Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Luis Corvalán zum 100. Geburtstag

Gudrun Mertschenk, Berlin

 

Der Name Corvalán wird bei vielen von uns Bilder hervorrufen: Corvalán zusammen mit Allende und Neruda auf einer Wahlveranstaltung für die Unidad Popular, Corvalán auf der KZ-Insel Dawson oder 1977 beim Besuch der DDR nach seiner Freilassung im Dezember 1976. Wie aber verlief der Lebensweg dieses kampferfahrenen und kampferprobten Kommunisten?

Am 14. September 1916 wurde er als Luis Nicolás Corvalán Lépez in Pelluco bei Puerto Montt im Süden Chiles geboren.

Als Luis 5 Jahre alt war, verließ der Vater, der als Schulinspektor arbeitete, die Familie. Seine Mutter Adela Lépez Roa, in seiner Geburtsurkunde nicht einmal namentlich erwähnt, musste nun allein für die 5 Kinder sorgen. Fortan arbeitete sie, die Zeit ihres Lebens Analphabetin war, als Näherin in Heimarbeit. Im Morgengrauen brachte sie die angefertigten Tischdecken, Ponchos und die Bettwäsche ins Werk, um das Material für den neuen Arbeitstag nach Hause zu schleppen.

Die Kinder waren frühzeitig gezwungen nicht nur zu helfen, sondern zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Zeitweise war auch für Luis kein Schulbesuch möglich, da er in einer Bäckerei arbeiten musste, um so wenigstens das Brot für die Familie heimzubringen.

Die Winter in Südchile sind feuchtkalt und ungemütlich. Oft fehlte das Geld für Kohle und Holz zum Heizen und Kochen. Elektrizität gab es in der kleinen Wohnung nicht, Holzpantoffeln ersetzten richtige Schuhe, und Hunger war kein Fremdwort.

In seinen Lebenserinnerungen [1] schreibt Corvalán, dass in seiner Familie nie Namenstage, Weihnachten, Neujahr oder andere Feste gefeiert wurden, Geschenke kannten die Kinder nicht.

Ein politisches Leben beginnt

Ab März 1931 beginnt er nicht nur seine Grundschullehrerausbildung an der Escuela Normal in Chillán, sondern sammelt auch erste Erfahrungen im politischen Kampf.

Der Sturz der Diktatur Ibáñez im Juli 1931 und die Teilnahme an Streikaktionen fallen in das erste Jahr seiner Lehrerausbildung. Im Februar 1932 tritt er in seiner Heimatstadt Tomé in die Kommunistische Partei Chiles ein, die zu diesem Zeitpunkt 10 Jahre existiert. Seine erste politische Funktion übernimmt er in der Unión de Estudiantes Normalistas – dem Lehrerstudentenverein – in Chillán (UNECH) als Schriftführer.

Im Dezember 1934 beendet er sein Studium als Grundschullehrer für öffentliche Schulen und zieht nach Concepción. In dieser Zeit beginnt die KP Chiles Betriebszellen aufzubauen, um bei Streiks in den Betrieben vor Ort zu sein. Luis betätigt sich im Jugendverband und in der Gewerkschaft, immer auch schon journalistisch.

Seine Ernennung zum Lehrer wurde für die Schule Nr. 1 in Iquique (Nordchile) ausgestellt. In dieser Schule hatte es im Dezember 1907 ein Massaker an Salpeterbergarbeitern und deren Familien gegeben, nachdem sich mehr als 35.000 Bergarbeiter zur Protestversammlung in Iquique eingefunden hatten, um gegen die unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen zu kämpfen.

Die »Kantate Santa Maria de Iquique« von Luis Advis, Hector Duvauchelle und der Gruppe Quilapayún berichtet eindrucksvoll von diesen Ereignissen.

Als Luis Corvalán 1935 an dieser Schule seine berufliche Laufbahn beginnt, ist die Blütezeit des Salpeterbergbaus vorbei, aber die Unterdrückung und die schlechten Lebensbedingungen sind geblieben.

Parallel zu seiner Lehrerarbeit betätigt er sich auch hier in der KP und arbeitet als Generalsekretär der dortigen Sektion des Lehrerverbandes. Seine politischen Aktivitäten führten dazu, dass er nach einjähriger Tätigkeit entlassen wird und nach Concepción zurückkehrt.

Seit dieser Zeit übernimmt er immer verantwortungsvollere Funktionen. Er war Sekretär des damaligen Generalsekretärs der KP Chiles und späteren Botschafters der Unidad Popular in der DDR, Carlos Contreras Labarca, und langjähriger Chefredakteur von »El Siglo« (Das Jahrhundert), der Zeitung der KPCh.

