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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die Europäische Union – nicht Europa

Annchristin Noack (Finsterwalde) und Moritz Hieronymi (Frankfurt/Oder)

 

Notizen zum 15. Jahrestag des Vertrages von Lissabon

 

Im Dezember 2007 unterzeichneten die Mitgliedstaaten der EU den Vertrag von Lissabon [1]. Dieser sollte eine neue Phase »bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas« begründen. [2] Heute ist die krisengeschüttelte Union weiter als jemals von diesem Ziel entfernt. Ob Austeritätspolitik, Rechtsruck, aggressive Aufrüstungspolitik oder das Versagen bei der Corona-Impfstoffbeschaffung – die EU ist ein Schatten ihrer eignen Ansprüche.

Trotz verheerender Entwicklungen findet eine sachdienliche Diskussion über die EU kaum statt. Insbesondere die Debatten von links sind auf einzelne Politikfelder begrenzt. Strukturelle Analysen bleiben ganz aus. Dabei mahnte bereits im Jahr 2018 Prof. Dr. Gregor Schirmer an, dass die EU vom Primärrecht her begriffen werden müsse. [3] Das Primärrecht ist mit dem Verfassungsrecht auf nationaler Ebene vergleichbar. Statuiert unter anderem im EU- und AEU-Vertrag werden hier die Werte, Kompetenzen und die Organisation der EU und ihrer Organe beschrieben.

Zum 15. Jahrestag des Vertrages von Lissabon möchten die Autoren mit diesem Artikel den Anregungen des Genossen Professor Schirmer Rechnung tragen, indem sie einführende Betrachtungen in das Primärrecht, aber auch in die aktuellen Entwicklungen des Sekundärrechts (vergleichbar mit Bundesgesetzen), vornehmen.

Ein Verständnis über die Funktionsweise der EU ist in Zeiten geopolitischer Neuordnungen dringend geboten. Dieser Beitrag soll Anregungen schaffen, ein kritisch-pragmatisches Verhältnis zur EU zu entwickeln, das den Anforderungen unserer Sache in dieser Zeit gerecht wird.

A. Demokratiedefizit

Im Jahr 2005 herrschte in den Brüsseler Amtsstuben Katerstimmung. Nachdem in Frankreich ein Volksbegehren mehrheitlich gegen die »Verfassung für Europa« ausgefallen war, stand das europäische Reformprojekt vor einem Scherbenhaufen. Die damaligen Vorstellungen, aus der Europäischen Gemeinschaft einen Bündnisstaat zu machen, hatten sich in vielen Mitgliedstaaten als unvermittelbar herausgestellt.

Es bedurfte einer zweijährigen Bedenkzeit, bis mit dem Vertrag von Lissabon wesentliche Reformen des europäischen Projekts vorangebracht wurden. [4] Aus der Gemeinschaft wurde eine Union, die mit Rechtspersönlichkeit ausgestattet wurde. Damit wurde die EU in die Lage versetzt, geschlossen und begrenzt eigenständig in der internationalen Gemeinschaft aufzutreten. Darüber hinaus schaffte die Zusammenführung unterschiedlicher Politikfelder Klarheit bei der Kompetenzverteilung unter den EU-Organen.

Mit dem Vertrag von Lissabon erlangte die EU keine Staatlichkeit. Wenngleich quasistaatliche Elemente ausfindig zu machen sind, ist die EU im Wesentlichen eine internationale Organisation. Das Bundesverfassungsgericht erweiterte diese Betrachtung um den Begriff Staatenverbund. [5] Dieser zeichnet sich durch seine supranationale [über den Staaten stehende] Struktur aus. Durch die Übertragung einzelner Hoheitsrechte der Mitgliedstaaten an die EU [6] erlangt diese spezifische Handlungs- und Gesetzgebungskompetenzen.

Die Ausübung dieser vormalig nationalen Hoheitsrechte durch die EU wird dabei seit geraumer Zeit kritisch betrachtet. So verwies der frühere Präsident des Bundesgerichtshofs, Prof. Hirsch, auf ein strukturelles Demokratiedefizit, da es den Entscheidungsprozessen an ausreichender demokratischer Legitimierung fehle. [7] Zwar meinte Hirsch damals die Europäische Gemeinschaft, dennoch blieben die strukturellen Probleme mit dem Vertrag von Lissabon unverändert.

