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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Zum Ergebnis der Parlamentswahlen in Venezuela

Gerhard Mertschenk, Berlin

 

Seit mit dem Wahlsieg von Hugo Chávez 1998 ein Linksruck in Lateinamerika eingeleitet wurde, in dessen Verlauf in etlichen Ländern eine Links- bzw. Mitte-Links-Regierung die Führung übernahm, und es allgemein hieß, die Zeit der bewaffneten Revolutionen sei vorbei, jetzt werden die Revolutionen durch Bildung und Wahlen gemacht, wurde auch immer auf die Kehrseite der Medaille verwiesen: Wer gewählt wird, kann auch wieder abgewählt werden. Es war auch zu erwarten, dass die Rechte dieser Entwicklung nicht tatenlos zusehen würde. Auch sie hat sich der neuen Situation angepasst, setzt nicht mehr auf einen Putsch zur Durchsetzung ihrer Ziele, sondern auf »demokratische« Formen, um ihr genehme Regierungen zu installieren. Ausprobiert wurde das bereits 2012 in Paraguay mit dem institutionellen Putsch gegen den Präsidenten Lugo.

Jetzt in Venezuela griff man auf Methoden zurück, die bereits gegen die Allende-Regierung in Chile angewandt wurden: ein Wirtschaftskrieg, um durch Versorgungsmängel Unzufriedenheit zu produzieren und die Regierung zu destabilisieren. Und dieses Mal behielten die Umfragen Recht, es ist eingetreten, was sie vorhergesagt hatten und von der Linken in aller Welt befürchtet wurde:

Das oppositionelle Bündnis »Tisch der Demokratischen Einheit« (MUD) aus rund 20 Parteien erreichte bei den Parlamentswahlen 109 Sitze, während der »Große Patriotische Pol« (GPP) des Regierungslagers, dem u.a. die PSUV (Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas) und die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV) 55 Sitze errang. Dazu kommen 3 Sitze für die indigenen Vertreter, die zwar von der Opposition unterstützt wurden, aber wo nicht sicher ist, ob sie immer mit dem MUD stimmen werden (Abb.).

Erwähnenswert ist die für Parlamentswahlen gerade im Vergleich zu den Präsidentschaftswahlen diesmal recht hohe Wahlbeteiligung von 74,17 Prozent. Sie lag damit auch über der bei den Parlamentswahlen 2010, wo sie 66,45 Prozent betrug. Bisher war es bei den Wahlen seit 1999 immer so, dass es immer dann eine deutliche Mehrheit für das Chávez-Lager gab, wenn eine hohe Wahlbeteiligung zu verzeichnen war. Auch diese Regel scheint nun unterbrochen zu sein.

Dass sich der Stimmenanteil nicht genauso im Anteil an den Parlamentssitzen widerspiegelt, ist im venezolanischen Wahlsystem begründet, das den dünn besiedelten Regionen eine stärkere Vertretung im Parlament zusichert. Ein Punkt, der zuvor von der Opposition bemängelt wurde, weil sie vor allem in den dicht besiedelten urbanen Gebieten ihre Hochburgen hatte, was dann in der parlamentarischen Vertretung nicht so zum Tragen kam, jetzt allerdings nicht bemängelt wurde. Im Vorfeld der Wahlen hatte die Opposition das Wahlverfahren generell als unzuverlässig bezeichnet und weigerte sich bis zuletzt, sich einem von allen anderen Parteien unterzeichneten Abkommen anzuschließen, mit dem erklärt wurde, das vom Wahlrat bekanntgegebene Wahlergebnis anzuerkennen und auf gewaltsame Proteste dagegen zu verzichten. Mit einem Mal, wo die Opposition die Wahlen gewonnen hat, ist das Wahlsystem sicher, transparent, unabhängig und gerecht, was zuvor bestritten worden war. Wie die Zahlen zeigen, haben beide Lager ihre Anhänger mobilisieren können, zur Wahl zu gehen. Der Opposition gelang das, obwohl sie keine sehr auffällige massive Wahlkampagne betrieb, sondern vielmehr einfach auf die Unzufriedenheit der Bevölkerung setzte – was sich als zutreffend herausstellen sollte – und ansonsten mehr auf internationalem Parkett tätig war.

