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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Wer den Atomkrieg nicht will, muss alle Kriege stoppen

Dr. Wolfram Adolphi, Potsdam

 

Rede auf der jährlichen Gedenkveranstaltung anlässlich der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 an der Weltfriedensglocke im Berliner Friedrichshain am 6. August 2023 (Niederschrift nach Videomitschnitt [1] – Zwischenüberschriften nachträglich eingefügt)

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Veranstaltung, die Sie so zahlreich erschie­nen sind trotz des Regens, ich habe vor zwei Tagen im Kino den Oppenheimer-Film gese­hen. [2] Ich weiß nicht, wer unter Ihnen diese Möglichkeit schon wahrgenommen hat. Es ist ein Drei-Stunden-Film über die Entstehung dieser Atombombe – dieser Atombomben, die auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen worden sind am 6. und 9. August 1945, und es ist ein zutiefst beeindruckender Film: über die Gesellschaft, in der die Planung für diese Bombe entwickelt wird; über die Zeit, in der sie entwickelt wurde; über die letztendliche Entschlossenheit, diese Bombe abzuwerfen; und über die Veränderungen, die sich in einem solchen Prozess in einer Gesellschaft vollziehen, die einen gerechten Krieg gegen das faschistische, militaristische Bündnis zwischen Deutschland und Japan geführt hat, über die Entstehung der Bomben, über den Mann, der das ganze Projekt geleitet hat – eben dieser Robert Oppenheimer. Sie werden nach drei Stunden tief berührt hinausgehen und dann sehr verunsichert nach Hause, weil Ihnen klar wird, wie dicht wir an solchen Situationen sind und leben, und wie ernst die Lage tatsächlich ist.

Wer Atomwaffen hat, ist bereit, sie einzusetzen

Wir hier, die wir uns seit vielen Jahren an diesem kleinen Ort versammeln und die wir nicht nach Zehntausenden zählen, stehen aber doch in der Tradition einer Anti-Atomkriegs-Bewegung, die immer auf ihre Weise »Krieg dem Kriege« gesagt hat, »überhaupt keinen Krieg«, weil aus jedem Krieg, der jetzt geführt wird, immer wieder diese Atomkriegsgefahr erwächst. Wer Atomwaffen hat, ist bereit, sie einzusetzen.

Wir haben mehrere Kriege auf dieser Welt. Wir haben auch einen Krieg in Europa. An die­sem Krieg in Europa ist eine Atommacht beteiligt. Deutschland ist Partei in diesem Krieg. Deutschland ist nicht unmittelbar an Kampfhandlungen beteiligt, aber durch die Erklärung – die sofortige und schnelle und über Nacht und ganz flink getroffene Entscheidung, dass Deutschland an der Seite der einen dieser beiden Kriegsparteien steht, und nicht nur das, sondern in diesem Krieg eine »Zeitenwende« sieht, das heißt, etwas entwickelt, aus dem heraus sich die ganze deutsche Gesellschaft verwandeln muss, neu orientieren muss, neu einstellen muss auf die internationalen Verhältnisse – sind wir alle in diesen Krieg einbezo­gen. Und jeder merkt es, jeden Tag, und wir alle erleben es auf allen Ebenen unserer Arbeit und unseres Lebens, was diese Idee der »Zeitenwende« bedeutet.

Nie hätte ich, der ich fünfzig Jahre lang in der Entspannungspolitik der DDR und dann, nach dem Verschwinden der DDR, mit Forschung und Artikelschreiben und Bücherschrei­ben an der Entspannung zwischen Ost und West gearbeitet habe, mir vorstellen können, dass diese Entspannung als ein großer Fehler der Vergangenheit in die Tonne der Geschichte getreten wird. Dass plötzlich Menschen wie Egon Bahr und ich auf einer Seite stehen, weil wir gleichermaßen der Auffassung waren, dass die Blockkonfrontation durch Entspannung beseitigt werden muss und dass auch dadurch die Atomkriegsgefahr verringert und letztlich ausgeschaltet wird.

