folter wurden benannt. Auch hier wurden die Namen der Opfer veröffentlicht, die der Täter aber sollen nach dem Willen der Regierung Lagos im Archiv verschwinden. Wenn Gladys im Jahr 1999 nicht nur Präsidentschaftskandidatin gewesen, sondern auch gewählt worden wäre, hätte die Aufarbeitung sicherlich eine andere Qualität erfahren.
Auf dem XXII. Parteitag 2002 wurde Gladys dann zur ersten Vorsitzenden der KP gewählt.
Kilometerlanger Trauerzug
Im September 2003 nahm Gladys noch an unzähligen Gedenkveranstaltungen anlässlich des 30. Jahrestages des Putsches teil und sprach unter anderem auf dem Platz der Verfassung an der Moneda zu Ehren Allendes.
Ende September wurde ein bösartiger Hirntumor diagnostiziert und ihr noch eine maximale Lebenszeit von zwei Jahren prognostiziert. Nach einer Operation in Stockholm empfahlen die schwedischen Ärzte Kuba als Ort der Nachbehandlung. Dort stellte sie zur Buchmesse im Februar 2004 ihre Autobiographie vor, und am 27. März trat sie das erste Mal nach ihrer Erkrankung wieder öffentlich in Chile auf. Sie pendelte zwischen Kuba, wo sie ein zweites Mal operiert wurde, und Chile hin und her. Das Jahr 2004 war nicht nur das Jahr des Kampfs gegen die tödliche Krankheit, sondern auch das Jahr zahlreicher Würdigungen durch verschiedene Parteien und Organisationen.
Am 6. März 2005 starb Gladys. Hunderttausende nahmen Abschied von der im ehemaligen Kongressgebäude in Santiago aufgebahrten Toten. Ehrenwache hielten Regierungsmitglieder und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Zwei Tage Staatstrauer wurden angeordnet und die Flaggen auf Halbmast gesetzt.
Am 8. März 2005 führte ein kilometerlanger Trauerzug von ca. einer Million Menschen zum Friedhof.
Postum begegneten wir Gladys noch einmal am 22. März 2015. Eine Gedenkveranstaltung aus Anlass ihres 10. Todestages, organisiert von Partei und Jugendverband, fand im Theater Caupolicán in Santiago statt. Filmsequenzen, Musik und Reden fanden lebhafte Resonanz unter den zahlreichen Teilnehmern aller Altersklassen. Höhepunkt war die Aufnahme 100 neuer GenossInnen, die ihren Mitgliedsausweis überreicht bekamen. Eine Veranstaltung ganz im Sinne Gladys Maríns!
Gudrun Mertschenk, Jahrgang 1954, Abitur 1973 in Wittenberg, schloss ihr Geschichtsstudium an der Humboldt-Universität Berlin mit einer Diplomarbeit zur Chilenischen Einheitsgewerkschaft CUT ab und war bis 1990 Büroleiterin bei der Internationalen Vereinigung der Lehrergewerkschaften beim Weltgewerkschaftsbund.
Mehr von Gudrun Mertschenk in den »Mitteilungen«:
2016-09: Luis Corvalán zum 100. Geburtstag
2011-08: Offener Brief an das Museum des Gedenkens und der Menschenrechte, Matucana 501, Santiago de Chile
2010-10: Chile – ein immerwährendes Fanal
2007-07: Bürgerradios in Venezuela