Im Vergleich zu früher konnte das Regierungslager dagegen nur in geringerem Umfang die Volksmassen auf die Straße bringen. Offensichtlich nicht nur wegen der Wirtschaftskrise und der Versorgungsmängel, sondern wohl auch wegen eines Vertrauensschwundes in die Regierung, die immer viel ankündigte, aber kaum etwas umsetzte, außer der Schließung und strengen Kontrolle der Grenze zu Kolumbien, um den verheerenden Schmuggel von Benzin und anderen subventionierten Waren zu unterbinden. Das klärte zwar die Situation in den grenznahen Bereichen, wirkte sich aber kaum auf die weiter entfernt liegenden und entscheidenden urbanen Zentren aus. Auch gegen die Korruption in den eigenen Reihen wurde nicht entschieden genug vorgegangen.

Entscheidung gegen die Revolution oder Protestwahl?

Das alles spiegelt sich im Wahlergebnis wider, obwohl die Opposition kein konkretes Programm vorgelegt hatte, nur schwammig davon redete, dass Änderungen herbeigeführt und die Wirtschaft wieder angekurbelt werden müssten, und etliche der führenden Oppositionspolitiker bekannte Köpfe sind, die für das neoliberale Modell der gescheiterten sogenannten IV. Republik (1958–1999) stehen, zu der eigentlich keiner so richtig zurück will. Einflussreiche Politiker der Opposition wie der Chávez und Maduro bei Wahlen unterlegene Henrique Capriles Radonski sicherten sogar zu, die sozialen Errungenschaften nicht anzutasten, aber besser zu verwalten. Damit sollten die misstrauischen Volksmassen beschwichtigt und schwankende Wähler beruhigt werden.

Die andauernde Krise mit ihren Versorgungsmängeln und dem dadurch verursachten Schlangestehen, mit der Spekulation aufgrund der unterschiedlichen offiziellen Wechselkurse – ganz zu schweigen vom Schwarzmarktkurs – und der dadurch ausgelösten galoppierenden Inflation ging wohl vielen dann doch so auf die Nerven, dass sie für einen Wechsel stimmten in der Hoffnung, die anderen werden es besser machen. Damit hatte der von den Unternehmerkreisen geführte Wirtschaftskrieg sein Ziel erreicht. Der Sieg der Opposition sollte allerdings nicht unbedingt als Entscheidung gegen die bolivarische Revolution, gegen das chavistische System gewertet werden, sondern eher als Protestwahl zur Abstrafung der Regierungsführung in den letzten beiden Jahren.

Die Opposition verfügt jetzt im Parlament über alle von der Verfassung vorgesehen unterschiedlichen Quoren:

  • Mit der einfachen Mehrheit können u.a. Gesetze blockiert, den Gemeinden und Bundesstaaten Befugnisse übertragen und Initiativen für eine Verfassungsreform ergriffen werden.
  • Mit der 3/5-Mehrheit (100 Abgeordnete) können Misstrauensanträge gegen Minister und den Vizepräsidenten gestellt und entschieden werden. Mit dieser Mehrheit können dem Präsidenten gewisse Vollmachten erteilt bzw. verweigert werden.
  • Mit der 2/3-Mehrheit (111 Abgeordnete) können unter anderem die Mitglieder des Obersten Gerichts und des Nationalen Wahlrats berufen werden. Außerdem besteht die Möglichkeit, eine Verfassunggebende Versammlung zur Änderung der Verfassung einzuberufen.

Der Präsident kann nicht vom Parlament abgesetzt werden. Das kann nur durch ein Abwahlreferendum erfolgen, das gemäß der Verfassung ab April 2016 gegen Maduro eingeleitet werden könnte. Die Frage ist, ob die Opposition das gleich tun wird oder erst noch die 2016 anstehenden Gouverneurs- und Bürgermeisterwahlen abwartet, um ein sicheres Stimmungsbarometer zu haben. Denn auch sie weiß, dass nicht alle für den MUD abgegebenen Stimmen ihm galten, sondern eher gegen die gegenwärtige Regierungstätigkeit gerichtet waren. Zudem sieht sich die oppositionelle parlamentarische Mehrheit weiterhin einem chavistischen Präsidenten, einer chavistischen Regierung, und einer großen Mehrheit von chavistischen Gouverneuren und Bürgermeistern in den Bundesstaaten gegenüber. Es wird voraussichtlich zu einem längeren Konflikt zwischen der Exekutiven und der Legislativen kommen, in dem der Judikativen, insbesondere dem Obersten Gerichtshof, eine entscheidende Rolle zukommen wird. Die Frage ist, ob die Opposition mit ihrer Mehrheit im Parlament verantwortungsvoll umgeht oder einen totalen Konfrontationskurs steuern wird.

