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Kommunistische Plattform der Partei DIE LINKE

Die Zeitenwende begann nicht am 24. Februar 2022

Überlegungen aus der Diskussion in der Sitzung des KPF-Bundeskoordinierungsrates am 5. März 2022

Wir haben es mit einer, in seiner Widersprüchlichkeit von Tragik gekennzeichneten Situation zu tun. Einerseits stellt die Operation der russischen Streitkräfte in der Ukraine einen Bruch des Völkerrechts dar. Andererseits liegen wesentliche Ursachen für diesen Schritt nicht primär in Russland, sondern in der aggressiven Politik des Westens. Wir übersehen dabei nicht, dass auch in Russland die Interessen des großen Kapitals Einfluss auf politische Entscheidungen haben.

Es soll hier erst einmal nicht die Rede davon sein, wer in den letzten 30 Jahren wo das Völkerrecht gebrochen hat und wie auf dem internationalen Parkett damit umgegangen wurde. Die Zeitenwende begann nicht am 24. Februar 2022. Dazu finden sich in den Märzmitteilungen der Kommunistischen Plattform argumentationsreiche Artikel, vor allem von Prof. Norman Paech, Dr. Jochen Willerding und Moritz Hieronymi.

Der Völkerrechtsbruch Russlands wird einen hohen Preis haben. International, wenngleich es erstaunlich war, dass sich Indien und die Vereinigten Arabischen Emirate – ebenso wie China – enthielten, als Russland am 25.02.2022 im UN-Sicherheitsrat für seinen Einmarsch in die Ukraine verurteilt werden sollte, was am Veto Russlands scheiterte.

Auch innenpolitisch dürfte der Konflikt mit der Ukraine zu Spannungen führen, deren Dimensionen momentan noch nicht absehbar sind.

Und vor allem: Krieg kostet Menschenleben. Ökonomisch kostet er enorme Ressourcen; die Sanktionen der USA und der nibelungentreuen EU werden nicht ohne Auswirkungen bleiben; mit anderen Worten: Nicht zuletzt die ökonomische und damit die innenpolitische Situation Russlands dürfte großen Belastungen ausgesetzt sein.

Es erhebt sich die Frage: Wurde das alles – und manch anderes – von der russischen Führung nicht bedacht? Hat sie – nachdem vor allem die USA nicht bereit waren, über russische Sicherheitsinteressen auch nur nachzudenken – so reagiert, um einen Gesichtsverlust zu vermeiden?

Diese Frage bewegt nicht nur uns, sondern viele Genossinnen und Genossen, die sich der Mainstreamhysterie nicht beugen. In ungezählten Gesprächen, die wir seither mit Gleichgesinnten geführt haben, zeichnen sich zwei Meinungslinien ab.

  1. Da die internationale Lage offensichtlich noch wesentlich gefährlicher sei als ohnehin schon angenommen, so eine Meinungslinie, die bei weitem nicht vorherrschend ist, sei der russischen Führung nur der jetzt beschrittene Weg übriggeblieben, der zwar völkerrechtswidrig ist, aber unumgänglich gewesen sei. Die unter fadenscheiniger Begründung verweigerte Zusage von USA und NATO, die Ukraine nicht in das aggressive, transatlantische Bündnis aufzunehmen, sei wohl für Russland gleichbedeutend mit der Annahme gewesen, dass ein solcher Schritt in absehbarer Zeit geplant sei und danach die Dinge ungebremst ihren Lauf nehmen würden.
  2. Sehr häufig ist folgendes Herangehen: Wer einen äußerst unpopulären, völkerrechtswidrigen Angriff durchführt, wird das in der Absicht tun, dass die Lage danach günstiger sein wird als zuvor. Im konkreten Falle hieße das, dass durch die Anwendung militärischer Mittel politische Ergebnisse erzielt würden, die den Sicherheitsinteressen Russlands besser entsprechen, als das vor dem 24.02.2022 der Fall war. Zurückhaltend formuliert: Damit ist nicht zu rechnen; eher mit dem Gegenteil. Wenn aber das Gegenteil von dem eintritt, was beabsichtigt war, so muss es vorab eklatante Fehlurteile gegeben haben. Das ist ein absolutes Dilemma, für das es zumindest keine einfachen Antworten gibt.

Die entstandene Situation ist viel zu widersprüchlich, als dass wir erwarten könnten, dass es nicht entsprechende Meinungsverschiedenheiten auch in der KPF gäbe und durchaus auch Differenzen, zum Beispiel zu Putins Aussagen zur Geschichte. Man muss wirklich kein Verständnis dafür aufbringen, wenn Putin im Zusammenhang mit Lenin und seiner Nationalitätenpolitik von »abscheulichen, utopischen Phantasien« spricht, »die von der Revolution inspiriert wurden, aber absolut zerstörerisch für jedes normale Land sind«. Es ist nicht die einzige Aussage Putins, mit der sich Kommunistinnen und Kommunisten nicht identifizieren können.

