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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die anderen Menschenrechte

Moritz Hieronymi, Brandenburg an der Havel

 

»Die Leugnung des Wahlrechts oder der Meinungsfreiheit […] wird lautstark und richtigerweise von der internationalen Gemeinschaft verurteilt. Dagegen werden allzu häufig tiefgreifende Formen der Diskriminierung in den ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechten von Frauen, Menschen mit Behinderung, Älteren oder benachteiligter Gruppen als bedauernswerte Realitäten toleriert.«

UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, 1993 [1]

 

Der Aufsatz »Autoritäres Völkerrecht?« [2] des Chicagoer Rechtsprofessors Tom Ginsburg wird zu einem der spektakulärsten im völkerrechtlichen Schrifttum des Jahres 2020. Erstmalig soll es einem Juristen gelungen sein, strukturelle Veränderungen im völkerrechtlichen Diskurs aufgrund des Anwachsens autokratischer Regime festgestellt zu haben.

Anhand statistischer Auswertungen von Gerichtsurteilen, bi- und multilateraler Verträge und dem Agieren von Staaten in internationalen Organisationen möchte Ginsburg beweisen, dass das Völkerrecht zusehends von Werten und Idealen durchdrungen wird, die der »demokratischen« Welt entgegenstehen. Hierbei zählen Debatten um Menschenrechte als besonders umkämpft. So vertritt Ginsburg die Auffassung, dass liberale Demokratien dazu neigen, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie das Wahlrecht zu fördern, während Autokratien kollektive Rechte bzw. Rechte mit allgemein gesellschaftlichem Nutzen bevorzugen. [3] Welche Rechte jedoch einen allgemein gesellschaftlichen Nutzen haben, lässt der Professor offen.

Ginsburg vertritt wie viele andere in der westlichen Öffentlichkeit die Ansicht, dass Menschenrechte ausschließlich Individualrechte sind, die sich auf bürgerliche und politische Rechte beschränken. Dabei ist das internationale Menschenrechtsschutzsystem im Wesentlichen durch zwei Ansätze geprägt: zivile und soziale Rechte. Die Unteilbarkeit von Menschenrechten erlaubt es gerade nicht, einzelne Menschenrechte nach Gutdünken zu privilegieren. [4]

Insbesondere die westlichen Staaten, die sich als Hüter von Menschenrechten gerieren, behandeln Sozialrechte abschätzig. Dabei sind in den letzten Jahrzehnten gravierende Leerstellen hinsichtlich des sozialen Schutzes von Menschen entstanden. Diese könnten insbesondere verhängnisvolle Auswirkungen auf die drohende Hungerskatastrophe in Afrika haben.

Wie anfangs zitiert, soziale Menschenrechte sind zu Menschenrechten zweiter Klasse degradiert. Ihre Stellung im internationalen Menschenrechtsschutzsystem offenbart die Doppelzüngigkeit im westlich geprägten Diskurs.

Das Werden sozialer Rechte

Was soziale Menschenrechte sind und wie sich diese von anderen Menschenrechten abgrenzen lassen, ist bereits umstritten. Die meisten Völker- und Menschenrechtler werden wohl darin übereinstimmen, dass durch diesen Typus Bedingungen gewährleistet werden, die für ein würdevolles Leben notwendig sind. [5] Wesentliche Rechte, um ein würdevolles Leben zu erreichen, sind: angemessene Lebensbedingungen, Bildung, Gesundheitsversorgung, Arbeit und der Zugang zu Kunst und Kultur. Dass diese Rechte internationale Berücksichtigung erfuhren, kann mit den Entwicklungen der letzten 100 Jahre erklärt werden.

Nach dem Ende des 1. Weltkrieges lagen die Staaten Europas ökonomisch darnieder. Im früheren Russland der Zaren hatte sich eine politische Macht etabliert, die mit den alten Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Wirtschaftsweise brach. Die sich verschärfende Situation und der Geist der Oktoberrevolution führten in einigen europäischen Staaten zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen.

Die Konferenz von Versailles im Jahr 1919 nahm sich dieser Situation kritisch an und beschloss die Gründung der International Labour Organisation, mit dem Ziel »Ungerechtigkeit, Not und Mangel« zu überwinden. [6] Die Grundlagen einer internationalen Ordnung, die Mindeststandards im Bereich der Arbeitsbedingungen und sozialen Wohlfahrtspflege schaffen sollten, wurden gesetzt.