Jetzt reden wir davon – nicht wir, sondern die Regierung redet davon und mit ihr sehr, sehr Viele und eine große Menge an Journalisten und Fernsehkommentatorinnen und Fernseh­kommentatoren und so weiter –, dass in dieser »Zeitenwende« neu nachgedacht werden muss auch über nukleare Teilhabe Deutschlands und über neue Methoden, wie man also den Krieg lange so führen kann, dass am Ende »das Gute« über »das Böse« siegt, und wenn dieser jetzige Krieg nicht reicht, dann ist der nächste schon in der Ankündigung, und wo wird er sein? Er wird in China sein, und selbstverständlich werden irgendwann alle sagen: »ja«, und sie werden es mit der gleichen Selbstverständlichkeit sagen wie diejenigen, die am Ende entschieden haben, dass die Atombomben auf diese beiden japanischen Städte abgeworfen wurden.

Und zwar ohne etwas wirklich zu wissen über die Lebensbedingungen und über das Leben in diesen Städten selbst. Weil die Menschen ihnen ganz fremd waren, war dann auch kein Hindernis mehr in den Köpfen, um diese Entscheidung tatsächlich zu treffen, nachdem ja der Kriegsverlauf und die internationale Entwicklung insgesamt im August 1945 schon sehr eindeutig sagten, dass die Entscheidung zugunsten der Alliierten gefallen war.

Gegen Verunglimpfung des Pazifismus und die Gefahr der Eskalation

Was wir heute machen: Wir nehmen unsere demokratische Pflicht – unsere demokratische Pflicht des »Nein zu diesem Krieg!« – wahr. Hier und heute tun wir das, und wir tun es im Namen der 250.000 Opfer dieser Atombombenabwürfe, aber wir tun es auch in unserem Namen, weil wir das Recht und die Pflicht haben, darüber zu reden, dass wir unsere Kinder und Enkel nicht in einem Krieg untergehen lassen wollen.

Es sind – und wir erleben es jeden Tag – in diesem Land und in der westlichen Welt eine Menge Wortkonstruktionen entwickelt worden, die diese Art der demokratischen Pflichtaus­übung diskriminieren, verunglimpfen und verächtlich machen. Es sind alle möglichen Schimpfworte für Pazifisten erfunden worden, und man erklärt uns, dass wir nicht einfach Frieden fordern dürfen, sondern wir müssen nachdenken darüber, dass … und dass … und dass … Wir sollen darüber nachdenken, worüber die Regierungen nachdenken müssen, die aber nicht darüber nachgedacht haben und uns schon gar nicht gefragt haben in der Zeit zwischen dem 24. Februar 2022 und dem 27. – Am Sonntag haben sie den Bundestag zusammengerufen blitzschnell und hatten 100 Milliarden Euro für die Rüstungsindustrie bereit. 100 Milliarden. Und sie sagen uns aber, sie waren überrascht von dieser ganzen Geschichte, hätten niemals gedacht, dass es zu diesem Krieg kommen kann, und so ver­schleiern sie und bilden einen Rauchvorhang vor dem, was tatsächlich passiert.

Trotz aller dieser verächtlich machenden und diskriminierenden Wortkonstruktionen: Las­sen Sie sich nicht irreführen. Nehmen Sie wahr – und lassen Sie uns gemeinsam wahr­nehmen – dieses demokratische Recht des Ausdrucks unseres Friedenswillens hier an diesem Ort und an diesem Tag, und es gibt drei Gründe, die dafür geltend bleiben:

Der eine Grund ist diese unerhörte Eskalationsgefahr, die mit jedem Tag größer wird.

