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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Bürgerradios in Venezuela

Gerhard und Gudrun Mertschenk, Berlin

 

In Caracas bemerkte ich erstaunliche Veränderungen im Vergleich zu meinem Aufenthalt als Wahlbeobachter im Dezember 2006. Ins Auge sticht unter anderem die neue Sauberkeit in den Straßen. An vielen Stellen stehen Müllcontainer zur sofortigen Abfallentsorgung. Und abends, wenn die ambulanten Händler ihre Stände abbauen, gehen sogleich Reinigungskräfte der Stadt ans Werk, um die Straßen zu säubern. Bürgerradios luden uns zu Gesprächen ein, die live in den Äther gingen. Unter anderem fragte man uns, warum wir die Bolivarische Verfassung Venezuelas ins Deutsche übersetzt hätten. Bei meiner Antwort, daß wir das hauptsächlich wegen der partizipativen Elemente getan hätten und weil Deutschland keine Verfassung habe, sondern nur ein Grundgesetz als provisorische Verfassung, das kein Recht auf eine Volksabstimmung vorsehe, war das Erstaunen groß. Man hatte eine andere Vorstellung von der Demokratie in Deutschland. Während der Sendung stellten Zuhörer uns per Telefon Fragen zu beliebigen Themen – so zur Mauer in Berlin im Vergleich zu dem Zaun zwischen Mexiko und den USA bzw. der Mauer zwischen Israel und Palästina sowie zur Berichterstattung in Deutschland über Venezuela und Kuba. Für uns war das ein Beweis dafür, daß diese Sender gehört werden, die Hörer politisch interessiert sind und sich an den Radiodiskussionen beteiligen. Diese Bürgerradios (radios comunitarias) werden größtenteils ehrenamtlich betrieben und verfügen nicht über modernste Technik, was durch großes Engagement wettgemacht wird. Sie verkörpern eine Pressefreiheit und Demokratisierung des Äthers, wie sie bei uns unbekannt ist und über die in der hierzulande laufenden Kampagne wegen angeblicher Unterdrückung der Pressefreiheit in Venezuela nicht berichtet wird.

In der venezolanischen Öffentlichkeit wurde gerade die Diskussion über die Nichtverlängerung der Sendelizenz für den Fernsehsender RCTV geführt, als wir den von Soziologen und Politologen ins Leben gerufenen Fernsehsender Àvila TV besuchten. Er wendet sich besonders an Jugendliche und hat neben den Bürgerradios besonders viele interessierte Zuschauer. All diese Sender konnten erst unter der neuen Verfassung in den Äther gehen. So nimmt es nicht Wunder, daß sie den Kurs der Chávez-Regierung unterstützen, aber durchaus auch Fehlentwicklungen wie Korruption oder den Mißbrauch öffentlicher Ressourcen kritisieren.

Sie erfüllen damit eine wichtige Aufgabe bei der demokratischen Erneuerung eines Landes, in dem die Mehrheit der Menschen von demokratischen Prozessen ausgeschlossen war und keine Möglichkeiten hatte, sich im Äther Gehör zu verschaffen. Sie sind keine Regierungssender, sondern werden von einer öffentlichen Stiftung getragen. 80 Prozent der Radio- und Fernsehsender befinden sich in der Hand privater Unternehmen. Der mediale Großgrundbesitz in den Händen einiger wenigen Wirtschaftsmächtigen wurde also trotz der Nichtverlängerung der Sendelizenz für einen Sender nicht beseitigt (Dieser Sender kann übrigens sein Programm weiterhin über Kabel und Satellit verbreiten). Mehreren hundert privaten Radiostationen stehen knapp 200 kommunale Medien, meist Rundfunksender, gegenüber. Das gleiche Bild beim Fernsehen: Von 99 Stationen sind nur wenige öffentlich-rechtliche und der Regierung nahestehende Sender. Selbst die katholische Kirche hat in Venezuela mehr Medienmacht als die Regierung des Landes. Aber darüber berichten die großen deutschen Medien, die die „öffentliche Meinung beherrschen, nicht, sondern sprechen wahrheitswidrig von einer „Schließung des letzten Oppositionssenders durch Chávez“. Da stellt sich die Quiz-Frage: Welcher Sender in Deutschland ist ein Oppositionssender?

Aus: Lateinamerika-Blatt Nr. 2/07, Bulletin der Alexander-von-Humboldt-Gesellschaft e.V., Berlin