Da es dem Versailler-System an einem internationalen Durchsetzungssystem mangelte, oblag es den Staaten, die neuen sozialen Mechanismen umzusetzen und durchzuführen. Hierbei übernahm das sowjetische Russland mit seiner Verfassung von 1918 schnell die Vorreiterrolle. [7] Mit der Erklärung der Rechte für die arbeitende und ausgebeutete Bevölkerung setzten die Bolschewiki erstmals rechtsverbindliche Ansprüche und Lebensmindeststandards für Arbeiter und die Bauernschaft fest. Im Jahr 1941 sind es die USA, die nachziehen. Mit der Forderung Freiheit vom Mangel begründete Präsident Roosevelt seine Sozialreformen und mahnte mit Blick auf das faschistische Deutsche Reich: »Menschen ohne Arbeit sind die Grundlage für Diktaturen.« [8]

Mit Gründung der Vereinten Nationen im Jahr 1945 werden die Fehler von Versailles korrigiert. Menschenrechte erhalten nunmehr eine hervorgehobene Stellung und sollen nicht mehr vom Gutdünken der Staaten abhängen. [9] Mit Art. 1 Nr. 3 UN-Charta wird deren Achtung als ein Ziel der UNO definiert. Da sich die Gründungsstaaten in der Phase der Statuierung der UN-Charta nicht auf ein Tableau an Menschenrechten einigen konnten, sollte das Thema vertagt und in einem gesonderten Vertrag geregelt werden.

Am 10. Dezember 1948 beschlossen die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR). Bereits hier zeigte sich, dass die UNO-Staaten ein weitergehendes Verständnis von Menschenrechten verfolgten als es archetypisch in der Virginia Declaration of Rights (1776) oder in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) angelegt war. So wurden mit den Artikeln 22-28 AEMR erstmalig Rechte eingeräumt, die die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Sphäre eines Menschen betreffen.

Trotz dieser progressiven Ansätze enthielten sich die sozialistischen Staaten. Dieses lag zum einen an der Natur der AEMR, die weitestgehend vom bürgerlichen Rechtsdenken beeinflusst war. Zum anderen fehlte es an Rechtsverbindlichkeit, wodurch erneute Verhandlungen über internationale Menschenrechte notwendig wurden. [10]

Diese Verhandlungen endeten 1966 mit dem Beschluss der beiden internationalen Menschenrechtsverträge: Der Internationale Pakt für bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) und der Internationale Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) stellen zusammen die Herzkammern der International Bill of Human Rights dar [11]. Dabei war die Aufspaltung der Menschenrechte in zwei Verträge zu Beginn nicht vorgesehen. [12] Die von den westlichen Staaten dominierten Verhandlungskommissionen begründeten die Trennung mit organisatorischen Widrigkeiten während der Verhandlungen. Tatsächlich lässt sich vermuten, dass eine Trennung aus pragmatischen Gründen erwünscht war. Staaten, die mit den einen oder anderen Rechtstypen haderten, wurde somit die Möglichkeit eröffnet, mindestens einen Vertrag zu unterschreiben. [13]

Die Suche nach sozialen Menschenrechten

Neben der künstlichen Aufspaltung erfuhren soziale und zivile Menschenrechte eine maßgebliche Ungleichbehandlung. Der direkte Vergleich der beiden Menschenrechtspakte ergibt, dass der Zivilpakt verbindliche Menschenrechte statuiert, während durch den Sozialpakt die Vertragsstaaten lediglich angehalten werden: »Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit geeigneten Mittel, […] die volle Verwirklichung […] der Rechte« zu erreichen. [14] Hierdurch wird es den Staaten selbst überlassen, welche Rechte sie in welchem Grad umsetzen. Auch die Formulierung der einzelnen Sozialrechte ist unpräzise. So werden im Sozialpakt keine Rechtsansprüche eingeräumt, sondern Staaten erkennen ausschließlich die Existenz von Sozialrechten an. Die vertragliche Ausgestaltung des Sozialpakts zwingt regelrecht den Eindruck auf, als wollten die Vertragsstaaten sich doppelt absichern, keine Rechtsgarantien abzugeben.

