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Eine linke Opposition wird dringender gebraucht denn je

Referat von Ellen Brombacher, Bundessprecherin der KPF

 

Die Partei befindet sich in einer existenziellen Krise. Es gibt verschiedene Erklärungsversuche hinsichtlich der Gründe:

    • Es seien die innerparteilichen Auseinandersetzungen und das daraus resultierende Bild der Zerrissenheit.
    • Es sei das Abstimmungsverhalten über den Bundeswehr-Einsatz am Flughafen von Kabul gewesen. Einigen seien Prinzipien wichtiger als Menschenleben.
    • Es sei die Abkehr von den Interessen der Arbeiter und Prekarisierten, meinen die einen, und die anderen sagen, es sei die ungenügende Beachtung der Diversitätspolitik. Gegenwärtig steht der Vorwurf des Sexismus im Raum.
    • Es sei der Umgang mit den Corona Maßnahmen durch die Partei gewesen, der die Krise befeuerte.

Man kann über die Relevanz dieser und anderer Punkte streiten. Keiner dieser Faktoren ist völlig aus der Luft gegriffen. Doch auch deren Summe erzeugte die Krise nicht.

Diese Punkte sind vielmehr der Ausdruck eines tiefer liegenden, elementaren Problems. Führende Genossinnen und Genossen der Partei schätzen Oppositionsarbeit absolut gering und wollen, wie sie es nennen »gestalten«.

Dr. Ronald Friedmann, bis vor kurzem langjähriger hauptamtlicher Mitarbeiter im Karl-Liebknecht-Haus, hat in einem nd-Leserbrief vom 25. April 2022 geschrieben: »Maßgebliche Teile der Partei hatten nie die Absicht, Politik zu betreiben. Es ging ihnen immer nur um die Regierungsbeteiligung.« Ein schon fast absurder Beleg für diese Herangehensweise ist, dass noch nach der Bundestagswahl am 27. September 2021 Susanne Hennig-Wellsow meinte, die Linke müsse unter allen Umständen bereit sein, zusammen mit SPD und Grünen eine Bundesregierung zu bilden, sollten die beiden Parteien dazu bereit sein.

Das hat sie gesagt mit 4,9 Prozent erhaltener Wählerstimmen. Wer so mit einer Wahlniederlage umgeht – und die Wahlergebnisse zum Beispiel in Sachsen, Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern waren ja auch schon desaströs – der fürchtet die Analyse wie der Teufel das Weihwasser. Und so gibt es diese Analyse bis heute nicht. Schlimmer noch. In der Parteivorstandssitzung vom 23./24. April 2022 gab es einen Dringlichkeitsantrag zur »Krise in der Partei«. Eingebracht von ganz unterschiedlichen Vorstandsmitgliedern hinsichtlich ihrer politisch-ideologischen Standorte. Es ging in dem Antrag um fünf Punkte. Sie sollen hier nicht alle verlesen werden. Drei von den fünf Beschlussvorschlägen fielen unter dem Tisch. Und zwei von den drei unter den Tisch gefallenen will ich vorlesen.

Zum einen: Der Bundesgeschäftsführer wird aufgefordert, »vor dem bevorstehenden Bundesparteitag eine abschließende Analyse des Bundestagswahlergebnisses vorzulegen. Diese hat ausdrücklich Handlungsempfehlungen und Schlussfolgerungen für den neuen Parteivorstand zu beinhalten.«

Zum anderen: Der Bundesgeschäftsführer wird aufgefordert, »einen Weg aufzuzeigen und den Parteivorstand vorzuschlagen, die seine und die Verantwortung des Parteivorstandes als kollektives Gremium am desaströsen Bundestagswahlergebnis aufarbeitet.«

Es sei wiederholt: Beide Punkte wurden ersatzlos gestrichen.

Das ist der klare Beweis: Eine Diskussion über Ursachen desaströser Wahlergebnisse wird regelrecht verhindert. Die Debatte über Ursachen der Wahlergebnisse wäre nämlich eine über die politische Linie der Partei. Und die Hauptlinie der Partei soll trotz zunehmend erwiesener Unbrauchbarkeit bleiben, wozu sie sich sukzessive entwickelt hat: Eine fast ausschließliche Orientierung auf eine Regierungsbeteiligung im Bund. Und das in einer Situation, in der eine linke Opposition dringender gebraucht wird denn je.

Die bürgerlichen Parteien lösen keine gesellschaftlichen Probleme, sondern sind Teil derer. Wenn daran noch irgendjemand zweifelt, so sollte er sich als letzten Beweis die Bilder stehend johlender, klatschender Bundestagsabgeordneter vor Augen führen, die 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr zujubeln.

