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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Chile – ein immerwährendes Fanal

Gudrun und Gerhard Mertschenk, Berlin

 

Am 24. Oktober 1970 – vor 40 Jahren – wurde Salvador Allende vom chilenischen Parlament mit 153 Stimmen gegen 35 bei 7 Enthaltungen als Staatspräsident bestätigt. Die Christdemokraten hatten jedoch als Bedingung für ihre Zustimmung (die von der bundesdeutschen CDU heftig kritisiert wurde) die Anerkennung von zehn von ihnen geforderten "verfassungsrechtlichen Garantien" verlangt. Diese Abstimmung im Parlament war nach der damals gültigen Verfassung nötig, da Salvador Allende bei seinem vierten Anlauf – nach 1952, 1958 und 1964 – als Kandidat der Unidad Popular (UP-Volkseinheit), einem Bündnis mehrerer linker Parteien, bei der Präsidentschaftswahl am 4. September 1970 mit 36,3% zwar die meisten Stimmen auf sich vereint, aber die absolute Mehrheit verfehlt hatte. Seine Gegenkandidaten Jorge Alessandri Rodríguez (unterstützt von den Liberalen und Konservativen), der bei den Wahlen 1958 gesiegt hatte, und Radomiro Tomic Romero von den Christdemokraten errangen 34,9% bzw. 27,9%. Das internationale Kapital machte sich schon Sorgen um einen billigen und sicheren Zugang zum chilenischen Kupfer.

Das Volk darf niemals siegen

Die konservativen Kräfte, denen an einem sozialistischen Präsidenten nicht gelegen war, konnten diesen Weg durch die Instanzen des bürgerlich-demokratischen Parlamentarismus nicht verhindern, hatten jedoch den gnadenlose Kampf gegen ihn bereits eingeleitet, als dieser das Präsidentenamt noch nicht einmal angetreten hatte und auch die endgültige Entscheidung des Parlaments noch ausstand. Ein Versuch, die Amtsübernahme am 3. November durch Allende zu verhindern, war das Attentat auf General René Schneider, Oberbefehlshaber des chilenischen Heeres. Am 22. Oktober 1970 – also zwei Tage vor der Parlamentsentscheidung – wurde er bei einem durch die CIA unterstützten Entführungsversuch, der den Linken angelastet werden sollte, angeschossen und starb drei Tage später, während Allende in der Zeit zwischen Parlamentsabstimmung und Amtsübernahme einen ersten Mordanschlag überlebte.

Allendes Vorgänger im Amt, Eduardo Frei Montalva, hatte überfällige tiefgreifende soziale und ökonomische Reformen in Angriff genommen, um der seit den 60er Jahren zunehmenden politischen und sozialen Spaltung entgegenzuwirken. Er bemühte sich um eine Verbesserung der Lage der Armen – die Armutsrate sank von 16,4% auf 11% – und leitete eine Bodenreform ein, die die Enteignung von brachliegenden Ländereien vorsah. Er richtete ein Wohnungsbauministerium ein und kurbelte den sozialen Wohnungsbau an. Er verstaatlichte die Kupferindustrie, indem der Staat 51% der Aktien übernahm.

Allende führte diese Politik zielstrebig weiter und vertiefte sie. Neben der vollständigen und entschädigungslosen Verstaatlichung der großen Kupferbergwerke (nach Aufrechnung ausstehender Zahlungen mit dem Wert der Anlagen) und aller Bodenschätze setzte er die Bodenreform konsequent um (20.000 km² Großgrundbesitzerland wurden an Bauern und Kollektive übergeben) und setzte die Nationalisierung von großen Banken und Industriebetrieben durch (Kohlebergwerke, Textilindustrie). Die UP-Regierung setzte die Preise für wichtige Grundbedarfsmittel und Mietobergrenzen staatlich fest. Schulbildung und Gesundheitsversorgung wurden kostenfrei angeboten. Jedes Kind bekam täglich kostenlos einen halben Liter Milch. Im ersten Regierungsjahr wurden ein Wachstumsschub und steigende Reallöhne verzeichnet. Die Zahl der Arbeitslosen ging zurück, 1971 wuchs das Bruttoinlandsprodukt um 9%. Das alles entsprach dem Programm der UP, das zu verwirklichen Allende im Wahlkampf versprochen hatte und wofür er gewählt worden war. Allende war der erste Staatspräsident in der Welt, der in einem kapitalistischen Land als erklärter Marxist aus bürgerlich-demokratischen Wahlen als Sieger hervorging. Und in der Tat war das Programm der UP auf marxistischer Grundlage auf die sozialistische Umgestaltung ausgerichtet. Unter Allende wurde eine erste antiimperialistische Etappe eingeleitet, die zunächst gegen den US-amerikanischen und westeuropäischen Imperialismus sowie gegen die einheimische Wirtschafts- und Landoligarchie gerichtet war. Auf diese Weise sollten die politische Hegemonie und die ökonomische Verfügungsgewalt über die wichtigsten Produktionsmittel zuungunsten des Monopolkapitals grundlegend verändert werden, um die Bedingungen für die Errichtung des Sozialismus zu optimieren. Auf dieser Basis wiederum waren Sozialreformen möglich, die der eigentumslosen Bevölkerung zugute kamen.