Trotz dieser Unzulänglichkeiten erfolgen in aller Regelmäßigkeit Angriffe auf die sozialen Menschenrechte seitens westlicher Staaten und entsprechender Wissenschaftlicher. Ins­besondere die USA spielen hierbei eine unrühmliche Rolle. In bemerkenswerter Offenheit trugen sie im Jahr 1992 ihre Ablehnung zur Schau, indem sie argumentierten: [15] Der Mensch unterscheidet sich vom Bären nicht in seinen Grundbedürfnissen, – beide müssen essen, trinken und schlafen – sondern durch das menschliche Bewusstsein, den Drang sich ausdrücken zu wollen. Demnach sind es die politischen und bürgerlichen Rechte, welchen Priorität zukommen muss. Dass es dabei weniger um biologische Argumente als um wirtschaftliche ging, verhehlten die USA nicht: So seien es – aus der US-Sicht – gerade die zivilen Rechte, die ökonomischen Wohlstand erzeugten. Am besten könne dieses an den Entwicklungen zwischen West- und Ostdeutschland oder Süd- und Nordkorea gesehen werden. [16]

Auch Deutschland verhält sich wenig vorbildlich. So rügte der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte die gesellschaftlichen Entwicklungen in der Bundesrepublik scharf. [17] Es fehlt an der Einklagbarkeit der Rechte aus dem Sozialpakt. Auch hinsichtlich der Umsetzung einzelner Rechte ist Deutschland hinterher: Die Unterschiede zwischen der ökonomischen Situation in Ost- und Westdeutschland sind weiterhin frappierend, Erwerbslose sind faktisch gezwungen, jeden Job anzunehmen, unabhängig ihrer Qualifizierung, das Bildungssystem kann keinen gleichen Zugang garantieren und so weiter. Als besonders verwerflich benennt dieser UN-Staatenbericht, dass Deutschland einer Vielzahl an Empfehlungen mehrfach nicht nachgekommen ist. [18]

Linke Menschenrechts-Betrachtung

Der westliche Umgang mit sozialen Menschenrechten offenbart eine Halbherzigkeit in Bezug auf das internationale Menschenrechtsschutzsystem. Der genannte Bericht konnte nachweisen, dass die westliche »Wertegemeinschaft« ihre Werte nicht aus den sozialen Menschenrechten ableitet. Diese Form der Missachtung hat einen ideologischen Kern, aus dem heraus der Sozialpakt als Fremdkörper verstanden wird.

So betrachtete John Locke Menschenrechte als Abwehrrechte vor willkürlichen Eingriffen durch den Staat. [19] Dieser Abwehrgedanke etablierte in den hochentwickelten kapitalistischen Staaten einen – wahrscheinlich weniger im Sinne Lockes – flexiblen Staats-Skeptizismus. Während die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ausnahmslos staatlich koordiniert werden muss, ist die Wohlfahrtpflege nicht vornehmlich eine öffentliche Aufgabe. [20] Der Staat beschneidet seinen Wirkungsraum, indem Teile der sozialen Organisation privatisiert werden. Mithin verlieren soziale Ansprüche ihre öffentlich-rechtliche Natur und werden zu zivilen Verhältnissen. Die Freiheit vor dem Staat findet sodann nur noch ihre Schranke, wenn die Freiheit eines anderen Individuums verletzt wird. Wobei Freiheit hier eng gefasst wird und sich auf die Ausübung von bürgerlichen und politischen Rechten beschränkt.

Für Karl Marx führt dieses Menschenrechtsverständnis zur Absonderung der Individuen voneinander. [21] So resümiert er, »[Individuelle Freiheit] lässt jeden Menschen im anderen Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit finden.« [22] Der Mensch erfährt somit eine von der Gesellschaft und seinen Mitmenschen losgelöste Existenz. Aus der marxistischen Sicht erfolgt die Entwicklung von Menschenrechten entlang der ökonomischen und kulturellen Entwicklung einer Gesellschaft und ist entgegen der bürgerlichen Meinung nicht etwas natürlich Vorbestimmtes. [23] Hierzu führt der marxistische Diskurs den Begriff der politischen Emanzipation ein. [24] Soziale und ökonomische Veränderungen gehen mit den Veränderungen der Menschenrechte einher. Im Gegensatz zu den Unkenrufen, die Marx und Engels Menschenrechtsfeindlichkeit unterstellen, ist zu resümieren, dass die beiden das undifferenzierte und statische Denken des Bürgertums kritisierten.