Keine der bürgerlichen Parteien trägt durch ihre Politik zur Lösung von Problemen bei.

Die SPD steckt in jeder Hinsicht im Sumpf des tagespolitischen Opportunismus.

Die Grünen wollen die Umwelt retten, indem sie die Chancen für den Ausbruch eines Atomkrieges erhöhen.

Die CDU und die CSU vertreten die Kapitalinteressen vordergründiger als die beiden erst genannten Parteien, verbunden mit dem Versuch, nicht völlig unsozial – um nicht zu sagen asozial – zu agieren.

Der FDP ist es gleichgültig, ob man sie als asozial empfindet; im Gegenteil: Das ist ihr Markenzeichen.

Und die AfD hält sich bereit für die Zeit, in der die Mechanismen der bürgerlichen Demokratie möglicherweise überhaupt nicht mehr funktionieren. Scheinbar ist die AfD systemkritisch. Aber sie kritisiert lediglich das System des Parlamentarismus. Das ist nichts Neues. Diese »Kritik« findet man schon in »Mein Kampf«. Faschisten regieren bekanntlich durch. Scheinbar kritisiert die AfD imperialistische Politik. Dabei geht es ihr um die Stärkung des deutschen Imperialismus.

Von keiner dieser Parteien ist eine fortschrittliche Politik zu erwarten.

Oppositionspolitik ist nicht gewollt

Dringend erforderlich wie vielleicht nie zuvor ist eine von den objektiven Interessen der mehr oder minder Ausgebeuteten geleitete Oppositionspolitik. Und zu diesen objektiven Interessen gehört die Erhaltung des Friedens ebenso wie der Kampf um die sozialen Rechte der Werktätigen; gehört der Kampf gegen die profitgesteuerte Umweltzerstörung ebenso wie der Antifaschismus, dem Antirassismus, der Kampf gegen Antisemitismus und gegen Islamphobie immanent ist.

Das Programm der Partei entspricht diesen Anforderungen an die politische Verantwortung der LINKEN. Doch unser politischer Alltag entfernt sich immer mehr und immer schneller von dieser Verantwortung, die wir tragen.

Der Grund hierfür sei noch einmal wiederholt: Maßgebliche Führungskräfte unserer Partei wollen keine Oppositionspolitik, sondern sie wollen eine so genannte Gestaltungsrolle – vor allem im Bund.

Und schon, dass sie das wollen, führt zunehmend dazu, dass sich unsere Partei immer weiter verbiegt.

Erstens:       Wer mit SPD und Grünen koalieren will, muss nicht erst im Wahlkampf, sondern schon im Alltag zwischen den Wahlen, Rücksicht auf deren politische Absichten nehmen. Das geht auf Kosten der eigenen Identität. Denn wir unterscheiden uns von SPD und Grünen nicht in taktischer Hinsicht, sondern strategisch-programmatisch. Ansonsten wären wir eine zweite SPD.

Zweitens:     Und wer mit SPD und Grünen koalieren will, muss die Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland anerkennen und das sind ihre Bündnisverpflichtungen, insbesondere in der NATO. Und wir erleben gerade in diesen Wochen und Tagen, was das praktisch bedeutet.

Friedenspolitische Grundsätze wichtiger denn je

Es wäre allerdings eine völlige Realitätsverdrängung, anzunehmen, die Bemühungen, die friedenspolitischen Grundsätze der LINKEN – beziehungsweise seinerzeit der PDS – zu entsorgen, hätten nach dem 24. Februar 2022 begonnen. Diese Bemühungen gibt es massiv seit dem Magdeburger Parteitag 1996. Erinnert sei an den Münsteraner Parteitag. Erinnert sei an die Programmauseinandersetzungen zu Beginn dieses Jahrhunderts und im Kontext mit dem 2011 beschlossenen Parteiprogramm. Erinnert sei an ungezählte Diskussionswellen – so zum Beispiel Höhns Pamphlet vom Januar 2021 – die immer wieder ein Ziel hatten: Die friedenspolitischen Grundsätze infrage zu stellen, um sie letztlich über Bord gehen zu lassen.

Wenn jemand sehr viel Zeit hat, aber wirklich viel Zeit, dann kann er all die seitens der Reformer und Regierungssozialisten in Jahrzehnten verfassten Papiere – oder zumindest einen Teil dieser Dokumente – durchgehen, die die Friedensproblematik betreffen. Und er kann dann suchen, ob er in all diesen Papieren Begriffe wie US-Imperialismus, deutscher Imperialismus oder aggressives NATO-Bündnis findet. Man kann wahrscheinlich darauf wetten – höhere Summen –, dass sich diese Begriffe nicht finden. Die zum Teil gleichen Autorinnen und Autoren inflationieren jetzt den Begriff »großrussischer Imperialismus«. In der Partei geht selbst die Zeit der Äquidistanz zu Ende.