Faschismus statt Reformen

Damit wurden jedoch die Interessen der bis dahin dominierenden US-amerikanischen sowie einiger westeuropäischer Konzerne und Großbanken massiv berührt, weil infolge der Maßnahmen der Allende-Regierung der kapitalistischen Profitmaximierung und Ausbeutung Grenzen gesetzt wurden. Daher setzten zunächst vor allem die USA auf eine Destabilisierungsstrategie. Vorausschauend begonnen hatte das mit dem bereits erwähnten Attentat auf René Schneider. Daneben bediente sich der US-Imperialismus der ihm zur Verfügung stehenden Propagandamaschinerie. Schon aus eigenem Interesse folgten die privaten Medienkonzerne willig dieser Vorgabe einer massiven Verleumdungskampagne gegen die UP-Regierung. Dazu kam die finanzielle Unterstützung für rechte und konterrevolutionäre Gruppen, die für Terror und Sabotage sorgen sollten. Die Unterstützung, die die UP-Regierung aufgrund ihrer Politik hingegen in großen Teilen der Bevölkerung genoß, äußerte sich u.a. darin, daß die UP bei den 1971 abgehaltenen Kommunalwahlen 49,7% der Stimmen erzielte.

Um die Destabilisierung des Landes zu forcieren, begannen die USA und andere westliche Staaten ab 1971, Chile ökonomisch zu erdrosseln, was mittels wirtschaftlicher Boykottmaßnahmen und der Manipulierung des Kupferpreises auf dem Weltmarkt erreicht werden sollte. Diese von den USA durchgesetzten und auch von der BRD-Regierung praktizierten Handels- und Kreditembargos gegen Chile zeigten Wirkung. Es kam zu Versorgungsschwierigkeiten, die die Regierung 1972 zwangen, Lebensmittel zu rationieren. Sabotageanschläge auf Brücken, das Eisenbahnnetz, Pipelines und die Stromversorgung verschärften die Lage. Ein immer größer werdender Schwarzmarkt – größtenteils verursacht durch Hortung von Lebensmitteln und anderen Waren bei den privaten Handels- und Transportunternehmern – führte zu einer sprunghaft anwachsenden Inflation. Privatinvestitionen gingen zurück. Proteste der Mittel- und Oberschichten in Form des berüchtigten Kochtopfschlagens hatten eine aufgeheizte innenpolitische Situation zur Folge. In den Medien setzte ein wahres Trommelfeuer gegen die UP-Regierung ein. Ziel war es, eine solche Unzufriedenheit im Lande zu schüren, die einen so genannten weißen Putsch ermöglichen sollte. 1972 kündigten die Christdemokraten die Zusammenarbeit mit Allende auf. Man verfolgte die Absicht, bei den im März 1973 anstehenden Parlamentswahlen eine rechte bürgerliche Mehrheit im Parlament zu erreichen, mit der der sozialistische Präsident ausgebremst werden sollte. Aber trotz der Schwierigkeiten in der Wirtschaft und bei der Versorgung steigerte die UP bei diesen Wahlen ihren Stimmenanteil auf 43,9% (Dazu gibt es eine hervorragende filmische Dokumentation von Heynowski/Scheumann "Der weiße Putsch"). Dieses Ergebnis zeigte, daß die Parteien der UP bei den arbeitenden und (immer weniger) arbeitslosen Massen ihr Ansehen als politische Kraft für die langfristige Lösung vieler Alltagsprobleme ausbauen konnten – z.B. hatte Allende eine staatliche Gesundheitsfürsorge geschaffen –, aber auch bei denjenigen Kräfte, die gewillt waren, die Probleme nachhaltig mittels eines nichtkapitalistischen Entwicklungsweges zu lösen. Damit war die UP-Regierung unter Allende zu einer sehr ernsthaften Gefahr für die chilenische Bourgeoisie und die Großgrundbesitzer sowie für das nordamerikanische und westeuropäische Monopolkapital geworden. Ein Erfolg des chilenischen Modells eines "demokratischen Sozialismus mit menschlichem Antlitz" mußte auf jeden Fall verhindert werden. Obwohl die Verfassung kein Mißtrauensvotum kannte, initiierten die konterrevolutionären Kräfte im Parlament am 22. August 1973 ein symbolisches Mißtrauensvotum gegen Allende, das aber nicht einmal die 2/3-Mehrheit erreichte. Also mußten andere Mittel eingesetzt werden, um Allende zu Fall zu bringen. Der Terror nationalistischer und rechtsextremer Gruppen und eine landesweite Wirtschaftskrise, geschürt durch den Boykott internationaler Konzerne, nahmen immer schärfere Formen an. Militante Regierungsgegner forderten die Streitkräfte mehr oder weniger offen zum Eingreifen auf. Bereits am 29. Juni 1973 war es zu einem ersten Putschversuch gekommen, der aber nur von einem kleinen Teil der Armee getragen wurde und daher unblutig niedergeschlagen werden konnte. Der Oberbefehlshaber der Armee, Prats, trat Ende August nach einem mißlungenen Attentatsversuch auf ihn und unter dem Druck reaktionärer Offiziere zurück (Er hatte Armeefahrzeuge für Lebensmitteltransporte zur Verfügung gestellt, als die Transportunternehmer streikten). Sein Nachfolger wurde der vermeintlich regierungstreue General Augusto Pinochet.