Zu dieser Schlussfolgerung kam auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Lissabon-Entscheidung. Das Grundproblem besteht im fehlenden Gleichheitsgrundsatz bei den Wahlen zum EU-Parlament, wodurch keine einheitliche Repräsentation des Volkswillens gewährleistet wird. [8] Schließlich erfolgt die Zusammensetzung der 705 Parlamentssitze nach einem vorgegebenen Staatenkontingent. So stehen Deutschland 96 Sitze, dagegen Malta 6 Sitze zu. [9] An der jeweiligen Gesamtbevölkerung gemessen, erzeuge diese Kontingentierung einen ungleichen Bevölkerung-Abgeordneten-Proporz, wodurch der Erfolgswert einer Stimme je nach Nation stark abweicht. Aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts kann dadurch kein »europäischer« Mehrheitswille festgestellt werden, der eine Regierung trage und anderseits eine Opposition herausbilde. [10] Ferner hängt das Zustandekommen der Wahlergebnisse in jedem Mitgliedstaat vom nationalen Wahlsystem ab, sodass eine Vergleichbarkeit zwischen den »Staaten« nicht gegeben ist.

Auch die rechtliche Ausstattung des EU-Parlaments ist zu bemängeln. Das EU-Recht sieht vor, dass nur die Kommission (Exekutive), nicht aber das Parlament (Legislative), Gesetze vorschlagen kann. [11] Gesetzgeberische Gestaltungsmöglichkeiten werden dem Parlament nur über den Umweg von Änderungsanträgen eingeräumt. An einem weiteren Königsrecht des Parlamentarismus mangelt es hinsichtlich des Untersuchungsrechts. Dieses Recht beschränkt sich auf nicht-ständige Ausschüsse. Um diese engen Vorgaben zu reformieren, hatte das EU-Parlament Änderungsvorschläge ausgearbeitet, die jedoch vom Rat der Europäischen Union blockiert werden. [12]

Der Rat ist ein Kontrollgremium, das von Regierungsvertretern der Mitgliedstaaten besetzt wird. Diesem Kontrollgremium ist es gestattet, über Vorschläge der Kommission abzustimmen und zugleich die Politik der EU zu koordinieren. Mithin ist der Rat das wirkmächtigste EU-Organ. Dies zeigte sich nach der letzten Wahl zum Parlament, bei der Ursula von der Leyen, die nicht einmal kandidiert hatte, nach dem Insistieren des Rates Kommissionspräsidentin wurde. [13]

In der Debatte um Demokratiedefizite sollte der Blick um den Rechtsschutz erweitert werden. Hierbei ist die schwache Gewährung unmittelbarer Rechtssicherheit für natürliche Personen augenfällig. Die Möglichkeit der Individualklagen vor dem Europäischen Gerichtshof ist auf wenige Klagegegenstände beschränkt, für die der Kläger sodann unter erschwerten Bedingungen eine Klageberechtigung nachweisen muss. [14] Dabei ist die Einklagbarkeit der EU-Grundrechte nicht vorgesehen. [15] Eine Anwendung der EU-Grundrechtecharta findet nur im Rahmen der Auslegung von Normen und in der Verhältnismäßigkeitsprüfung Berücksichtigung.

Dem EU-System mangelt es an einem substanziellen Menschenrechtsschutz. So hat die EU die Europäische Menschenrechtscharta und die Europäische Sozialcharta nicht unterschrieben und ratifiziert. [16] Somit können rechtswidrige Handlungen durch EU-Organe nicht durch einen regionalen und unabhängigen Menschenrechtsgerichtshof überprüft werden. Besonders gravierend ist der geringe Schutz sozialer Menschenrechte in der EU.

B. EU-Wirtschaftsrecht und die Unvereinbarkeit von Sozialisierungen

Das sozialrechtliche Manko des EU-Rechts liegt in seinen Prinzipien begründet. Mit der Bestimmung eines gemeinsamen Binnenmarktes nach Art. 3 Abs. 3 EUV hat sich die EU das Ziel gesetzt, eine wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft innerhalb ihres Geltungsbereichs zu etablieren. Die konkretisierenden Regelungen des EU-Primärrechts kreisen sodann um die Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit und weisen nur einen geringen materiell-rechtlichen Gehalt bezüglich sozialer Bestimmungen auf.

