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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Xi Jinping wird 70

Dr. Wolfram Adolphi, Potsdam

 

In der Wochenzeitung »der Freitag« vom 4. Mai 2023 formulierte Lutz Herden – ein Kenner der Weltpolitik, der sich Anfang 1979 im DDR-Fernsehen mit Berichten über den militäri­schen Konflikt zwischen der Volksrepublik China und der Sozialistischen Republik Vietnam erstmals einen Namen machte – die folgenden bemerkenswerten Sätze: »Präsident Xi Jin­ping hat Wort gehalten. Während des China-Besuchs von Emmanuel Macron beteuerte er, mit Wolodymyr Selenskyj telefonieren zu wollen, sobald sich das vom Zeitpunkt und den Umständen her anbiete. Am 27. April war es so weit. Mittlerweile ist die Rede von einem chinesischen Emissär, dem Diplomaten Li Hui, der in Kiew und Moskau sondieren könne.«

In Abwägung der Chancen der chinesischen Initiative stellte Herden fest, dass Peking gegenüber Kiew »frei« sei »von Verpflichtungen, wie sie den Westen binden, moralisch be­herrschen und diplomatisch lähmen.« Xi Jinping habe »so viel Spielraum, wie ihn sich Joe Biden verbieten muss, weil er ihn nicht hat oder haben will.« Die »Parteilichkeit im Ukraine-Konflikt« gerate im Westen inzwischen »derart pastoral, dass vom rechten Glauben bereits abzufallen droht, wer hauchzart davon abrückt«, und vor diesem Hintergrund bleibe einer­seits der Westen »an sich selbst gefesselt« und andererseits »Präsident Selenskyj um den Preis des Untergangs mit seinen Alliierten verleimt«. Da komme nun Xi ins Spiel, der für sein Vermittlungsangebot eine Menge guter Voraussetzungen ins Feld führen könne: ers­tens den »Verzicht auf feindselige Rhetorik seit Kriegsbeginn«, zweitens »das gegenüber Moskau artikulierte Unbehagen, leichtfertig eine nukleare Eskalation ins Spiel zu bringen«, schließlich seinen »Rückhalt bei vielen nichtpaktgebundenen Staaten« und nicht zuletzt »ein Verhältnis zu Wladimir Putin, wie es westlichen Politikern verwehrt ist«.

»Glaubwürdig« sei China – so unterstrich Herden am Schluss seines Kommentars –, »weil es seine Nähe zu Russland und dessen Sicherheitsinteressen nicht leugnet, aber diesem Krieg nie auch nur das Geringste abgewinnen konnte.« Es bleibe nun angesichts der viel­fach verhärteten Kriegslage »zu hoffen«, dass es für Xi Jinping »nicht aussichtslos« sein werde, mit seinem Angebot »dem Frieden dienen zu wollen«. [1]

Eine solche Würdigung des Engagements des Präsidenten der VR China und Generalsekre­tärs der Gongchandang (der Kommunistischen Partei Chinas) ragt turmhoch heraus aus all dem, was in den Mainstream-Medien zu Xi Jinpings Friedensvorstoß bisher zu lesen und zu hören war. Aber gut: Das müssen diejenigen, die – im Einklang mit der als »regelbasiert« sich brüstenden selbstherrlichen bellizistischen Politik der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock – ihrem anachronistischen Überlegenheitsdünkel und ihrer manischen Feindbildsuche immer neue Nahrung geben zu müssen glauben, mit sich selbst ausma­chen. Herden bietet einen anderen Zugang, und wer – wie er es tut – die Brille der NATO- und EU-Selbstgefälligkeit abwirft und bereit ist, die Welt aus menschheitlicher und welthisto­rischer Perspektive zu betrachten, wird die wachsende Rolle Chinas nicht mit Schaum vorm Mund, sondern mit neugierigem, nach Gemeinsamkeiten suchendem Interesse wahrnehmen und dem Beitrag Xi Jinpings zu dieser Entwicklung seine Anerkennung nicht versagen.