Nun hatten wir es vor den Bundestagswahlen im September 2021 vonseiten führender Genossinnen und Genossen in puncto Friedenspolitik mit einer Art Doppelargumentation zu tun. Einerseits – erinnert sei stellvertretend wieder an Matthias Höhn – wurde die Partei aufgefordert, sich von alten Gewissheiten zu verabschieden und das Agieren Russlands und Chinas nicht wesentlich anders zu bewerten als das der NATO. Das Prinzip der Äquidistanz sollte geltende Programmpositionen infrage stellen. Uns und uns gleich Gesinnten in der Partei wurde vorgeworfen, wir seien einseitig gegen den Westen und wir hätten also die Welt von heute nicht begriffen.

Andererseits – wenn wir dann über die Welt von heute diskutieren wollten, um die Tauglichkeit von Positionen zu überprüfen – andererseits wurde uns dann gesagt, das Thema Frieden interessiere die Menschen nicht. Sie hätten ganz andere Probleme.

Letzteres sagt heute niemand mehr, und das war, nebenbei bemerkt, auch im Sommer 2021 schon falsch.

Die Manipulationswalze des Kapitals ist so gewaltig, dass selbstständiges Denken verunmöglicht wird, beziehungsweise, wenn es vorhanden ist, wird es tagtäglich plattgemacht. Die Kapitalmedien bestimmen in Größenordnungen Stimmungen. Mal interessiert nur die Umwelt. Dann gibt es nur noch die Pandemie. Und heute ist es eben der Krieg. Nicht der Krieg als solcher! Kriege gibt es ja – auf die Zeit nach 1945 bezogen – seit dem Koreakrieg 1950 in regelmäßigen Abständen. All diese Kriege sind nicht gemeint, sondern der in der Ukraine. Gefühlt erfahren wir heute in einer Woche so viel an Realem und Erlogenem über diesen Krieg in der Ukraine, wie über alle anderen ebenso stattfindenden heutigen Kriege und militärischen Konflikte vielleicht in einem Jahr.

Wir werden uns heute nicht noch einmal ausführlich über den Krieg in der Ukraine äußern. Das hat die KPF seit dem 24. Februar 2022 dreimal öffentlich getan. Am 24. Februar selbst mit der Erklärung »Wir werden uns keinem Druck beugen«[1]. Am 5. März beschlossen wir in Auswertung der Bundeskoordinierungsratssitzung das Papier »Nicht den Weg der Grünen gehen«[2] und veröffentlichten zugleich »Überlegungen aus der Diskussion in der Sitzung des Bundeskoordinierungsrates«[3]. Die Berliner KPF ist auf dem Landesparteitag der LINKEN am 2. April 2022 sehenden Auges in die Auseinandersetzung gegangen, um deutlich zu machen: Es gibt Widerstand gegen den kaum noch zu verhehlenden Kurs der NATO-Verharmlosung. Uns war klar, wir werden keine Mehrheiten erhalten. Aber es war für uns entscheidend, die Dinge nicht einfach so durchgehen zu lassen.

Wir haben seit Beginn des Jahres in allen Ausgaben unserer Mitteilungen Artikel zum Thema Ukraine veröffentlicht; von ausgezeichneten Autoren geschrieben. Stellvertretend seien Norman Paech, Jochen Willerding und Moritz Hieronymi genannt.

Ich möchte hier einen Einschub machen. Wir werden für unsere Positionen angegriffen. Aber wir werden angegriffen für unsere Inhalte und unsere Haltungen. Nicht für einzelne Sätze oder gar Worte. Es ist harte intellektuelle Arbeit, solche Angriffsflächen nicht zu bieten und es zeugt nicht von Verantwortungsbewusstsein, den NATO-Verharmlosern in der Partei Steilvorlagen durch zitierfähige Sätze zu liefern. Es ist gut, dass ich im nd die Chance hatte, die Positionen zum Ukraine-Krieg, die wir uns in der KPF erarbeitet haben, in einem Artikel am 19. April 2022 öffentlich zu unterbreiten[4]. Ein Leserbrief zu diesem Artikel macht deutlich, dass manche unsere Positionen auf dümmliche, unfaire Weise angreifen. Fehlen vielleicht doch Argumente? Da schrieb also ein Sören Kunz, sein Fazit aus meinem Artikel sei, »weil die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg – zweifellos - so viele Opfer bringen musste, hat Russland heute einen Freibrief zum Morden. Ich bin da lieber mit meiner Meinung und Haltung bei den Berliner Genossinnen, ich hoffe, dass der Parteitag nicht zu Gunsten von Frau Brombacher ausgeht.« Diese Leserbriefreaktion geht völlig am Inhalt meines Artikels vorbei. Das ist einfach nur die blanke Denunziation. Das können diese Leute gut.