Mit den Grundfreiheiten (Warenverkehrs-, Dienstleistungs-, Kapitalverkehrs- und die Niederlassungsfreiheit sowie der Arbeitnehmerfreizügigkeit) wurden faktisch die Bestimmungen des Welthandelsrechtes ins EU-Recht übernommen. [17] Somit soll es allen Marktteilnehmern innerhalb des EU-Binnenmarktes ohne diskriminierende oder diskriminierungsgleiche Beeinträchtigungen möglich sein, ihre wirtschaftlichen Handlungen vorzunehmen.

1. Sozial-regressive Marktwirtschaft

Das EU-rechtliche Wirtschaftsverständnis ist nicht neutral: Die kapitalistische Marktwirtschaft wird vorausgesetzt. Diese Form der Marktwirtschaft ist nach Art. 119 Abs. 1 AEUV eine liberalisierte, die die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, die nationalen Märkte zu öffnen und freien Wettbewerb zu garantieren. Als in den Jahren 1981/82 in Frankreich unter dem Kabinett Mauroy die Kommunistische Partei ein Nationalisierungsgesetz durchsetze, wodurch Banken, Finanzgesellschaften und Industriekonzerne verstaatlicht werden konnten, stellte sich erstmalig die Frage, inwieweit EU-Recht mit einer sozialistischen Politik vereinbar ist. Grundsätzlich obliegt es den Mitgliedstaaten, welche Eigentumsformen sie in ihrem Geltungsbereich zulassen. Wiederum muss die nationale Eigentumsordnung mit dem EU-Primärrecht vereinbar sein. [18]

Nationalisierungen führen zu einer Privilegierung von staatlichen Unternehmen und somit häufig zu marktwirtschaftlichen Wettbewerbsverzerrungen. Die Neuschaffung von öffentlichem Eigentum würde wohl gegen das Beihilfen- und Vergaberecht als auch gegen die Grundfreiheiten verstoßen. Eine branchenübergreifende Nationalisierung würde grundsätzlich das EU-Recht verletzen, da in aller Regel Privaten für die betreffenden Sektoren der Marktzugang verwehrt bliebe.

Vielmehr erzeugt das EU-Recht eine Sogwirkung hin zu Privatisierungen. In Art. 37 AEUV verpflichten sich die Mitgliedstaaten, staatliche Handelsmonopole derart umzuformen, dass Diskriminierungen für Konkurrenten in den Versorgungs- oder Absatzbedingungen ausgeschlossen werden. Zwar können staatliche Monopole bestehen, aber deren wirtschaftliches Handeln darf den Wettbewerb nicht ausschalten. Dieses führt zu der paradoxen Situation, dass staatliche Monopole wettbewerbsfähig sein müssen, wodurch sie häufig ihren gesellschaftlichen Nutzen verlieren. Wenn der Zweck für ein staatliches Monopol wegfällt, werden Mitgliedstaaten durch die Kommission verpflichtet, diese Monopole durch Privatisierungen abzuwickeln. [19]

2. EU-Außenwirtschaftsrecht als Waffe

Die Strategie der wettbewerbsfähigen, liberalisierten Märkte wurde auch lange Zeit in der EU-Außenwirtschaftspolitik verfolgt. Mit der Kommissionspräsidentschaft von Ursula von der Leyen änderte sich die Schwerpunktsetzung hin zu einer Politisierung der Handelsbeziehungen. Hiervon ist insbesondere der Austausch von Waren und Dienstleistungen mit der Volksrepublik China betroffen. Bereits in der China-Strategie der EU wird die Volksrepublik als systemischer Gegner ausgemacht. [20]

Die größte Gefahr stellt dabei wohl Chinas Einfluss auf die globalen Lieferketten dar. Mittlerweile ist China von 17 der 27 EU-Mitgliedstaaten wichtigster Handelspartner; noch im Jahr 2000 waren es ausschließlich die USA. [21] China ist damit noch vor den USA wichtigster Handelspartner der EU. [22] – Ein Fakt, der sich bald ändern könnte, wenn es nach der Kommission geht: Mit dem Direktivenentwurf CSDDD [23] und dem Verordnungsentwurf zum Verbot von Waren, die unter Zwangsarbeit produziert wurden, [24] sieht die Kommission vor, sogenannte due diligence Vorgaben für Unternehmen rechtsverbindlich zu machen. Zukünftig sollen über den Weg von Sorgfaltspflichten Umweltschutz-, Sozial- und Menschenrechtsschutzstandards innerhalb des Produktlebenszyklus gewährleistet sein. Anders als das deutsche Lieferkettenschutzgesetz, das die Wertschöpfungsketten berücksichtigt, möchte die EU-Kommission einen Schritt weiter gehen: EU-Unternehmen sollen verpflichtet werden, vom Rohstoffabbau bis zum letzten Fertigungsschritt Mindeststandards sicherzustellen. Dieses hätte zur Folge, dass über den Umweg der Unternehmenspolitik EU-Recht in Drittländern mittelbar angewendet werden muss. Die Zuwiderhandlungen könnten mit nicht unerheblichen Strafen versehen werden. [25]