Angesichts der angespannten politischen Situation und der schwierigen ökonomischen Lage plante Allende, am 11. September eine Volksbefragung über seinen Verbleib als Präsident anzukündigen. Eine große Zustimmung wäre Allende sicher gewesen. Genau aus diesem Grunde kam es nicht mehr zu dieser Volksabstimmung, die für den Herbst 1973 vorgesehen war. Statt der Ankündigung kam der Militärputsch. Eine Militärjunta unter der Führung von Augusto Pinochet errichtete in Chile eine blutige Diktatur, die bis zum 11. März 1990 dauern sollte.

Die Schlußfolgerungen aus der Niederlage der UP-Regierung Allendes sind bitter, aber lehrreich: Die bürgerlich-parlamentarische Demokratie wird nur so lange geduldet, wie sie der Absicherung der eigenen Herrschaft dienlich ist. Nichts ist gefährlicher für die herrschenden kapitalistischen Kreise als eine auf demokratischem Weg errungene sozialistische Gesellschaft. Damit eine Nachahmung ausgeschlossen wird, wird erst gar kein Vorbild zugelassen.

Systemerhaltung per Terror und Mord

Am 11. September 1973 hätten die Kräfte und Mächte, die fünf Jahre zuvor so medienwirksam vorgaben, den Prager Frühling als Weg zum Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu preisen, die Gelegenheit gehabt, den in Chile demokratisch auf den Weg gebrachten Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu unterstützen. Warum taten sie es nicht? Warum warnte die BRD-Regierung die Allende-Regierung nicht vor dem Putsch? Die CIA unterrichtete den Bundesnachrichtendienst bereits einige Tage zuvor vom geplanten Putsch. Nach bisherigen Erkenntnissen hat es entweder der BND unterlassen, den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt darüber zu informieren, oder dieser seinen Mitstreiter in der Sozialistischen Internationalen. (Jedenfalls erlangte Alfred Spuhler, ein Kundschafter des MfS in der BND-Zentrale in Pullach, Kenntnis davon und leitete diese Information umgehend in die DDR weiter. Von dort ging die Warnung unverzüglich nach Chile, wo sie zu spät eintraf bzw. ihr nicht so ganz geglaubt wurde. Spuhler wird u.a. deshalb noch heute in der BRD mit einer Strafrente belegt.) Warum pumpte die CIA nach eigenen Angaben 120 Millionen US$ in den blutrünstigen antidemokratischen Putsch gegen Allende? Warum taten die USA nichts, um das Pinochet-Regime international zu isolieren? Wo blieb da ihre Sympathie für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz?