Summa summarum: Wer meint, die Kommunistische Plattform habe zum Ukraine-Krieg keine Position, kennt entweder unsere Erklärungen oder die Mitteilungen nicht oder weiß nichts von unserem innerparteilichen Agieren; vielleicht ist er aber auch der Meinung, man bezöge nur dann Position, wenn man provoziert und so die Aufmerksamkeit der bürgerlichen Medien erhält. Die Provokation an die Stelle des sachlich formulierten Standpunktes zu setzen, diesen Weg werden wir auch zukünftig nicht beschreiten.

Das Programm verteidigen

Wir wissen, worum es geht. Die aktuelle weltpolitische Situation hat für all diejenigen in der Partei das Fenster weit geöffnet, die sich von folgender Formulierung aus dem Parteiprogramm als nicht mehr zeitgemäß verabschieden wollen.

»Wir fordern die Auflösung der NATO und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands, das Abrüstung als zentrales Ziel hat. Unabhängig von einer Entscheidung über den Verbleib Deutschlands in der NATO wird die Linke in jeder politischen Konstellation dafür eintreten, dass Deutschland aus den militärischen Strukturen des Militärbündnisses austritt und die Bundeswehr dem Oberkommando der NATO entzogen wird. Wir fordern das sofortige Ende aller Kampfeinsätze der Bundeswehr«.

Das ist geltende Programmlage, und die soll revidiert werden. Und die Lage ist für die Revidierer sehr günstig. Zugleich ist ihnen klar: Das Fenster wird nicht ewig geöffnet bleiben und sie wissen – und darum geht es –, mit einer Anti-NATO-Position bleibt die Tür für eine Regierungsbeteiligung im Bund geschlossen. Aber sie wollen, dass diese Tür dauerhaft aufbleibt. Jetzt mögen Genossinnen und Genossen – und das entbehrt nicht einer gewissen Logik – denken oder sagen: Das kann doch nicht sein. Wenn sich dieser NATO-Verharmlosungskurs durchsetzt, wird die Partei das nicht überleben. Dann hat sich das mit der Regierungsmitteilung doch ohnehin erledigt. So blöd kann doch keiner sein. Offenkundig doch.

Dabei müssten wir uns als Partei doch zumindest auf dem Niveau eines bürgerlichen Politikers wie Günter Verheugen bewegen. Der erklärte im nd-Interview vom 4. April 2022[5], man müsse bereit sein, Russland wieder die Hand zu reichen. Zu geostrategischen und historischen Zusammenhängen, die maßgeblich zu diesem Krieg führten, sagte Verheugen:

»Wenn wir diese ganze Vorgeschichte nicht wirklich ernsthaft aufarbeiten, werden wir praktisch dazu verurteilt sein, dieselben Fehler zu wiederholen. Und wenn ich höre und sehe, dass die Forderung nach Kontextualisierung dieses Konflikts als Appeasement dargestellt wird, da muss ich sagen: Es ist schon merkwürdig, dass über die Ursachen und Entwicklungen, die zum Ersten und zum Zweiten Weltkrieg führten, ganze Bibliotheken geschrieben wurden. Und keiner kommt auf die Idee, das zu kritisieren. Aber wenn gemahnt wird, die ganze Vorgeschichte des Ukraine-Konflikts, des ersten großen Kriegs in diesem Jahrhundert in Europa, aufzuarbeiten, dann gilt das als Appeasement?«

Die Vernunft, die Verheugen hier an den Tag legt, hat gerade äußersten Seltenheitswert. Davon zeugt auch das Interview mit Benjamin Immanuel Hoff im nd vom 28. April 2022[6].

Ich will darauf kurz eingehen: Hoff entwickelt in diesem Interview die Linie, die auf dem Parteitag durchgesetzt werden soll. Darüber müssen wir uns im Klaren sein. Er sagt: »Wir fordern seit Anfang der Neunzigerjahre die NATO durch ein kollektives europäisches Sicherheitsbündnis unter Einschluss Russlands abzulösen.« Das sei nach der Auflösung des Warschauer Pakts hoch aktuell gewesen und sei auch viele Jahre danach nicht falsch. Weiter meint Hoff, wir – also die Partei – hätten nie ausbuchstabiert, welche konkreten politischen Schritte daraus folgen. Dazu ist anzumerken: Wir buchstabieren im Moment auch absolut nicht aus, welche konkreten politischen Schritte wir zum Sozialismus gehen wollen. Es gibt nur ganz wenige, die von sich meinen, sie könnten das konkret buchstabieren; die KPF gehört bekanntermaßen nicht dazu. Streichen wir deswegen den demokratischen Sozialismus als unser Ziel aus dem Programm? Es ist ein Totschlagargument, zu behaupten, wenn die Schritte auf dem Weg zur Erreichung eines Ziels (noch) nicht abgesteckt werden können, könne man auch gleich das Ziel vergessen.