Immer wieder musste er in dieser Zeit »untertauchen«, wenn die Polizei nach Aktivisten suchte.

1946 heiratete Luis Corvalán Lily Castillo, mit der er einen Sohn und drei Töchter haben sollte.

1947 wurde die KP Chiles verboten. »La ley maldita« – das verfluchte Gesetz – wie es im Volksmund genannt wurde, hieß offiziell »Gesetz zum Schutz der Demokratie«. Corvalán lebte (unter dem Namen Correa) im Untergrund, verdiente mehr schlecht als recht etwas Geld für den Familienunterhalt, wurde 1950 ins ZK seiner Partei gewählt und im selben Jahr verhaftet. Folter und Gefängnis folgten, dann die Verbannung in den Süden für etwa drei Monate.

Noch in der Illegalität editierte die KP unter der Ägide Corvaláns den »Großen Gesang« von Pablo Neruda. 20 Jahre später vertonte Mikis Theodorakis Teile dieser großen Dichtung.

Bei den Präsidentschaftswahlen 1952 trat Salvador Allende das erste Mal als Kandidat eines Parteienbündnisses an. Zu dieser ersten »Volksfront« (Frente Popular) gehörten die KP Chiles, die Sozialistische Partei, die Demokratische Partei und die Partei der Arbeit. Im Februar 1953 wurde mit der Gründung der Central Única de Trabajadores (CUT) – »Einheitszentrale der Werktätigen« – die Zersplitterung der Gewerkschaften weitgehend beseitigt, und die Partei konnte einige Jahre halblegal auftreten. Während dieser Zeit reiste Corvalán 1955 das erste Mal in die Sowjetunion. Da das chilenische Innenministerium offiziell verfügt hatte, KP-Mitgliedern keine Pässe auszustellen, musste der Grenzübertritt und der Anfang der Reise illegal erfolgen; ebenso war die Rückreise ein Abenteuer.

1956 wurden führende Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre erneut inhaftiert und ins KZ Pisagua verbracht. Im Falle Corvaláns sorgte der Journalistenverband, dessen Mitglied er war, für seine baldige Freilassung.

Generalsekretär und Senator

Das Jahr 1958 wurde zu einem wichtigen Jahr in seinem Leben: Luis Corvalán wird zum Generalsekretär seiner Partei gewählt. In dieser Zeit gelang es, die Legalität der KP wieder herzustellen.

Die Präsidentschaftswahlen 1958 gewinnt Jorge Alessandri von der Konservativen Partei. Das Wahljahr war von massiven Streikaktionen, besonders der Bergleute und der Werftarbeiter, begleitet. Polizei und Armee gingen brutal gegen Streikende und Demonstrierende vor. Tote und Verletzte waren die Folge. Da die KPCh im Laufe der Jahre viele Leitungspositionen in der CUT erobert hatte, waren besonders ihre Mitglieder von der Repression betroffen und wurden eingekerkert oder in die Verbannung geschickt.

1961 hatte der damalige US-Präsident J. F. Kennedy unter dem Titel »Allianz für den Fortschritt« ein »Hilfsprogramm« für Lateinamerika verkündet. Das war als unmittelbare Reaktion der US-Regierung auf den Sieg der kubanischen Revolution zu verstehen, da dieser Sieg bei den fortschrittlichen Kräften Lateinamerikas die Hoffnung auf die eigene Befreiung geweckt hatte. So siegte bei der Präsidentschaftswahl 1964 wieder ein bürgerlicher Kandidat, dieses Mal der Christdemokrat Eduardo Frei.

Mehr denn je arbeitete die KP Chiles mit ihrem Generalsekretär daran, die linken Kräfte zu einen, um ein breites Bündnis zu schaffen. Auch der Kommunistische Jugendverband unterstützte dieses Bestreben mit eigenen Aktionen. So rief dieser zu einem Marsch von Valparaíso nach Santiago auf, um gegen den Vietnamkrieg der USA zu protestieren. Corvalán beteiligte sich auch an solchen Aktionen, um so mit vielen Menschen ins Gespräch zu kommen und die Ziele der KPCh bekannter zu machen.

