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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Werteimperialismus

Moritz Hieronymi, Frankfurt/Oder

 

Diskussionsrede auf der Bundeskonferenz der KPF am 26. November 2022

 

Liebe Genossinnen und Genossen, seit unserer letzten Zusammenkunft haben sich globale Konflikte gravierend zugespitzt. In der Fülle an Informationen und Fehlinformationen wird es zusehends schwieriger, sich ein klares Bild von der Lage zu verschaffen. Analysen von Geschehnissen werden immer häufiger zu Drahtseilakten. Zuweilen läuft man Gefahr, ein­fache Schlussfolgerungen zu ziehen oder in Äquidistanzen abzudriften.

Was wir momentan erleben, ist eine tiefgreifende systemische Krise, für deren Lösung sich die internationale Gemeinschaft als zusehends weniger fähig erweist. Wir erleben den Zusammenbruch internationaler Strukturen und Institutionen in einer rasanten Geschwin­digkeit. Selbst heilige Kühe wie die Welthandelsorganisation (kurz: WTO) landen auf der Schlachtbank. Erstmalig in ihrer Geschichte können Handelsstreitigkeiten zwischen WTO-Mitgliedern nicht aufgelöst werden, weil keine Mitglieder des Entscheidungsorgans Appel­late Body im Amt sind. Die USA haben seit 2016 die Neu- und Wiederwahl dieser Stellen verhindert und somit das Welthandelssystem ausgeschaltet. [1] Angesichts der Vielzahl neuer Handelsvorgaben der USA und EU, die sich mehrheitlich gegen China richten, hatten die westlichen Staaten ein Interesse daran, dass der Volksrepublik der Rechtsweg ver­wehrt wird. – Und da meinen wir ernsthaft noch darüber philosophieren zu müssen, ob man von Wirtschaftskrieg sprechen darf? – Was ist das denn sonst!

Die Weltordnung soll neu definiert werden. Das Spannungsverhältnis besteht zwischen US- Unilateralität und Multilateralismus. Es geht um die Vorherrschaft des Alten gegen den Aufstieg der Entwicklungsländer, insbesondere Chinas, aber auch Indiens und Brasiliens. Der Aufstieg einer neuen Macht, die den Hegemonen schrittweise verdrängt, führt zum Krieg – zu beschrieb es Thukydides in seinem Der Peloponnesische Krieg. Was die Thuky­dides-Falle praktisch bedeutet, erleben wir tagtäglich: Allein in dieser Woche wurde eine Studie veröffentlicht, die feststellte, dass die internationale Bedeutung US-amerikanischer Universitäten stark rückläufig ist. Nicht die US-Universitäten sind schlechter geworden, sondern die Forschungsarbeit chinesischer Hochschulen hat erheblich an Qualität gewon­nen. [2] – So wird schrittweise die Dominanz der USA in unterschiedlichen Bereichen ver­drängt, mit der Folge, dass sie unausweichlich in die Defensive geraten. – Kann ein solcher Druck zu militärischem Gegendruck führen?

»Könnte Amerika einen Weltkrieg gewinnen? – Was braucht es, China und Russland zu besiegen?« überschrieb der ehemalige stellvertretende Staatssekretär für politische Planung im US-Verteidigungsministerium, Thomas Mahnken, einen Aufsatz, der Ende Okto­ber erschien. Mahnken beschreibt darin den Verlauf eines möglichen Doppelkrieges der USA gegen China und Russland. Erschreckend offenherzig erklärt er darin, wie sich das Operationsfeld von einem Seekrieg, der in der Straße von Taiwan beginne, hin zum Land­krieg, der sich dann über weite Teile Asiens und Afrikas ausdehne, verändern könnte. Besonders aufmerksam liest man da die Einlassungen über Russland:

Obwohl der Krieg in der Ukraine eine große Unterstützung durch die USA erfordert hat, hat er die Grenzen der russischen Militärmacht sowie die Wirksamkeit der konzertierten NATO-Aktionen aufgezeigt. Je länger der Krieg andauert, desto mehr wird Russlands konventionelles Militär in einer Weise geschwächt, die Moskau nicht so schnell wieder ausgleichen kann. [3]

Ein geschwächtes Russland ist demnach ein taktischer Vorteil für die USA in einem Kon­flikt mit China.

Liebe Genossen, imperiale Staaten führen Kriege, um sich zu erhalten. Dabei legitimieren sie ihren Krieg mit höheren Zielen. Vor über 2.000 Jahren diskutierte Cicero über den gerechten Imperialismus. »Die Knechtschaft im gerechten Imperialismus sollte so sein, dass sie den Geknechteten nützt«. [4] Heute beobachten wir den Machterhalt des Westens unter den Vorzeichen einer regelbasierten internationalen Ordnung.