Zurück zu Hoff. In seinem Interview lautet die eigentlich entscheidende Formulierung: »die osteuropäischen Länder wurden ja nicht in die NATO gezwungen, sondern auch linke Parteien in Osteuropa wollen lieber in der NATO leben als unter der permanenten Gefahr eines großrussischen Imperialismus«.

Das ist der absolute Tabubruch. Hier geht es nicht mehr darum, absolut nicht mehr darum, den Krieg Russlands in der Ukraine als völkerrechtswidrig zu charakterisieren. Die KPF stellt diese Völkerrechtswidrigkeit bekanntermaßen nicht in Frage. Hier geht es darum, uneingeschränkt die NATO als die Kraft zu beschreiben, die Länder vor den Russen schützt und natürlich auch vor den Chinesen.

Nicht mehr die NATO pfeift auf jegliches Sicherheitsinteresse Russlands. Nicht die NATO-Osterweiterung ist ein maßgeblicher Schritt, der zur heutigen Situation geführt hat. Sondern sozusagen umgekehrt hat die Existenz Russlands als solche die NATO-Osterweiterung erforderlich gemacht.

Das alles steckt in Hoffs soeben zitierter Feststellung, und wir Dummerchen haben das nur noch nicht begriffen.

Wer die NATO und damit den US-Imperialismus heute zur Schutzmacht gegen Russland erklärt, der wird auch morgen dem Wahnsinn von Rammstein Verständnis entgegenbringen, die Lieferung schwerer deutscher Waffen inklusive. Und jemand, der die NATO derart verharmlost, der hat aber wirklich auch alles vergessen, was dieses aggressive Bündnis im Schlepptau der USA über die Jahrzehnte an ungeheuren Verbrechen und an Völkerrechtsbrüchen begangen hat.

Noch einmal Glasnost und Perestroika?

Nun wissen Hoff und andere, dass sie auf dem kommenden Parteitag nicht einfach das Programm ändern können. Aber auch da haben sie schon eine schöne Idee. Hoff schlägt vor, »eine Grundwertekommission einzurichten, die zeitnah Vorschläge unterbreitet, in welchen Punkten wir uns einig sind und wo wir über Differenzen abstimmen müssen«. Ich will mich mal nicht darüber auslassen, dass es merkwürdig ist, Vorschläge zu unterbreiten zu wollen, wo man sich einig ist und wo man Differenzen hat. Übereinstimmungen und Differenzen schlägt man eher nicht vor. Die hat man. Geschenkt. Der Kern des Ganzen: So sollen Programmpositionen ausgehebelt werden, indem man davon ausgeht, dass über Differenzen, die die Grundwertekommission als Vorschläge unterbreitet, abgestimmt wird, um dann irgendwann sagen zu können: Da haben wir doch schon drüber abgestimmt. Die Mehrheitsverhältnisse waren doch klar. Das muss doch nicht mehr verhandelt werden. Diese Vorgehensweise nennt Hoff einen »Schritt in einen Prozess von Glasnost und Perestroika«. So meint Benjamin Hoff, die Partei attraktiv zu machen. Er sagt, »in unserer Partei verlassen uns ständig Mitglieder und es kommen neue hinzu«. Und er sagt mit keinem Wort, dass er um die kämpfen will, die gehen. Damit reiht sich Hoff ein in die Reihen derer, die de facto sagen: Lieber eine Spaltung als die weitere Mitgliedschaft von Leuten, die unseren Kurs der Erneuerung hinsichtlich programmatischer Grundpositionen nicht mitmachen wollen.

Stellvertretend für viele Äußerungen, die in diese Richtung gehen, sollen zwei Meinungen stehen. Professor Mario Kessler schreibt am 19. April 2022 in einem nd-Leserbrief über solche wie uns: »Die Partei muss sich von jenen Kräften trennen, notfalls in Form einer Spaltung.« und der Pankower Bürgermeister Sören Benn drohte: »Wenn das, in dem wir uns jetzt befinden, in unserer eigenen Partei nicht zu einem tiefen Selbsterschrecken und nicht auch zu einem tiefen Selbstbefragen einer ganzen Reihe von Positionen führt, dann bin ich nicht mehr lange in dem Laden«.[7]