Auftrag für einen progressiven Menschenrechtsdiskurs

Das Problem des statischen Denkens sowie die politische Instrumentalisierung des Menschenrechtsdiskurses macht eine Debatte unter Linken dringend notwendig. Ein solcher Menschenrechtsdiskurs muss dabei inhaltlich geführt werden und den momentan moralisierenden Kurs verlassen. Dabei muss festgehalten werden, dass einzelne Menschenrechtsschutzsysteme miteinander teilweise kollidieren oder einzelne Rechte innerhalb der Systeme teilweise miteinander unvereinbar sind.

Ferner sollten Debatten um Menschenrechte dringend die objektiven Bedingungen und Kräfteverhältnisse in jeden einzelnen Staat gesondert berücksichtigen. Der japanische Rechtsprofessor Yasuaki Onuma forderte bereits 1997, die zivilisatorischen Besonderheiten und den Entwicklungsgrad von Staaten zu berücksichtigen, wenn der Stand der Umsetzung von Menschenrechten ermittelt wird. [25] – Das mag zwar nicht in das Bild des bürgerlichen Wohlstandsglaubens passen, und dennoch ist es die Realität in den meisten Staaten dieser Welt. Nur so lässt sich die Schlussfolgerung in der Präambel der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker erklären: »Die Befriedigung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte ist die Voraussetzung, um in den Genuss bürgerlicher und politischer Rechte zu kommen«.

 

Anmerkungen:

[1]  A/CONF.157/PC/62/Add.5, Annex I, paras. 6-7.

[2]  Ginsburg, Authoritarian International Law?, American Journal of International Law, Vol. 2 (2), April 2020, S. 221-260.

[3]  Ebenda, S. 233.

[4]  Vgl. Wiener Erklärung und Aktionsprogramm, A/Conf.157/23, 12.6.1993, Nr. 5.

[5]  CESR, Human Rights FAQs, What are economic, social, and cultural rights?, abrufbar unter: https://www.cesr.org/what-are-economic-social-and-cultural-rights/  (19.6.2022).

[6]  Alston/Goodman, International Human Rights, S. 279.

[7]  Ebenda, S. 278.

[8]  11th Annual Message to Congress, 11.1.1944, in Israel (Hrsg.), The State of the Union Messages of the President, Vol. 3, S. 2881.

[9]  Craven: The international covenant on economic, social and cultural rights, 1995, S. 6.

[10]  Smith, International Human Rights, 2018, S. 39.

[11]  OHCHR, International Bill of Human Rights, https://www.ohchr.org/en/what-are-human-rights/international-bill-human-rights [19.6.2022].

[12]  Ebenda, S. 45.

[13]  Ebenda.

[14]  Vgl. Art. 2 Abs. 1 IPbpR mit Art. 2 Abs. 1 IPwskR.

[15]  E/CN.4/Sub.2/1992/SR.24, S. 6, Rn. 20.

[16]  Ebenda.

[17]  CESCR, State Report on Germany, E/C.12/DEU/CO/5, 12.7.2011, Rn. 7, 12, 14, 19, 22, 29, 30.

[18]  Vgl. ebenda.

[19]  Barak-Erez/Gross, Exploring Social Rights, S. 2.

[20]  Ebenda, S. 21.

[21]  Marx, Zur Judenfrage, in MEW, Bd. 1, S. 347-377, S. 364.

[22]  Ebenda, S. 365.

[23]  Gu, The Gist of the Marxist View on Human Rights, 3.12.2018, abrufbar: http://www.chinahumanrights.org/html/2018/MAGAZINES_1203/12360.html [18.6.2022].

[24]  Fn. 21, S. 347.

[25]  Onuma, Towards an Intercivilizational Approach to Human Rights, Asian Yearbook of International Law, Vol. 7, 1997, S. 21-81, S. 21 f.

 

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