Die nächsten Wochen und Monate werden spannend sein. Zum einen wird es innerhalb des MUD zu Auseinandersetzungen zwischen dem gemäßigten Flügel unter Henrique Capriles Radonski und dem radikalen Flügel unter Leuten wie Leopoldo López und María Corina Machado über den zu verfolgenden Kurs kommen. Momentan sehen die Radikalen, die eine schnelle Beseitigung des Chavismus anstreben, Wasser auf ihre Mühlen strömen.

Zum anderen ist die Frage, wie schnell mit lediglich der neuen Parlamentsmehrheit die Versorgungslage verbessert werden kann, die augenscheinlich Ursache für die Wechselwahl war. Die Wähler haben in der Erwartung entschieden, damit eine Verbesserung ihrer Situation zu erlangen. Wenn die versteckten und gehorteten Waren nun auf den Markt kommen sollten, hätte die Regierung Recht gehabt mit ihrem Vorwurf einer künstlichen Verknappung aus politischen Gründen. Andererseits kann die rechte Mehrheit im Parlament die Erdölpreise auf dem Weltmarkt nicht steigen lassen, um mehr Einnahmen für eine Stärkung der Währung zu haben. Denn es ist auch nicht klar, gegen wen die niedrigen Erdölpreise gerichtet sind: gegen Russland mit Venezuela als willkommenem Nebenopfer, gegen diese beiden Länder oder gegen die Frackingtechnologie in den USA, durch die Saudi-Arabien seine Vormachtstellung gefährdet sieht. Eine unklare Gemengelage, die nicht erwarten lässt, dass nur wegen des Sieges der Opposition in Venezuela die Erdölpreise anziehen.

Eine Anpassung in Form einer drastischen Abwertung des Bolívar hätte verheerende soziale Folgen, die der Erwartungshaltung der Massen völlig widersprechen würden. Die Versorgungslage ist der Knackpunkt, denn ansonsten funktionieren alle öffentlichen Dienstleistungen von der Müllabfuhr bis zum Personennahverkehr reibungslos, in den von Chavisten verwalteten Gemeinden oftmals sogar besser als in Gemeinden mit einem konservativen Bürgermeister.

Die Unternehmer haben über ihren Verband bereits ihre Forderungen vorgebracht: Rücknahme des Gesetzes zur Preiskontrolle für Waren des Grundbedarfs und bei öffentlichen Dienstleistungen; Rücknahme des neuen Arbeitsgesetzes, mit dem die Rechte der Werktätigen (40 Stundenwoche, größerer Kündigungsschutz) gestärkt worden waren; Aufhebung der Devisenbewirtschaftung durch den Staat; Senkung der zu hohen »sozialen Investitionen« im Staatshaushalt. Zur Versüßung der bitteren Pille solle der sehr harte Anpassungsplan mit Sozialprogrammen abgefedert werden.

Die Großgrundbesitzer verlangen eine Novellierung des Landgesetzes, das den Großgrundbesitz einschränkt, zur produktiven Nutzung des Bodens verpflichtet und bei Nichtnutzung Enteignung und Übereignung an Kleinbauern und Genossenschaften vorsieht. Die vorgenommenen Enteignungen sollen rückgängig gemacht werden. Auch Arbeitsschutzgesetze sollen gelockert werden.

Obwohl einige MUD-Politiker im Wahlkampf versicherten, die Sozialprogramme weiterzuführen, sprachen nach der Wahl andere bereits davon, den sozialen Wohnungsbau in ein Programm für Eigentumswohnungen umzuwandeln. Die Nutzer, denen ein lebenslanges Wohnrecht zugesichert wurde und die nur die Baukosten ohne Verzinsung zurückzahlen müssen, wobei die monatliche Rate 30 Prozent des Haushaltseinkommens nicht übersteigen darf, sollen nun diese Wohnungen mit Krediten zu marktüblichen Zinsen kaufen.