Von dieser Ausgrenzungslinie zeugt auch exemplarisch der skandalöse Umgang mit dem Ältestenrat. Wir haben dazu am 31. März 2022 die Erklärung abgegeben »Nicht mit zweierlei Maß? Zum Umgang mit dem Ältestenrat«[8], und ich habe mich in einer E-Mail an Jörg Schindler gewandt, der ja Hans Modrow angerufen hatte – nach diesem sehr strittigen Satz im Protokoll des Ältestenrates – und ihm, Hans, sinngemäß sagte, die Formulierung verstieße gegen die Programmlage. Ich fragte in der E-Mail nach, ob Jörg Schindler denn Matthias Höhn auch schon angerufen habe, um ihm zu sagen, dass er gegen das Programm verstößt. Eine Antwort gab es nicht. Hans Modrow hat sich persönlich bei uns für die Solidarität bedankt und ich möchte den Dank heute weitergeben.

Keine NATO-Verharmlosung dulden

Diese und weitere Beispiele belegen: Manche Protagonisten der LINKEN riskieren die Existenz der Partei, um sie regierungsfähig zu machen - auf dem Weg der NATO-Verharmlosung. Deshalb sei noch einmal deutlich gesagt: Wie auch immer wer den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands in der Ukraine sieht – wir als Kommunistinnen und Kommunisten werden uns niemals an der massenhaft betriebenen Manipulation beteiligen, diesen Krieg aus seinem historischen und geopolitischen Kontext zu lösen und somit Russland die Alleinschuld an der aktuellen Lage zu geben. Denn: Wer Russland die Alleinschuld zuweist, legitimiert die NATO und macht – unbewusst oder bewusst – alles vergessen, was dieses Aggressionsbündnis, vor allem die USA, an unerhörten Verbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg begangen hat. Empfohlen sei deshalb das Buch von Bernd Greiner: »Made in Washington. Was ist die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben«. In diesem Buch lautet einer der Kernsätze: »Die Vereinigten Staaten haben mit Abstand die meisten Kriege geführt, wiederholt Angriffskriege vom Zaun gebrochen und das Völkerrecht mit Füßen getreten. Sie sind einsamer Spitzenreiter beim Sturz missliebiger, auch demokratisch gewählter Regierungen«.[9]

Nun sagen einige mehr oder weniger deutlich, dies alles sei nach dem 24. Februar 2022 nicht mehr so wichtig und diene nur der Ablenkung vom Agieren Russlands. Das ist zynisch.

Einige meinen auch, wer heute noch darüber rede, welche Mitschuld die NATO für die entstandene und wirklich den Weltfrieden gefährdende Lage trifft, der relativiere die Grausamkeit des Krieges in der Ukraine. Unsere Erklärungen belegen: Wir relativieren nichts und den Menschen, die unter diesem Krieg leiden, gehört unsere Empathie. Es relativieren diejenigen, die der NATO nunmehr zubilligen, nötig zu sein.

Die NATO-Verharmlosung beziehungsweise Pro-NATO-Positionierung stellt einen Frontalangriff auf unser Parteiprogramm dar, einen Frontalangriff auf unsere Partei. Dieser programmatische Putsch läuft unter der Losung, mit der sich Susanne Hennig-Wellsow verabschiedet hat. Sie formulierte: »Eine programmatische, strategische und kulturelle Erneuerung der LINKEN ist nötig, wir wissen es seit Jahren. Ich habe das mir Mögliche versucht, dazu beizutragen«.[10]

Manches Parteimitglied, das diesen Kurs verficht, begreift nicht, dass es an dem Ast sägt, auf dem wir alle sitzen. Andere begreifen dass sehr wohl. Noch stört die Partei. Allein schon dadurch, dass sie vor allem durch ihre Basis ein unsicherer Kantonist ist. Und die eine oder den anderen stört es wiederum, dass DIE LINKE noch ein Störfaktor ist. Spekulationen verbieten sich. Dass Spaltungen in Kauf genommen werden, liegt auf der Hand.

Max Liebermann ist sehr aktuell

Der Rücktritt von Susanne Hennig-Wellsow jedenfalls ist als eine Initialzündung in einem von manchen angestrebten Spaltungsprozess zu vermuten. Auf der heutigen Konferenz werden vergleichsweise wenige diesen Rücktritt als solchen überaus bedauern. Einige werden denken, das sei eine Niederlage für die Regierungssozialisten. Das ist es auch insofern, als dass Hennig-Wellsow der Aufgabe, den unbedingten Regierungskurs überzeugend zu verfolgen, nicht immer gewachsen war. Aber ansonsten hat der Rücktritt etwas Putschähnliches. Schon der Zeitpunkt war doppelt irre.