1969 gelang mit der Gründung der Unidad Popular (UP) (Volkseinheit) ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Schaffung eines breiten Bündnisses. Anfänglich hatte jede der Parteien der UP ihren eigenen Kandidaten. Pablo Neruda kandidierte für die KP. Aber bereits bei der Proklamation der Kandidatur Nerudas am 30. September 1969 sagte Corvalán: »... aber wir sagen nicht: Pablo Neruda oder kein anderer. Wir sagen nicht: Unser Kandidat oder kein anderer. Wir sagen nicht: Unser Kandidat oder es gibt keine Einheit. Wir erlauben uns, alle anderen Parteien der Linken und alle anderen Kandidaten einzuladen, uns alle für das gleiche Ziel einzusetzen.« [2]

Nach vielen Gesprächen mit den verschiedenen in der UP mitwirkenden Parteien war es Corvalán, der am 22. Januar 1970 auf der Plaza Bulnes an der Moneda, dem Präsidentenpalast Chiles, Dr. Salvador Allende von der Sozialistischen Partei als gemeinsamen Kandidaten der Parteien der UP vorstellte.

Am 4. September 1970 gewann Allende die Wahlen. Auch die Kommunistische Partei stellte in den wechselnden Kabinetten Minister, so den Finanzminister durch Américo Zorilla, Orlando Millas bzw. José Cademártori, oder mit dem Gewerkschafter und Präsidenten der CUT Luis Figueroa den Arbeitsminister.

Corvalán war bereits 1961 zum Senator gewählt worden und wurde 1969 wiedergewählt. Offiziell wird er in den Annalen des Chilenischen Kongresses bis zum Jahr 1977 als Senator geführt, nämlich bis zum Ende der damaligen Legislaturperiode. Zu diesem Zeitpunkt hatte Corvalán jedoch erneut mehr als 4 Jahre Haft, Folter, Verbannung und Exil hinter sich.

Putsch und Exil

Am 11. September 1973 putschten die reaktionären Teile der chilenischen Armee im Auftrag der chilenischen Bourgeoisie mit maßgeblicher Unterstützung der CIA und offizieller Regierungsstellen der USA gegen die demokratisch gewählte Regierung Allende.

Dieser faschistische Putsch sollte nicht nur das »Experiment« eines demokratischen Übergangs zum Sozialismus beenden, sondern als Beispiel für die Durchsetzung neoliberaler Politik um jeden Preis dienen.

Luis Corvalán wurde am 27. September verhaftet und zuerst in die Militärschule Bernardo O'Higgens in Santiago, dann nach San Bernardo in die dortige verbracht. Es folgten die Deportationen auf die KZ-Insel Dawson in Patagonien sowie in die Konzentrationslager Ritoque und Tres Álamos.

Sein Sohn Luis Alberto war bereits am 14. September 1973 ins Nationalstadion verschleppt und gefoltert worden. Vater und Sohn sollten sich nie wieder sehen. Die Situation in den Stadien, die von der Junta landesweit in Folterstätten verwandelt wurden, schildert der Liedermacher, Theaterregisseur und Kommunist Victor Jara in seinem letzten Gedicht »Stadion Chile«. Während Victor Jara nach schweren Misshandlungen im Stadion erschossen wurde, verbrachte man Luis Alberto in das KZ Chacabuco in der Salpeterwüste im Norden Chiles, aus dem er am 30. Juli 1974 entlassen wurde. Zusammen mit seiner Frau Ruth, die ebenfalls eingekerkert war, und seinem kleinen Sohn Diego emigrierte er über Mexico nach Bulgarien. Dort erlag er am 26. Oktober 1975 28-jährig den Folgen der Folterungen durch Elektroschocks. Luis Corvalán befand sich zu diesem Zeitpunkt in Tres Álamos.

Anfang 1976 verließen die beiden jüngsten Töchter Corvaláns Chile. Im Dezember desselben Jahres erfolgte die Freilassung Corvaláns. Eine breite internationale Solidaritätsbewegung hatte nicht zuletzt dazu geführt, dass Corvalán Asyl in der Sowjetunion bekam und im Gegenzug der sowjetische Dissident Bukowski in die USA ausreisen konnte.

Die KP Chiles verlor im Laufe der 17-jährigen Diktatur viele ihrer Mitglieder und Leitungskader durch Verhaftung, Folter, Tod und »Verschwindenlassen«. Trotzdem gab es immer eine Inlands- und eine Auslandsleitung. Zahlreiche illegale Tagungen fanden im In- und Ausland statt.