Angesichts dieser Drohungen wurden von der Regierung schon einige Maßnahmen getroffen, um die Beseitigung von sozialen Errungenschaften zu verhindern, zu erschweren bzw. hinauszuschieben. So wurde das Eigentum am Fernsehsender des Parlaments den dort Beschäftigten übertragen. Die Arbeitsschutzgesetze wurden per Dekret auf drei Jahre festgeschrieben. Der Posten der Volksanwältin wurde mit Susana Barreiros besetzt, der Richterin, die den Oppositionspolitiker Leopoldo López wegen Aufwiegelung zur Gewalt zu fast 14 Jahren Gefängnis verurteilt hatte. Es ist davon auszugehen, dass das Parlament in seiner bisherigen Zusammensetzung in der verbleibenden Zeit bis zum 5. Januar noch weitere Gesetze beschließen wird, um soziale Errungenschaften der Bolivarischen Revolution zu retten. Dabei kann mit tatkräftiger Unterstützung der chavistischen Basisorganisationen gerechnet werden, die in Form von Kommunalen Räten auf verschiedenen Ebenen von den offiziellen Regierungsinstitutionen unabhängige und gut funktionierende Selbstverwaltungsstrukturen aufgebaut haben. Falls die Opposition diese beseitigen will, wird sie auf heftigen Widerstand stoßen.

Keine Resignation – die Solidarität verstärken!

Die Niederlage in den Parlamentswahlen muss dazu dienen, aufzuwachen, sich zu erneuern, Fehler und Irrtümer zu erkennen, sie auszuräumen und die Arbeit weiterzuführen, um den Chavismus als System in Venezuela zu erhalten.

Die Ereignisse in Venezuela haben natürlich auch Auswirkungen auf die Region und darüber hinaus. Da eine Losung der Opposition immer gewesen ist, die Erdöllieferungen an Kuba zu beenden (das Erdöl werde verschenkt), ist damit zu rechnen, dass vom neuen Parlament entsprechende Initiativen ausgehen werden, die bestehenden Lieferverträge aufzukündigen. Venezuela ist darüber hinaus der wichtigste Handelspartner Kubas. Ein Zurückfahren dieser Wirtschaftsbeziehungen wäre ein harter Schlag für Kuba, was die Forderung nach Aufhebung der USA-Blockade noch dringlicher macht.

Auch das PetroCaribe-Bündnis ist gefährdet, mit dem 18 Länder der Karibik und Mittelamerikas venezolanisches Erdöl zu Vorzugsbedingungen erhalten. Damit würden die Chancen steigen, dass die USA ihr Energiekonzept in diesem Raum durchsetzen, das sie den mittelamerikanischen und karibischen Ländern im Vorfeld des OAS-Gipfels in Panama schmackhaft gemacht haben.

Ebenso wird sich das neue Kräfteverhältnis in Venezuela auf die weitere Entwicklung und Integration der ALBA-Staaten auswirken. Dort wird es wahrscheinlich zu einer größeren Gewichtung der Rolle von Bolivien und Ecuador kommen, die inzwischen eine solche Entwicklung genommen haben, um eine verminderte Rollenwahrnehmung durch Venezuela zu kompensieren. Die Integrationsbemühungen insgesamt werden wohl gebremst werden.

In der letzten Zeit sind die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen Venezuelas zu China derart ausgebaut worden, dass jetzt schon mehr Gebrauchsgüter aus China als aus den USA importiert werden. Es bleibt abzuwarten, wie die Opposition mit den langfristigen Erdöllieferungen als Deckung für die chinesischen Kredite umgehen wird – wohl eher pragmatisch und trotzdem die Annäherung an die USA suchen.

Noch ist nicht abzusehen, wie sich die neue Situation auf den gemeinschaftlichen Fernsehsender teleSUR auswirken wird, der der Verwaltungshoheit des südamerikanischen Staatenbundes UNASUR unterliegt. Das hängt nicht nur von Venezuela ab, sondern auch von Argentinien, wo zwei Wochen zuvor ein konservativer Präsident, der neoliberale Unternehmer Mauricio Macri, ins Amt gewählt wurde. 

Dieser hatte gleich nach seiner Wahl angekündigt, Venezuela aus dem Mercosur auszuschließen. Nach den Wahlen in Venezuela hat er davon Abstand genommen. Vielleicht wartet er ab, ob Venezuela nunmehr nicht dazu dienen könnte, fortschrittliche Regungen der anderen Mitgliedsländer zu bremsen. Es ist zu hoffen, dass Boliviens Vollmitgliedschaft im Mercosur schnell verwirklicht wird, um ein Gegengewicht zu haben.