Zum einen: Wer nicht mehr kann oder nicht mehr will oder beides, der hält doch im Normalfall noch ein paar Wochen bis zum Parteitag aus.

Zum anderen: Wenn, wie das am 20. April der Fall war, eine Sondersitzung des Parteivorstandes geplant ist, hält man es – wenn schon nicht ein paar Wochen – so doch noch ein paar Stunden aus, bis man seinen Genossinnen und Genossen im Vorstand seinen sofortigen Rücktritt erklärt.

Wer so vorgeht wie Susanne Hennig-Wellsow, der kalkuliert vor allem mit dem Spektakulären und somit mit der entsprechenden Medienaufmerksamkeit. Und um diesen medialen Prozess noch zu forcieren, kommt die nächste politisch-menschliche Unsauberkeit. Eine schwächere Bezeichnung ist mir nicht eingefallen. Hennig-Wellsow denunziert die Genossin, mit der sie 14 Monate zusammengearbeitet hat. Spiegel online steht Pate und die Steilvorlagen kommen, wie immer bei Intrigen, aus der Partei selbst.

Jana Frielinghaus und Max Heising haben im nd vom 26. April 2022 zu dieser Problematik einen aufhellenden Artikel geschrieben. Ich gestatte mir eine zusätzliche Bemerkung: Im Namen des Feminismus wird eine Frau persönlich durch den Dreck gezogen, dass es einen graut. Da fällt einem wirklich nur noch Max Liebermann ein, dass man gar nicht so viel fressen kann, wie man kotzen möchte. Janine Wissler verdient dafür, dass sie dennoch in der Verantwortung bleibt, zumindest in Vorbereitung des Parteitages, unseren solidarischen Respekt. Und noch etwas: Am 25. März 2022 gab es ein Gespräch zwischen Janine Wissler und dem Bundessprecherrat. Es war seit Januar als ein Gespräch mit beiden Parteivorsitzenden geplant. Susanne Hennig-Wellsow sagte am gleichen Tag für den späten Freitagnachmittag ihre Gesprächsteilnahme aus dringenden Termingründen ab. Die Aussprache mit Janine Wissler offenbarte Gemeinsamkeiten ebenso, wie nicht zu verhehlende Differenzen. Aber wir hatten schon den Eindruck, dass für sie das Parteiprogramm noch etwas gilt. Das ist in den Augen einer Reihe von Protagonisten der Partei schon nicht mehr zeitgemäß.

Geht jetzt nicht!

der kommende Parteitag kann die Partei vor eine Zerreißprobe stellen. Wir wollen das nicht. Andere – wie bereits gesagt – wollen das schon. Um auf dem kommenden Parteitag Tabula rasa zu machen wird eine Doppelstrategie gefahren.

Mit den unbedingt a) angestrebten programmatischen Veränderungen in puncto friedenspolitische Grundsätzen sollen b) all jene aus der Partei getrieben werden, die diesen Veränderungen im Weg stehen.

Und machen wir uns nichts vor: Der Prozess hat begonnen. Die Austritte häufen sich, und bei jedem aufrechten Parteimitglied, das es nicht mehr aushält, reiben sich bestimmte Leute die Hände. Das ist es, was sie wollen. Und wenn das dann noch öffentlich geschieht, umso wirksamer für die Parteiliquidation in schnellem Tempo. Jede prominente Genossin, jeder prominente Genosse, der öffentlich austritt, stimuliert andere, Gleiches zu tun.

Können wir heute nun einfach sagen: Alles klar – wir polemisieren gegen Austritte und das war‘s erst einmal? Nein. Es ist bedeutend komplizierter. Wir sind in einer zutiefst widersprüchlichen Situation, in einem Dilemma.

Wir sagen seit der Vorbereitung des Münsteraner Parteitag – also seit 22 Jahren: Wenn die friedenspolitischen Grundsätze der Partei entsorgt werden, ist das für uns das Ende der Fahnenstange. Und möglicherweise wird auf dem Juni Parteitag ein entscheidender Schritt auf dem Weg der Entsorgung dieser Grundsätze getan. Das ist die eine Seite des Widerspruchs.

Die andere Seite: Wir sollen gehen. Die wollen es: Die Höhns, die Gallerts, die Lederers, die Hennig-Wellsows, die Hoffs, die Ramelows, die Breitenbachs, die Lays und genügend andere.

Dieses Widerspruchsverhältnis bedeutet: Aus der gegenwärtigen Lage gibt es für uns keine nur richtige oder nur falsche Entscheidung. Wir müssen wissen: Wir befinden uns in einer sehr schwierigen Situation. Was wir auch tun werden; es wird Gründe genug geben, unser Verhalten zu hinterfragen. Umso gründlicher und mutiger müssen wir abwägen, was wir tun: NACH DEM PARTEITAG!