Aber was ist das? Es gibt keinen einzigen völkerrechtlichen Vertrag, in dem der Begriff »regelbasiert« auftaucht. Es gibt keine Erklärung des Westens, was damit gemeint ist. Nur bruchstückhaft lassen sich Elemente finden; aber all das ist nicht kohärent oder systema­tisch. Der Versuch einer Definition begrenzt sich auf offen und rechtsstaatlich. Ein anderes Schlagwort des Westens: Der Kampf gegen Autoritarismus – genau dasselbe. Wertebasier­te Außenpolitik ist unbestimmbar. Alles Begriffe, die keine internationale Anerkennung genießen. Aber sie zeichnen sich allesamt dadurch aus, dass es jemanden gibt, in persona den Westen, der diese flexibel festschreibt, exekutiert und nach diesen richtet.

Unter Berücksichtigung der eben dargestellten Militärüberlegungen Mahnkens mit denen der regelbasierten Ordnung darf der souveräne Staat, d.h. im Wesentlichen die freie Wahl des politischen Systems, keinen Platz haben. Oder in der Sprache von Carl Schmitt [5], es geht um Großräume. Die Ordnung der Großräume verlangt die Revision des Westfälischen Friedens, auf dessen Grundlage erstmalig staatliche Souveränität gewährleistet wurde. Bereits beim sogenannten Krieg gegen den Terror konnte festgestellt werden, dass dieser entgrenzt geführt wurde: So wurden die meisten Drohnenangriffe im Jemen oder in afrika­nischen Staaten geflogen, ohne dass diese Staaten dem zugestimmt hätten oder sich im Krieg mit den USA befunden haben. – Die Staatlichkeit – d.h. Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt – spielten in den Überlegungen der USA keine Rolle.

Also kommen wir zu Schmitt zurück, »Der große weltpolitische Gegenspieler des Groß­raums ist nicht […] der Kleinraum, sondern der Herrschaftsanspruch einer raumaufheben­den, universalistischen Weltmacht. […] Ein Bündnis mit der Kleinräumigkeit vieler Klein- und Mittelstaaten […].« [6]

Liebe Genossen, wir leben in historisch bedeutsamen Zeiten. Rutschen wir nicht in die eine Katastrophe, so lauert die andere schon hinter der Ecke. In einer solchen Zeit ist es wich­tig, klug zu agieren. Die LINKE hat bis heute nicht für Krieg gestimmt. Bei der Afghanistan-Entscheidung hat sie falsch agiert, aber sie hat nicht dafür gestimmt. Es sei aber daran erinnert, wer statt Nein mit Enthaltung stimmte. Zugleich befinden wir uns in einer schwe­ren Krise: Wir haben eine Parteiführung, die nicht den Eindruck erweckt, den Anforderun­gen der Zeit in irgendeiner Weise gewachsen zu sein. Trotzdem bin ich für den Erhalt dieser Organisation. Eine Spaltung wäre mit großer Wahrscheinlichkeit das Ende für beide Seiten. Das würde einen entscheidenden Zwischensieg für alle rechten Kräfte in diesem Land bedeuten. Es würde mit sich bringen, dass es keine ernstzunehmende Parlamentsopposi­tion mehr gäbe; keine, wenn auch leise, Gegenöffentlichkeit. Keine hörbaren Überlegungen zur Systemalternative. Und keinen Akteur, der dem Geschichtsrevisionismus entgegentre­ten würde. Es gibt viele Gelegenheiten, falsche Entscheidungen zu treffen, aber nur wenige für Richtige.

(Nachträglich um die Fußnoten ergänztes Redemanuskript)

 

Anmerkungen:

[1]  Lester, Ending the WTO Dispute Settlement Crisis: Where to from here?, IISD, 2.3.22, https://www.iisd.org/articles/united-states-must-propose-solutions-end-wto-dispute-settlement-crisis [11.11.22].

[2]  Zhang, Chinese scientists’ academic influence continues to rise as US researchers’ impact declines, SCMP, 23.11.22.

[3]  Mahnken, Could America Win a New World War?, Foreign Affairs Online, 27.10.2022, https://www.foreignaffairs.com/print/node/1129433 [28.10.2022].

[4]  Rößler, De re publica, 2000-1, https://www.gottwein.de/Lat/cic_rep/ref05_kompos01.php [20.11.22].

[5]  Mehr über den Nazi-Juristen Carl Schmitt in Bodo Hinkels Bericht an die KPF-Bundeskonferenz am 26. November 2022, siehe Mitteilungen, Heft 12/2022, S. 11. – Red.

[6]  Schmitt, Die Raumrevolution – Durch den totalen Krieg zu einem totalen Frieden (1940), in: Schmitt, Staat, Großraum, Nomos, S. 388-394, S. 390.

 

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2022-12: Die Europäische Union – nicht Europa

2022-09: Taiwan, China und die UNO

2022-07: Die anderen Menschenrechte