Es ist davon auszugehen, dass es keine schnellen Auswirkungen auf die CELAC und UNASUR geben wird. Das wird mehr von der Entwicklung in Argentinien, Brasilien, Peru (Präsidentschaftswahlen 2016) und Kolumbien (Friedensprozess) abhängen.

Auf jeden Fall muss der Ausgang der Wahlen in Venezuela eingebettet in die Restaurationsbestrebungen in Lateinamerika gesehen werden, mit denen der Linksruck rückgängig gemacht werden soll (Argentinien: Wahl des neoliberalen Unternehmers Macri zum Präsidenten; Brasilien: Einleitung eines Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff). Die Neuaufstellung der Rechten bedroht die politischen und sozialen Errungenschaften, die ein Ergebnis langer Prozesse von Volkskämpfen sind. Die Verteidigung der Demokratie und der Transformationsprozesse in der Region sind von fundamentaler Bedeutung.

Es war damit zu rechnen, dass die Rechte die Linksentwicklung in Lateinamerika nicht einfach hinnehmen und bei passenden Gelegenheiten zur Gegenoffensive übergehen würde. Dabei werden gnadenlos alle Schwächen genutzt. Eine solche verwundbare Stelle ist die enge Bindung von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen an eine Person wie Chávez in Venezuela, Ehepaar Kirchner-Fernández in Argentinien, Evo Morales in Bolivien, Rafael Correa in Ecuador, auf die alle verfügbaren Gegenkräfte zur persönlichen Diffamierung angesetzt werden.

Die Rechte tut alles, um nicht mehr dem Bild des putschenden Dinosauriers zu entsprechen, mit dem die Rechte der Vergangenheit assoziiert wird, eines Totengräbers sozialer Errungenschaften. Sie präsentiert sich lächelnd und sympathisch in Gruppierungen mit attraktiven Namen, sich ausdrücklich positiv auf einige Transformationen der fortschrittlichen Regierungen beziehend. Ein Wolf, der Kreide gefressen hat.

Ein Phänomen verdient dabei besondere Beachtung und bedarf einer gründlichen Analyse: die sogenannte neue Mittelschicht. Es ist ein schwammiger Begriff, der sich jeder klassenmäßigen Einschätzung entzieht. Dazu gehören die Menschen, die dank der sozialpolitischen Maßnahmen (in Venezuela die »Missionen«, in Brasilien das Null-Hunger-Programm) aus der Armut geholt wurden und jetzt besser leben, vergessen, woher sie gekommen sind, noch besser leben wollen, selbst auf Kosten der Menschen, die noch in der Armut verblieben sind, und dann mit der Regierung unzufrieden sind, die sich erst noch um die verbliebenen Armen kümmert, bevor sie sich der neuen Mittelschicht widmet. Es ist ein fataler Irrtum zu glauben, dass diese Mittelschicht aus purer Dankbarkeit die Kräfte wiederwählt, denen sie ihren Aufstieg zu verdanken hat. Hier tut sich ein weites und interessantes Feld für Soziologen und Politiker auf.

Die gegenwärtigen Rückschläge in Argentinien und Venezuela sollten auf keinen Fall Anlass zur Resignation, sondern vielmehr Anreiz sein, die Solidarität mit den fortschrittlichen Kräften zu verstärken, sie allseitig zu unterstützen, damit sich solche Rückschläge möglichst nicht wiederholen. Die viel beschworene »kritische Solidarität« sollte vor allem in selbstkritischer Einschätzung bestehen, was von der Linken hierzulande versäumt wurde, um die antineoliberalen Prozesse in Venezuela und Lateinamerika zu stärken, warum es ihr nicht gelungen ist, hier ein antineoliberales Bewusstsein in der Bevölkerung herbeizuführen, das sich in Wahlergebnissen niederschlägt. Man sollte sich davor hüten, aus der saturierten westlichen sogenannten »Ersten Welt« her mit eurozentristischem Blickwinkel besserwisserisch Ratschläge erteilen zu wollen, anstatt aus den Prozessen dort zu lernen.

17. Dezember 2015

 

Mehr von Gerhard Mertschenk in den »Mitteilungen«: 

2011-08: Offener Brief an das Museum des Gedenkens und der Menschenrechte, Matucana 501, Santiago de Chile

2010-10: Chile – ein immerwährendes Fanal

2009-08: rbb, Honduras und das Recht auf Information

2007-07: Bürgerradios in Venezuela