Vielleicht können wir bleiben. Vielleicht auch nicht. Wir werden das im zweiten Halbjahr in Ruhe und mit aller gebotenen Nachdenklichkeit entscheiden. Alle Konsequenzen – so oder so – mitbedenkend.

Ausgehend von diesem Herangehen bitten wir von unserer heutigen Konferenz aus alle Genossinnen und Genossen der KPF und darüber hinaus diejenigen, die unsere Positionen teilen oder weitgehend mittragen: Geht jetzt nicht. Eine individuelle Antwort auf tiefgreifende, nicht nur innerparteiliche Probleme, ist keine Lösung. Lasst uns alles tun, damit diejenigen, die die Existenz der Partei sehenden Auges auf Spiel setzen, unbewusst unterstützt von jenen, die politische Prozesse nicht bis zu Ende denken können - damit sie im Juni nicht durchkommen.

Zur unmittelbaren Parteitagsvorbereitung

Der KPF-Bundessprecherrat wird in der Phase der unmittelbaren Parteitagsvorbereitungen danach streben, möglichst breite Bündnisse für die Fortexistenz der Partei zu schmieden, nicht zuletzt als Bündnis all derer, für die sich am Charakter der NATO nichts geändert hat. Das ist der mögliche und notwendige gemeinsame Nenner. Auf folgende konkrete Punkte müssen wir uns konzentrieren:

Erstens:       Wir wählen heute unsere Delegierten zum Parteitag. Diejenigen von uns, die eine Chance sehen, in ihren Heimatbezirken oder -kreisen gewählt zu werden bitten wir, eine Kandidatur dort in Erwägung zu ziehen.

Zweitens:     Es wird zwei entscheidende Leitanträge geben. Wir werden bei Antragsstellungen nach Verbündeten suchen, mit denen wir gemeinsam politisch agieren können.

Drittens:       Bei der Neuwahl des Vorstandes werden wir die Kandidatinnen und Kandidaten unterstützen, die sich durch Verantwortungsbewusstsein im Kampf um die Erhaltung der Partei auszeichnen.

Viertens:      Anfang Juli wird sich der Bundeskoordinierungsrates zur Lage nach dem Parteitag verständigen und eine erste Einschätzung vornehmen, verbunden mit Schlussfolgerungen, die weitere Entwicklung der KPF betreffend.

Liebe Genossen und Genossen, ursprünglich wollten wir vorschlagen, auf unserer Konferenz nur dieses Referat zu beschließen. Nach dem programmwidrigen Interview von Benjamin Hoff hat sich der Sprecherrat vorgestern Abend entschieden, Euch dazu einen kurzen Erklärungsentwurf vorzulegen, mit der Bitte dieses Papier zu beschließen. Wir erleben gerade eine sehr gefährliche Zeit. Was wir mit unseren bescheidenen Kräften tun können, ist nicht viel. Und gerade deshalb werden wir kämpfen.

 

Anmerkungen:

[1]kpf.die-linke.de/erklaerungen/detail/wir-werden-uns-keinem-druck-beugen/

[2]kpf.die-linke.de/erklaerungen/detail/nicht-den-weg-der-gruenen-gehen/

[3]kpf.die-linke.de/erklaerungen/detail/die-zeitenwende-begann-nicht-am-24-februar-2022/

[4] Ellen Brombacher: »Worum es letztlich geht«, nd, 19.04.2022

[5] Uwe Sattler: »Wir müssen bereit sein, Russland wieder die Hand zu reichen«, Interview mit Günter Verheugen, nd, 04.04.2022

[6] Max Zeisig: »Wir haben das Denken eingestellt«, Interview mit Benjamin-Immanuel Hoff, nd, 28.04.2022

[7] Nicolas Šustr: »Putins Krieg bewegt Die Linke«, nd, 07.03.2022

[8]kpf.die-linke.de/erklaerungen/detail/nicht-mit-zweierlei-mass-zum-umgang-mit-dem-aeltestenrat/

[9] Bernd Greiner: »Made in Washington. Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben.« Beck-Verlag, München 2021, zitiert in: Peter Köhler: »Bestialischer Auftritt. Die Mutter aller Schurkenstaaten: Bernd Greiners Buch über ›die Schattenseiten des amerikanischen Jahrhunderts‹«, junge Welt, 01.02.2022

[10]www.susannehennig.de/nc/aktuell/detail/news/erklaerung0/, 20.04.2022

 

Mehr von Ellen Brombacher in den »Mitteilungen«: 

2022-05: Worum es letztlich geht

2022-05: Die NATO ist keine andere geworden

2022-05: Ist das jetzt erlaubt?