Hiermit perpetuiert die EU ihre sogenannte wertebasierte Außenpolitik in ihre Außenwirtschaft. So setzen beide Legislativentwürfe den Schwerpunkt auf Menschenrechte. Dieser Menschenrechtsschutz erfolgt äußerst selektiv [26]: Im Wesentlichen sollen bürgerliche und politische Rechte sowie einzelne Arbeitsschutzmindeststandards geschützt werden. Frappierend ist dabei, dass hinsichtlich des Produktverbots von Waren, die unter Zwangsarbeit hergestellt wurden, den EU-Mitgliedstaaten ein sehr weiter Ermessensspielraum zugebilligt wird. Somit wird es den zuständigen Ermittlungsbehörden überlassen, ob eine Untersuchung eingeleitet wird. [27] Das ist nicht nur für kleine und mittlere Unternehmen interessant, die in der Regel gar nicht die Kapazitäten haben, ihre Lieferketten weitreichend zurückzuverfolgen, sondern auch für die USA. Diese lässt in ihren Gefängnissen jährlich Waren and Dienstleistungen im Wert von US-$11 Mrd. produzieren. [28] Diese Erzeugnisse, in Gefängnissen hergestellt, wären im Sinne der EU-Kommission eine Form von Zwangsarbeit und dürften nicht in die EU importiert werden.

Das flexible Ermessen der Mitgliedstaaten eröffnet weite Handlungsspielräume, die ausreichende Möglichkeiten für einseitige Maßnahmen bieten. Das könnte erheblichen Einfluss auf den zukünftigen Handel mit China haben. Wenngleich China nicht konkret in den Legislativentwürfen Erwähnung findet, möchte die EU-Kommission Zwangsarbeit, die durch staatliche Stellen erfolgt, besonders beobachten. Welche Fallgruppen hierunter im Konkreten subsumiert werden, bleibt offen. Die zeitlichen und politischen Parallelen zu dem US-Gesetzesentwurf Uyghur Forced Labor Prevention Act, wodurch sämtliche Produkte einem US-Importverbot unterliegen, die in der chinesischen Provinz Xinjiang produziert wurden, sind dabei wahrscheinlich nicht zufällig. [29]

Dagegen erweist sich die EU als sorglos, wenn es um die Bevorzugung von vermeintlichen Verbündeten geht. Dieses zeigt sich, wenn es um den leichtsinnigen Umgang der EU mit Daten ihrer Bürger geht:

C. Datenschutz ist Menschenrechtsschutz

Datenschutz ist ein Menschenrecht. Im AEUV [30] statuiert, wird durch Art. 8 EU-Grundrechtecharta das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten gewährleistet. Der erforderliche Personenbezug eines Datums ist schon dann zu bejahen, wenn es nur indirekt Rückschlüsse auf eine Person zulässt [31], weshalb der Datenschutz in sämtlichen Sachverhalten des täglichen Lebens eine Rolle spielt. Dem wird auch im Datenschutzrecht Rechnung getragen. Die Tatbestände, die die Verarbeitung personenbezogener Daten rechtfertigen, sind abschließend geregelt. Zudem müssen Unternehmen, die eine Datenverarbeitung vornehmen, spezielle Maßnahmen zur Sicherheit dieser Daten implementieren. [32] Herausragenden Schutzes bedürfen die sogenannten besonderen Kategorien personenbezogener Daten, wie etwa Gesundheits- oder Biometrie-Daten. [33] Die rechtmäßige Verarbeitung dieser Daten ist noch höheren Anforderungen ausgesetzt. [34]