Auch mit solchen Widersprüchen müssen wir zurechtkommen und uns gleichzeitig gegen die unerträgliche Hetze stellen, deren Kern darin besteht, Russland zum Alleinverantwortlichen für die entstandene Lage zu machen und die NATO zu einem die Demokratie verteidigenden Bündnis, die schon deshalb niemals Russland angreifen würde, weil dies einen Nuklearkonflikt hervorriefe, den ja niemand wolle. Warum die NATO mittlerweile einen Cordon sanitaire um Russlands und Belarus gezogen hat, ist in den Augen dieser Pseudostrategen nicht weiter zu hinterfragen.[1]

Diese Sichtweise greift auch in unserer Partei um sich. Man sei nach wie vor nicht für die NATO, aber in Anbetracht der jüngsten Entwicklungen könne man doch nicht bei den alten Mustern bleiben, müsse mit einem Maßstab messen und dürfe jetzt nicht weiter über die Ursachen für das Verhalten Russlands sprechen, sondern müsse dessen völkerrechtswidriges Verhalten verurteilen, ohne Russland weiter als Opfer zu sehen. Gegen dieses Herangehen stellt sich die gemeinsame Erklärung von Sahra Wagenknecht, Sevim Dağdelen, Sören Pellmann, Andrej Hunko, Żaklin Nastić, Klaus Ernst und Christian Leye vom 27. Februar 2022 zur Abstimmung über den Ukraine-Antrag von SPD/CDU/CSU, Bündnis 90/DIE GRÜNEN und FDP. Dafür danken wir den Genossinnen und Genossen und tragen diese Erklärung solidarisch mit.[2]

Wie wir bereits in unserem Sprecherratsbeschluss vom 24.02.2022 feststellten, lehnen auch wir die Sicht nach wie vor ohne Wenn und Aber ab, den US-Imperialismus und seine Vorfeldorganisation NATO von der Tatsache freizusprechen, die entscheidende Verantwortung für die sich seit 1990 entwickelnden, immer gefährlicher werdenden weltpolitischen Entwicklungen zu tragen.

In dieser Erklärung des Sprecherrates heißt es auch:

»Einig sind wir uns auch in der Befürchtung, dass die aktuelle Lage für einen Generalangriff auf die friedenspolitischen Prinzipien unseres Parteiprogramms instrumentalisiert werden wird. Er hat bereits begonnen. All diejenigen in der Partei, die sich gegen das Prinzip der Äquidistanz stellen, wird man als Menschen hinstellen, die an alten Denkweisen festhalten und die neuen Entwicklungen nicht begreifen. Die Kommunistinnen und Kommunisten werden sich diesem Druck nicht beugen. In diesem Sinne bereitet sich die KPF auf ihre Bundeskonferenz am 30. April 2022 und den Juni-Parteitag vor.«

In den Wochen bis zum Juni-Parteitag ist es unsere vorrangige Aufgabe, alles zu tun, um den laufenden Angriff auf die friedenspolitischen Grundsätze unseres Parteiprogramms zu stoppen oder doch zumindest zu erschweren. Zugleich dürfen wir die allseits um sich greifende Russophobie nicht widerstandslos hinnehmen.

Wir haben nicht vergessen, wer auch die Deutschen von der faschistischen Barbarei unter den größten Opfern befreit hat. In der Bundesrepublik Deutschland spielte diese historisch großartige Tat noch nie eine Rolle. Für beides – die Abwehr der Angriffe auf unser Parteiprogramm und den Kampf gegen die Russophobie – bedarf es einer klugen Bündnispolitik, die sehr schwer werden wird, weil der Druck auf alle, die sich dem Mainstream nicht beugen wollen, immens ist. Und wenn führende Genossen und Genossinnen der LINKEN von einer Zeitenwende sprechen, von der ausgehend alles auf den Prüfstand müsse, nicht zuletzt unsere Haltung zur NATO, so wissen wir, was gemeint ist. Zudem ist damit zu rechnen, dass Repressionen im Innern gegen all diejenigen zunehmen werden, die die gegenwärtige Russlandhetze nicht vollauf mitmachen. Das eklatanteste Beispiel hierfür ist der Umgang mit Gerhard Schröder. Seine bürgerliche Hinrichtung ist ein Warnsignal der Regierenden und der bürgerlichen Medien an alle, die von den antirussischen Normen abweichen.

Die Repression im Innern wird auch deshalb zunehmen, weil die Sanktionen auch diejenigen Länder treffen werden, die sie verhängten, und weil die immensen geplanten Rüstungsausgaben für die Bundeswehr bezahlt werden müssen, mit noch nicht vorstellbaren sozialen, bildungspolitischen und kulturellen Folgen. Die werden nicht die Wohlhabenden treffen, sondern die sozial Benachteiligten und den noch unter den Pandemiefolgen ächzenden Mittelstand. Weitere Rechtsentwicklungen sind programmiert.

Natürlich macht sich Sorge breit, dass es unsere Partei zerreißen könnte. Zu Recht. Die KPF z.B. würde die LINKE auf dem Weg, den Bündnis 90/DIE GRÜNEN seit 1998 gegangen sind, nicht begleiten. Gibt es einen Ausweg? Ja. Die Parteiführung sollte schnellstmöglich erklären, dass sie in dieser überhitzten Situation keine Programmfragen stellen wird, weder direkt noch indirekt. Allerdings können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass genau das Gegenteil angestrebt wird und die Lage genutzt werden soll, das durchzudrücken, was schon seit dem Magdeburger Parteitag von 1996 durchgesetzt werden soll, bisher aber nicht gelang. Dafür steht exemplarisch der Artikel von Susanne Hennig-Wellsow »Wir müssen reden«[3]. Die Kommunistische Plattform wird auch unter den sehr erschwerten Bedingungen für den Erhalt der friedenspolitischen Grundsätze unserer Partei eintreten.

 


[1] Siehe hierzu auch die Auszüge aus Zbigniew Brzeziński: »Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft.« (1997), die Ukraine betreffend, im Heft 4/2014 der Mitteilungen der KPF,
kpf.die-linke.de/mitteilungen/detail/die-einzige-weltmacht-amerikas-strategie-der-vorherrschaft/

[2] Siehe www.sahra-wagenknecht.de/de/article/3154/

[3] Siehe www.susannehennig.de/nc/aktuell/detail/news/wir-muessen-reden/