Am 20. August 1983 reiste Corvalán illegal nach Chile ein. Vorausgegangen waren chirurgische Veränderungen seines Gesichtes, er ließ sich einen Vollbart stehen und kleidete sich nicht nach der gewohnten Art. Gladys Marín, Generalsekretärin des Kommunistischen Jugendverbandes Chile, hielt sich bereits ab 1978 immer wieder zeitweise illegal in Chile auf. Auch weitere Mitglieder der KP versuchten entweder offiziell einzureisen und wurden abgewiesen oder reisten illegal ein, um im Land tätig zu sein. Das war nicht ungefährlich. Zur Erinnerung: Noch im März 1985 wurden die drei Mitglieder der KPCh Manuel Guerrero, José Manuel Parada und Santiago Nattino am hellichten Tag vor Zeugen verschleppt, gefoltert und ermordet.

In seinen Lebenserinnerungen zieht Corvalán Bilanz. Auch strittige Punkte klammert er dabei nicht aus. So gab es in der Partei unterschiedliche Auffassungen zum bewaffneten Kampf. Mit der Gründung der »Frente Patriótico Manuel Rodríguez« kam es zu Anschlägen zum Beispiel auf Strommasten und zum Attentat auf Pinochet im Jahr 1986.

Als es im Jahr 1988 zum Plebiszit über die Amtsverlängerung für Pinochet kam, rief die KP anfangs zum Boykott auf. Die KP befürchtete einen Trick der Regierung, durch die Wahlregistrierung noch in der Illegalität lebende Pinochetgegner aufzuspüren. Es war auch schwer vorstellbar, dass die Registrierung der mehr als 8 Mio. Wähler in weniger als zwei Jahren möglich sein sollte. Dazu war es unter anderem nötig, sich einen neuen plastifizierten Personalausweis ausstellen zu lassen. Kosten und Aufwand waren hoch. Es existierte keine unabhängige Wahlbehörde, linke Parteien waren per Gesetz verboten. Es lag der Verdacht nahe, dass Pinochet das Plebiszit zu einem großen Wahlbetrug nutzen wollte, tatsächlich aber verlor er. Offenbar war der Wille, sich der Diktatur zu entledigen, größer als alle Ängste und Hindernisse. Ein Jahr später folgten Wahlen, aus denen der Christdemokrat Patricio Alwyn als Sieger hervorging.

Abschied von Don Lucho

Im Mai 1989 fand, noch in der Illegalität, der 15. Parteitag der KP Chiles statt, auf dem Volodia Teitelboim zum neuen Generalsekretär gewählt wurde. 1994 folgte Gladys Marín, nach ihrem Tod 2005 wurden Lautaro Carmona Generalsekretär und Guillermo Teillier zum Vorsitzenden gewählt.

Luis Corvalán blieb bis zu seinem Tod am 21. Juli 2010 Mitglied des Zentralkomitees seiner Partei. In seinen letzten Lebensjahren trat er öffentlich nicht mehr so in Erscheinung, sondern widmete sich vorrangig dem Schreiben. So veröffentlichte er zahlreiche Bücher, z. B. »Der Zusammenbruch der Sowjetmacht« 1995, »Gespräche mit Margot Honecker über das andere Deutschland« 2001, zusammen mit Klaus Huhn als Herausgeber »Der andere 11. September. Der Mord an Allende und Tausenden Chilenen vor 30 Jahren« 2003, »Die Kommunisten und die Demokratie« 2008.

Bei unserem ersten Chile-Besuch 1995 hatten wir, mein Mann und ich, das Glück und die Freude, Don Lucho – wie er von allen liebe- und respektvoll genannt wurde – in Santiago im Haus der KP Chiles zufällig zu begegnen, und sprachen ihn an. Ihm war die große Freude anzumerken, Freunde aus der DDR zu treffen. Die Erinnerung an die solidarische Unterstützung, die das chilenische Volk aus der DDR erfuhr, hatte einen festen Platz in seinem Herzen. 2015 standen wir dann auf dem Zentralfriedhof in Santiago an seinem schlichten Familiengrab. Wir behalten ihn in Erinnerung als einen bescheidenen Menschen, der er offenbar auch im Tod geblieben ist.

 

Anmerkungen:

[1]  »De lo vivido y lo peleado – Memorias«/Luis Corvalán, Verlag LOM, August 1997, Santiago de Chile.

[2]  Ebenda, S. 116.

 

Mehr von Gudrun Mertschenk in den »Mitteilungen«: 

2011-08: Offener Brief an das Museum des Gedenkens und der Menschenrechte, Matucana 501, Santiago de Chile

2010-10: Chile – ein immerwährendes Fanal

2007-07: Bürgerradios in Venezuela