1. Binnenmarkt vor Datenschutz

In aller Munde ist die seit dem 25. Mai 2018 in den EU-Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbare Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), welche bereits zwei Jahre zuvor in Kraft getreten ist. Die DSGVO zählt zum Sekundärrecht und dient in Teilen der Konkretisierung des Primärrechts. Als solches enthält die DSGVO Rechte und Pflichten, die bei der Datenverarbeitung zu beachten sind. Ein Blick in die Verordnung verdeutlicht die Zielrichtung: Neben dem Schutz natürlicher Personen soll der freie Verkehr personenbezogener Daten in der EU gewährleistet werden. [35] Doch nebeneinander stehen diese Ziele nicht. So regelt die DSGVO, dass der Schutz personenbezogener Daten nicht dazu führen darf, dass diese Daten nicht frei innerhalb der EU ausgetauscht werden dürfen. [36] Hieraus ergibt sich: Selbst wenn es einen EU-Staat gibt, dessen Datenschutzniveau (noch) unter dem angestrebten einheitlichen Standard liegt, darf ein Entsendestaat die Übermittlung an diesen Staat nicht aufgrund des divergierenden Schutzniveaus unterbinden.

2. Datenübermittlung außerhalb der EU

Diese Doktrin lässt sich auf die Datenübermittlung außerhalb der EU übertragen. Sollen personenbezogene Daten von EU-Bürgern (sowie Bürgern aus Island, Liechtenstein und Norwegen) nicht nur innerhalb der EU, sondern in einem sogenannten Drittland verarbeitet werden, ist dies nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich. [37] Diese sollen dem Schutz der personenbezogenen Daten dienen.

Der sogenannte Angemessenheitsbeschluss ist aus Sicht wirtschaftlich tätiger Unterneh­men wohl der populärste Zulässigkeitstatbestand. Dieser, für ein bestimmtes Drittland erlassene Rechtsakt der EU-Kommission besagt, dass das Datenschutzniveau in diesem als angemessen anzusehen ist und dem der EU gleichwertig gegenübersteht. [38] Sodann können personenbezogene Daten ohne Weiteres in das Drittland übermittelt werden. Grundsätzlich möglich ist der Datentransfer auch ohne einen Angemessenheitsbeschluss, jedoch dann mit juristischem Aufwand verbunden. [39]

Ausgelöst wird das Verfahren durch einen Initiativvorschlag der EU-Kommission selbst. Da es sich um einen Beschluss mit weitreichenden Folgen für den Schutz personenbezogener Daten handelt, sollte man meinen, dass vorrangig Datenschutz-Gremien an der Entstehung beteiligt sind. Eine bloße Stellungnahme des Europäischen Datenschutzausschusses (EDPB European Data Protection Board ) ist jedoch die einzige fachliche Auseinandersetzung während des Entstehungsprozesses. Der EDSA ist ein Verbund, bestehend aus Vertretern der Datenschutzaufsichtsbehörden der EU-Mitgliedstaaten sowie dem Europäischen Datenschutzbeauftragten (EDSB). [40]

Im Gegensatz zu dieser Stellungnahme, die keine Rechtsfolgen nach sich zieht, bedarf es im Anschluss der Zustimmung von Vertretern der EU-Mitgliedstaaten zum Initiativvorschlag. Diese befassen sich nicht zwangsläufig mit dem Datenschutz, eher werden hierbei wirtschaftliche Beweggründe die Entscheidung beeinflussen. Aus Sicht der Mitgliedstaaten ist ein solcher Beschluss von maßgeblicher Bedeutung; beeinflusst er die zwischenstaatliche Beziehung und erleichtert den Handel sowie die Zusammenarbeit mit dem betroffenen Drittland. Dieser Fakt gewinnt gerade in der heutigen Zeit an Bedeutung, in der die Verarbeitung bzw. der Handel mit personenbezogenen Daten ein lukratives Geschäftsmodell geworden ist. [41]

Liegt die Zustimmung der Vertreter der EU-Mitgliedstaaten vor, schließt der Entstehungsprozess eines Angemessenheitsbeschlusses mit der Annahme durch die EU-Kommission.