Irgendwo tun immer irgendwelche Leute so, als hätten sie die Entwicklungen dieser Welt im Griff und als wüsste jeder, dass es nirgends in der Welt jemanden geben wird, der sagen wird, wenn ihr hier noch einen Schritt weiter geht, werde ich die Atombombe einset­zen und werde ich diesen Knopf drücken, der zu einer solchen Explosion führt, weil meine Interessen es mir nahelegen. Irgendjemand denkt, man könne Krieg führen egal wie, man könne die Kriegsgegner zu Monstern machen, zum »Bösen« erklären, entmenschlichen, um dann einfach zu sagen: »Aber in der Atomkriegsfrage werden sie schon alle ganz vernünftig sich an einen Tisch setzen und sagen: ›Nein, das tun wir nicht.‹« – Nein, so läuft die Welt nicht. Es braucht den Druck der Menschen, zu sagen: »Wir müssen gegen diesen Krieg auf­stehen.«

Und es gibt – natürlich! – eine historische Verpflichtung. Bedenken wir doch bitte, und las­sen wir uns doch bitte unsere Fantasie im Nachdenken über Vergangenheit und Geschich­te nicht nehmen: Deutschland hätte aus seiner historischen Verantwortung heraus am Tag des Ausbruchs des Krieges sofort alle nur erdenklichen Mittel mobilisieren müssen, um den Krieg zu verhindern. Es hätte schon zehn Jahre lang vorher, seit 2012/14 daran arbei­ten müssen, dass es zu diesem Krieg nicht kommt, denn im Jahre 1941 hat nicht – was heute vielleicht mancher denkt – die Sowjetunion Deutschland überfallen, sondern Deutschland hat die Sowjetunion überfallen am 22. Juni 41, und es hat keinen Unterschied gemacht zwischen Ukrainern und Russen und zwischen all den Menschen, die dort leben, und es ist ein Unding, dass dieses Deutschland 80 Jahre später Partei ergreift für eine dieser Seiten, um eine andere Seite vernichten zu wollen, ruinieren zu wollen. Es ist ein Unding in der deutschen Geschichte, und wir dürfen uns nicht scheuen, dies zu sagen.

Und der dritte Grund: Die »Zeitenwende«, diese Veränderung der deutschen Gesellschaft, sie läuft in eine Richtung, die uns alle nur aufs Höchste beunruhigen kann. Die Regierung, die diese Politik der Unterstützung des Westens im Krieg, des Mitmachens im Krieg des Westens gegen »das Böse«, dieses Land führt, gewinnt nicht an Zustimmung, sondern ver­liert, und im Schatten dieser Regierung gewinnt die AfD gewaltig an Zustimmung, und im Schatten dieser Regierung wird die CDU mit ihren politischen Ansätzen, die ja in der Kriegsfrage die gleichen sind wie die der Regierung, immer stärker, das heißt: Die Gesell­schaft verändert sich, sie verändert sich auch im Geistig-Kulturellen, es werden Ausschlie­ßungskriterien festgelegt, es werden Regeln festgelegt, was man wo und wie sagen kann, es gibt Prozesse gegen Menschen, die Reden gehalten haben, und es gibt eine Kultur – oder eine Unkultur – der Talkshows und der Gespräche darüber, in denen immer ein Kräfteverhältnis geschaffen wird, in dem diejenigen, die ihr demokratisches Recht auf Widerspruch wahrnehmen, in die Enge gedrängt werden. Das ist an sich schon schlimm, aber vor allem ist es schlimm, weil es den Blick auf die Welt verengt und weil es nicht den Standpunkt des japanischen Volkes, des chinesischen Volkes, der chinesischen Regierung, der afrikanischen Regierungen, der lateinamerikanischen Regierungen irgendwo noch ernsthaft in Betracht zieht, sondern so tut, als gäbe es tatsächlich nur diese eine Front der »Guten« hier und der »Bösen« da.

Das wird keine Welt des Friedens schaffen. Wir sind heute hier, um uns gegenseitig darin zu bestärken, an dieser Welt des Friedens zu arbeiten trotz alledem, und Hiroshima und Nagasaki, die Ereignisse im Jahre 1945, sind ein Anlass, darüber immer wieder neu und gründlich nachzudenken.

 

Anmerkungen:

[1]  Siehe https://www.youtube.com/watch?v=ERgJaOPaquQ  (Minute 7:13-20:59).

[2]  Im Videomitschnitt ist zu hören, dass der Redner statt des Namens Oppenheimer zweimal den Namen Oppermann nennt. Dieser Versprecher ist hier korrigiert.

 

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