Auch in der Anfangsphase der Ereignisse in der DDR 1989 versprachen die führenden Protagonisten des Reformprozesses eine bessere, demokratischere DDR und keinesfalls eine Wiederherstellung kapitalistischer Machtverhältnisse. Die Existenz eines erneuerten sozialistischen demokratischen Staates auf der Grundlage einer vom Runden Tisch erarbeiteten Verfassung mit Regelungen zur Meinungs- und Reisefreiheit sowie basisdemokratischen Elementen direkt vor der Haustür des mächtigsten kapitalistischen Staates in Europa hätte eine äußerste Bedrohung für die eingefahrene verkrustete Parteiendemokratur der BRD dargestellt. Die Alarmglocken schrillten. Angesichts der damaligen Situation in der DDR witterten die imperialistischen Kräfte jedoch ihre Chance, ihren alten Herrschaftsbereich zurückzugewinnen. Dafür hat man Spezialisten. Einer von ihnen ist General Vernon Walters, der im April 1989 zum US-Botschafter in der BRD ernannt worden war. Einen ähnlichen Auftrag hatte er bereits Anfang der 1970er Jahre, als er als Operativchef der CIA verantwortlich für die Operation "Centauro" war, deren Aufgabe die umfassende Unterstützung des Militärputsches in Chile 1973 war.

Chile bot nach dem Putsch die willkommene Möglichkeit, den kurz zuvor von Milton Friedman und seinen so genannten Chicago Boys theoretisch entwickelten Neoliberalismus in einem Land praktisch auszuprobieren, ohne mit Protesten der Volksmassen rechnen zu müssen. Mit offenem Terror und skrupellosen Morden wurde jeglicher Widerstand im Keim erstickt. Beste Bedingungen, dieses neue Wirtschaftssystem zu testen.

Bis heute stellten wir bei Aufenthalten in Chile fest, wie tief die Angst im Volk steckt. Erst wenn Vertrauen zum Gesprächspartner erweckt wurde, redete man frei über den Terror unter Pinochet, über von ihm übernommene Mißstände, die sich keiner traut zu überwinden aus Angst vor einem erneuten Militärputsch, denn auch in den Jahren seit dem Ende der offenen Diktatur hat das Militär seine Machtpositionen bis jetzt behauptet. Junge Leute von 25 Jahren, die zur Zeit des Putsches geboren wurden, waren erstaunt, aus unserem Munde 1995 von Exilchilenen zu hören, die nach dem Putsch gegen Allende ins Ausland geflüchtet waren. Der Name Allende war ihnen fast unbekannt – kein Wunder, konnten wir uns mit eigenen Augen davon überzeugen, daß noch 2002 in den Schulbüchern die Liste der chilenischen Präsidenten mit Eduardo Frei 1973 endete und erst wieder mit Patricio Aylwin weiterging. Dann dämmerte es ihnen etwas und sie meinten: "Ach ja, Allende, als Chile kommunistisch war und es nichts zu kaufen gab."

Die Kommunistische Partei ist im Nach-Pinochet-Chile zugelassen, wenn auch faktisch durch das von Pinochet übernommene binominale Wahlrecht [Variante des Verhältniswahlrechts, nach der in jedem Wahlkreis jene zwei Kandidaten gewählt werden, die dort die meisten und die zweitmeisten Stimmen bekommen, was alle Parteien außer den beiden stärksten benachteiligt. – Red.] der Teilnahme und Teilhabe am parlamentarischen Leben beraubt.

Als die Carabineros, Chiles Nationalpolizei, den 80. Jahrestag ihrer Gründung mit einer großen Ausstellung mit vielen Informationsständen auf dem Platz hinter dem Präsidentenpalast La Moneda begingen, fragten wir nach einer Auskunftsstelle zur Geschichte der Carabineros. Wir wurden hin und her geschickt, bis sich jemand am zentralen Informationsstand zuständig fühlte. Wir fragten nach der Rolle der Carabineros in den Jahren 1973 bis 1990. Siegesgewiß sagte uns ein junger Carabinero: "Kein Problem, da schau ich in unseren Computer." Er suchte und suchte, bis er etwas kleinlaut zugeben mußte: "Über diesen Zeitabschnitt ist in unserem Computer nichts vermerkt. Und ich bin erst 1980 geboren, ich weiß nichts darüber." Daraufhin bedankten wir uns bei ihm für diese entlarvende Auskunft.

Wenn vom 11. September gesprochen wird, sollte man zuvörderst an den 11. September 1973 denken, denn er ist das Fanal, an dem klar wird, wo die Frontlinie verläuft, wer für welche Gesellschaftsordnung kämpft und eintritt; eine, wo Maßstab aller Dinge der Maximalprofit einiger Weniger ist, oder eine, in dem das Wohl aller und ein Leben in Würde für alle Menschen im Mittelpunkt stehen, so wie es Salvador Allende vorschwebte.

 

Mehr von Gerhard Mertschenk in den »Mitteilungen«: 

2009-08: rbb, Honduras und das Recht auf Information

2007-07: Bürgerradios in Venezuela

 

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2007-07: Bürgerradios in Venezuela