3. Datenschutz in den USA: Trotz Überwachung angemessen?

Ein solcher ist derzeit – wieder einmal – für die Vereinigten Staaten von Amerika in Arbeit. Nach Safe Harbour  [42]  und dem EU-US Privacy Shield  [43]  soll ab dem kommenden Jahr das »Trans-Atlantic Data Privacy Framework« [44] den Transfer personenbezogener Daten von EU-Bürgern in die USA regeln. Dies wäre sodann der dritte Angemessenheitsbeschluss, den die EU-Kommission für die USA erlässt. Dies zeigt das Interesse seitens beider Parteien an der erneuten Vereinfachung des Handels mit personenbezogenen Daten. Zugleich bringt es zum Vorschein, dass die EU-Kommission das ein oder andere Auge zudrückt, wenn es um den Schutzumfang in den USA geht. [45] Denn wie schon Urteile des EuGH zeigen, entspricht das US-amerikanische (Datenschutz-)Recht nicht den hiesigen Anforderungen, sondern müsste zunächst eine Novellierung (wenn auch nur in den bisherig vom EuGH kritisierten Punkten) erfahren.

Das prominenteste Beispiel für den Widerspruch zur DSGVO ist der sogenannte CLOUD-Act. Durch dieses Gesetz werden US-amerikanische Unternehmen dazu verpflichtet, personenbezogene Daten auf Anfrage von US-Behörden auch dann offenzulegen, wenn diese in anderen Staaten, etwa in einem EU-Mitgliedstaat, verarbeitet werden. [46] Dies trifft unter anderem auf US-amerikanische Clouds zu.

Am 7. Oktober 2022 unterzeichnete Joe Biden daher ein Dekret, [47] welches diese Änderungen herbeiführen und so zur gewünschten Angemessenheit führen soll. Was zunächst wie ein positiv zu bewertender Beitrag und Eingeständnis seitens der USA wirken könnte, ist bei näherer Betrachtung ernüchternd. Eine tiefgehende Exegese ist dabei nicht von Nöten; es genügen bereits einige Beispiele, um zu verdeutlichen, dass der EuGH den Angemessenheitsbeschluss wiederholt aufheben wird: [48]

Das Dekret ist eine »Executive Order«. Nach US-amerikanischem Recht ist dies lediglich eine interne Anweisung an die Regierung und die ihr nachgeordneten Behörden. Sie steht keinem Gesetz gleich, welches allgemeine Gültigkeit beansprucht und die nötigen Änderungen mit sich bringt. Des Weiteren unterscheidet sich die Auslegung der im Dekret verwendeten Rechtsbegriffe »erforderlich« und »verhältnismäßig« zwischen EU- und US-amerikanischem Recht. Dies wird dadurch deutlich, dass laut Dekret weiterhin »bulk surveillance« (Massenüberwachungssysteme) uneingeschränkt eingesetzt und sogar legitimiert werden, [49] obwohl der EuGH diese als unverhältnismäßig eingestuft hat. Nutzt ein Unternehmen beispielsweise eine Cloud (online Datenspeicher) von einem US-amerikanischen Anbieter, werden die darin gespeicherten personenbezogenen Daten auch künftig mithilfe dieser Überwachungssysteme durchleuchtet und dadurch gegenüber einem unbestimmten Empfängerkreis offenbart.

Seitens der EU wurden ferner Rechtsbehelfe gefordert, mit deren Hilfe EU-Bürger gegen die Überwachung vorgehen können. Dem kommen die USA mit dem Data Protection Review Court nach, das der Forderung jedoch nicht entsprechen wird. Entgegen dem Wortlaut (»court« = Gericht) wird es sich nicht um ein Gericht handeln. Stattdessen ist geplant, dass es Teil des US-amerikanischen Justizministeriums, folglich der Exekutive unterstellt wird. Die nötige Unabhängigkeit ist somit wohl kaum gegeben.

In Anbetracht dieser nur beispielhaft erwähnten Missstände, wäre es stark verwunderlich, würde die EU-Kommission auf Grundlage dieses Dekrets erneut einen Angemessenheitsbeschluss für die USA erlassen – hiervon muss jedoch angesichts vergangener Veröffentlichungen ausgegangen werden. [50] Es wird also billigend in Kauf genommen, dass personenbezogene Daten von EU-Bürgern durch US-amerikanische Software überwacht und ausgewertet werden und keine Möglichkeit der gerichtlichen Geltendmachung besteht. Inwiefern dies dem Schutz personenbezogener Daten entspricht, ist fraglich. Dem Datenschutz wird in der EU folglich nur vermeintlich viel Bedeutung zugesprochen.

D. Resümee

Europa hat keine Zukunft ohne europäische Zusammenarbeit. – Welche Rolle dabei die EU einnehmen kann, muss sich anhand des Machbaren erweisen. Das gegenwärtige EU-Primärrecht ist ein ideologisch-verbrämter Rumpf, der auch aufgrund seiner Konzeption drängende Fragen unbeantwortet lässt. Die EU als ein Staatenverbund existiert durch das Primärrecht. Dem Primärrecht kann Veränderung nur durch eine Vertragsrevision widerfahren, welche die Zustimmung aller Mitgliedstaaten voraussetzt. Kurzum: Die EU verändern heißt, den Vertrag von Lissabon zu revidieren. Die andere, nicht minder politisch relevante Seite ist das Sekundärrecht. Wie schwerwiegend Entscheidungen in diesem Bereich sein können, hat der Beitrag gezeigt. – Die Glaubwürdigkeit linker Politik hängt davon ab, worin die Notwendigkeit des zu Verändernden erkannt wird. Das verlangt besonders in Fragen der Europapolitik politische Kreativität.

Annchristin Noack, Jg. 1996, ist Diplom-Juristin und Doktorandin im Bereich Zivilprozessrecht und Datenschutzrecht.

Moritz Hieronymi, Jg. 1994, ist Diplom-Jurist und Doktorand im Bereich Völkerrecht.

 

Anmerkungen:

[1]  Abl. EU 2004 Nr. C. 310, S. 1.

[2]  Art. 1 EUV.

[3]  Schirmer, Wessen Europa?, jW, 19.11.2018, S. 12-13, S. 13.

[4]  EP, Kurzdarstellung zur Europäischen Union, 5/2022, S. 1, abrufbar: https://www.europarl.europa.eu/ftu/pdf/de/FTU_1.1.5.pdf [14.11.2022].

[5]  BVerfG, Urt. v. 30. 06. 2009, Lissabon-Entscheidung, 2 BvE 2/08 u. a., Rn.1, 12.

[6]  Vgl. Art. 23 GG.

[7]  Hirsch, »Die Europäische Gemeinschaft hat ein Demokratiedefizit« – Die Rechtsprechung des EuGH ist »natürlich« eher integrationsfreundlich, Zeitschrift für Rechtspolitik, (2) 2007, S. 69-70, S. 70.

[8]  BVerfG, Urt. v. 30. 06. 2009, Lissabon-Entscheidung, 2 BvE 2/08 u. a., Rn 280 f.

[9]  EP, Neuverteilung der Sitze im Europäischen Parlament nach dem Brexit, Pressemitteilung, 31.1.2020, abrufbar: https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20200130IPR71407/neuverteilung-der-sitze-im-europaischen-parlament-nach-dem-brexit [13.11.2022].

[10]  Siehe Fn. 8.

[11]  Art. 17 Abs. 2 EUV.

[12]  EP, AFCO, Zeit, dass das Parlament ein direktes legislatives Initiativrecht erhält, Pressemitteilung, 9.6.2022, abrufbar: https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20220603IPR32135/zeit-dass-das-parlament-ein-direktes-legislatives-initiativrecht-erhalt [13.11.2022].

[13]  Dobbert, Es bleibt ein Skandal, ZEIT ONLINE, 16.6.2019, abrufbar [10.11.2022]: https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-07/ursula-von-der-leyen-eu-kommissionspraesidentin-wahlsieg.

[14]  Vgl. Art. 263 ff. AEUV (= Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union).

[15]  Vgl. Art. 51 Abs. 1 EU-GRCh (= EU-Grundrechtecharta).

[16]  Europäischer Rat, Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention, abrufbar: https://www.coe.int/de/web/portal/eu-accession-echr-questions-and-answers [16.11.2022].

[17]  Brigola, in: Dauses/Ludwigs, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Warenverkehr, Rn. 77 f.

[18]  Weis, Europarecht und Privatisierung, Archiv des Öffentlichen Rechts, (1) 2003, S. 91-133, S. 92 f.

[19]  Ibidem, S. 106.

[20]  EP, 2021/2037(INI), Eine neue China-Strategie der EU, 16.9.2021.

[21]  The Pioneer, China: Handelspartner der Welt 2000-2020, 26.8.2022.

[22]  Destatis, Trade with China increasingly important, abrufbar: https://www.destatis.de/Europa/EN/Topic/Foreign-trade/EU_tradingPartner.html [11.11.2022].

[23]  EC, Proposal for a Directive on Corporate Sustainability Due Diligence and amending Directive (EU) 2019/1937, COM (2022) 71 final.

[24]  EC, Draft Resolution, COM (2022) 453 final, 2022/0269 (COD).

[25]  Vgl. Com (2022), 453, Rn. 37.

[26]  Vgl. Art. 6, 7 CSDDD und Com (2022), 453, Art. 3.

[27]  Com (2022), 453, S. 8 f.

[28]  Anguiano, US prison workers produce $11bn worth of goods and services a year for pittance, The Guardian, 15.6.2022, abrufbar: https://www.theguardian.com/us-news/2022/jun/15/us-prison-workers-low-wages-exploited [11.11.2022].

[29]  Vgl. Connellan et. al, European Commission proposes ban on goods made with forced labour, White & Case, 20.9.2022, abrufbar: https://www.whitecase.com/insight-alert/european-commission-proposes-ban-goods-made-forced-labour [11.11.2022].

[30]  Art. 16 AEUV.

[31]  Art. 4 Nr. 1 DSGVO.

[32]  Vgl. u.a. Art. 6 Abs. 1, S. 1 DSGVO, Art. 32 DSGVO.

[33]  Art. 9 Abs. 1 DSGVO.

[34]  Vgl. Art. 9 Abs. 2 DSGVO i. V. m. Art. 6 Abs. 1, S. 1 DSGVO.

[35]  Art. 1 Abs. 1 DSGVO.

[36]  Art. 1 Abs. 3 DSGVO, Sydow/Marsch DS-GVO/BDSG/Sydow, 3. Aufl. 2022, DS GVO Art. 1 Rn. 3.

[37]  Vgl. Art. 44 DSGVO.

[38]  Vgl. Art. 45 Abs. 1 DSGVO.

[39]  Z.B. durch Abschluss von Standarddatenschutzklauseln, die jedoch auf den konkreten Sachverhalt angepasst werden müssen, s. Art. 46 DSGVO.

[40]  EDPB, Who we are, abrufbar: https://edpb.europa.eu/about-edpb/about-edpb/who-we-are_de [15.11.2022].

[41]  S. Anbieter »kostenloser« Inhalte bzw. Dienstleistungen, z.B. Soziale Medien wie Facebook und Suchmaschinen wie Google.

[42]  EuGH, »Schrems I«, abrufbar: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/TXT/?uri=CELEX%3A62014CJ0362 [15.11.2022].

[43]  EuGH, »Schrems II«, abrufbar: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/ALL/?uri=CELEX:62018CJ0311 [15.11.2022].

[44]  The White House, United States and European Commission Joint Statement on Trans-Atlantic Data Privacy Framework, abrufbar: https://www.whitehouse.gov/briefing-room/statements-releases/2022/03/25/united-states-and-european-commission-joint-statement-on-trans-atlantic-data-privacy-framework [15.11.2022].

[45]  S. o. Urteile des EuGH »Schrems I« und »Schrems II«.

[46]  The United States Government of Justice, CLOUD Act, abrufbar: https://www.justice.gov/dag/page/file/1152896/download [15.11.2022].

[47]  The White House, Executive Order On Enhancing Safeguards For United States Signals Intelligence Activities, abrufbar: https://www.whitehouse.gov/briefing-room/presidential-actions/2022/10/07/executive-order-on-enhancing-safeguards-for-united-states-signals-intelligence-activities [15.11.2022].

[48] S.a. NOYB, Executive Order zur US-Überwachung reicht wohl nicht, abrufbar: https://noyb.eu/de/executive-order-zur-us-ueberwachung-reicht-wohl-nicht [15.11.2022].

[49]  The White House, Executive Order On Enhancing Safeguards For United States Signals Intelligence Activities, abrufbar: https://www.whitehouse.gov/briefing-room/presidential-actions/2022/10/07/executive-order-on-enhancing-safeguards-for-united-states-signals-intelligence-activities [15.11.2022], Section 2 (c)(ii)).

[50]  Vgl. Europäische Kommission, Trans-Atlantic Data Privacy Framework, abrufbar: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/api/files/attachment/872132/Trans-Atlantic%20Data%20Privacy%20Framework.pdf.pdf [15.11.2022].

 

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