Programmatische Berechenbarkeit

Die Friedensinitiative Xi Jinpings ist weder Zufall noch Resultat einer plötzlichen Eingebung. Sie ist Ausdruck einer neuen Rolle Chinas in der Welt, die zu erarbeiten sich die Gongchan­dang seit dem wegweisenden, untrennbar mit dem Namen Deng Xiaoping verbundenen 3. Plenum ihres Zentralkomitees im Dezember 1978 beharrlich zur Aufgabe gemacht hat. Damals endete eine Periode dramatischer Diskontinuität: dem Bündnis mit der Sowjet­union in den 1950er Jahren waren die kulturrevolutionäre Isolation in den 1960ern und ein explizit antisowjetisches Zusammengehen mit den USA in den 1970ern gefolgt. Seither ist Kontinuität zu einem zentralen Bestimmungsmerkmal der chinesischen Außenpolitik geworden, und Xi Jinping, der seit 2012 an der Partei- und seit 2013 an der Staatsspitze steht, hat daran einen entscheidenden Anteil.

Das ist alles dokumentiert und nachlesbar. In drei umfänglichen Bänden von je mehr als 600 Seiten sind Reden und Schriften von Xi Jinping auch in englischer (unter dem Titel »The Governance of China«) und deutscher Sprache (unter dem Titel »China regieren«) erschienen. Der deutsche Medienmainstream hat für solche Bücher wenig übrig. Ist das nicht alles wie bei Mao? Schon dieses Foto des ewig Junggebliebenen auf dem Schutzum­schlag! Autokratie eben – wenn nicht gar Schlimmeres.

Auf diese Weise abgetan, lässt sich der Inhalt leicht beiseiteschieben und der Nichtach­tung preisgeben. Aber was ist das für ein ungeheuerliches Verfahren angesichts des tat­sächlichen Gewichtes dieser Texte, die natürlich nicht aus der Feder eines einzelnen Men­schen stammen und nicht der Ausfluss eines kurzfristigen Einzelinteresses sind, sondern in kollektiver Beratung erarbeitet wurden und den Weg, die Ziele und Vorhaben des riesi­gen, 1,4 Milliarden Menschen umschließenden Staates VR China auf eine Weise zum Gegenstand haben, die es jederzeit ermöglicht, sie durch Bezug zur gesellschaftlichen Pra­xis auf ihren Wahrheitsgehalt und ihre Wirkungsmacht zu prüfen.

Greifen wir einen einzigen Text heraus: eine Rede, die Xi Jinping vor fast sechs Jahren – am 4. September 2017 – im Rahmen eines Gipfeltreffens der BRICS-Staaten in der chinesi­schen Stadt Xiamen gehalten hat. [2] Die BRICS-Staaten – das sind Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Sich auf den konfuzianischen Historiker Qiao Zhou (201-270) berufend, wonach, wenn man »den richtigen Weg« finde, es »leicht« falle, »auch innige Freunde in tausend Meilen Entfernung zu haben«, und solche Freundschaft dann »stärker als Leim und Lack« verbinde und »dauerhafter« sei »als Metall und Stein«, bilanzierte Xi die BRICS-Zusammenarbeit mit den Worten, dass die fünf Länder »trotz der geografisch äußerst weiten Entfernungen« zwischen ihnen einander näher gerückt seien, und zwar »dank ihres gemeinsamen Ziels einer Win-win-Kooperation«. Man beschreite »Hand in Hand einen Entwicklungsweg«, der »den jeweiligen Landesgegebenheiten entspricht«, pfle­ge »den Geist der Öffnung und Toleranz« und treibe »die Zusammenarbeit im wirtschaftli­chen, politischen und gesellschaftlich-kulturellen Bereich konsequent voran«. [3] Was »die internationale Gemeinschaft« betrifft, so »erwarte« diese von den BRICS-Staaten, dass sie »den Weltfrieden wahren«. [4]

Die Rede über die BRICS-Kooperation beschreibt nur einen von vielen Bausteinen einer komplexen Strategie. In dieser steht der Begriff der »Zeitenwende« nicht – wie im Ver­ständnis von NATO und deutscher Regierung, die daran den Kurs einer neuen Systemaus­einandersetzung knüpfen – für den russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022, sondern für die Jahre 1989/90, also das Ende des Kalten Krieges und der Ost-West-Blockkonfrontation. Da, in dieser Zeit, sei die große Veränderung der Welt in Gang gekom­men, sei die alte Konfrontationslogik über Bord geworfen worden, und die Gongchandang – so Xi Jinping in seiner Rede auf deren 20. Parteitag am 16. Oktober 2022 – habe sich den damit verbundenen Chancen und Herausforderungen wie folgt gestellt:

Man habe »Chinas Diplomatie als die eines großen Landes mit eigener Prägung allseitig vorangetrieben« und dabei »die internationale Fairness und Gerechtigkeit gewahrt« wie auch »echten Multilateralismus […] praktiziert«. China stehe »gegen Hegemonismus und Machtpolitik jeglicher Art« und wirke »jeder Form von Unilateralismus, Protektionismus und Tyrannei entgegen«. Es sei »gelungen«, ein »weltweites Partnerschaftsnetz zu knüpfen und die Herausbildung neuartiger internationaler Beziehungen zu fördern«. China habe sei­ne Fähigkeit »unter Beweis gestellt«, als »verantwortungsbewusstes großes Land« zu han­deln. Es habe sich »aktiv an der Reform und Ausgestaltung des Global-Governance-Sys­tems beteiligt« und »im Kampf gegen die Corona-Pandemie auf umfassende internationale Zusammenarbeit gesetzt«. All dies habe China »breite internationale Anerkennung einge­bracht« sowie seinen »internationalen Einfluss« und seine »Überzeugungs- und Mitgestal­tungskraft […] merklich erhöht«. China, das »seit jeher am Prinzip der Wahrung des Welt­friedens und der Förderung gemeinsamer Entwicklung« festhalte, wolle seine internationa­len Beziehungen unverändert auf der »Grundlage der Fünf Prinzipien der friedlichen Koexis­tenz« entwickeln und dabei »die Interessenschnittmengen mit anderen Ländern ausweiten«.

Konkrete Aussagen zum Krieg in der Ukraine fehlten in der Parteitagsrede. China ist jedoch Atommacht und eines der fünf Ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, und so ist die Absicht bedeutungsvoll, eine »koordinierte und gute Interaktion unter den Groß­mächten« zu fördern und »für die Herausbildung eines Gefüges der Großmachtsbeziehun­gen« einzutreten, »das durch friedliche Koexistenz, allgemeine Stabilität und ausgewogene Entwicklung geprägt ist«. Wohl wissend, dass solche Konzentration auf Großmachtfragen bei den kleineren Nachbarländern Misstrauen hervorrufen könnten, heißt es in der Rede weiter, dass China im Umgang mit diesen selbstverständlich am »Konzept von Vertrautheit, Ehrlichkeit, gegenseitigem Nutzen und Inklusivität« festhalten werde.

Die oft zitierte Global Governance betreffend, werde China auch in Zukunft »das internatio­nale System mit den Vereinten Nationen als Herzstück verteidigen, genauso wie die auf Völkerrecht basierende internationale Ordnung und die grundlegenden Normen der inter­nationalen Beziehungen, deren Fundament die Ziele und Grundsätze der UN-Charta bilden«. China sei »gegen jede Form des Unilateralismus« wie auch »gegen die Bildung von Lagern und exklusiven Gruppierungen, die sich speziell gegen einzelne Länder richten«. Es setze sich dafür ein, dass »multilaterale Mechanismen wie die Welthandelsorganisation und die APEC ihre Rolle noch besser entfalten können« und »sich die Einflusskraft von Kooperationsmechanismen wie den BRICS-Staaten oder der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) erweitert«. Auch wolle es »das Mitspracherecht der Schwellen- und Entwicklungsländer in den globalen Angelegenheiten weiter stärken«, sich »aktiv an der Ausarbeitung der globalen Sicherheitsregeln« und »den UN-Friedensmissionen beteiligen« und »eine konstruktive Rolle bei der Wahrung des Weltfriedens und der regionalen Stabilität« spielen. [5]

Komplexität in der Beurteilung der Weltlage bestimmt auch die außenpolitischen Texte in den Bänden von »China regieren«. So steht die weiter oben zitierte Rede über die BRICS-Kooperation von 2017 nicht allein, sondern neben Texten über »Asiatisch-Pazifische Part­nerschaft des gegenseitigen Vertrauens, der Inklusivität und der Win-win-Kooperation« (2014), über »China-EU-Partnerschaft in den Bereichen Frieden, Wachstum, Reform und Zivilisation« (2015), über »Ein neues Zeitalter für China und Afrika« (2015), über das Thema »Den chinesisch-arabischen Dialog intensivieren und die gemeinsame Basis erweitern« (2016), über »Eine noch glanzvollere Zukunft für die Beziehungen zwischen China und Russland« (2016) wie auch über »Tausend gute Gründe für gute chinesisch-US-amerikani­sche Beziehungen« (2017). Im dritten Band sind weitere solche Texte zu lesen.

Es ist hier nicht der Platz, dies alles im Einzelnen zu diskutieren. Worum es aber unbedingt gehen muss in einer Zeit, in der der Machtblock des Westens unter Einsatz größter materi­eller Mittel und intensiver Propaganda auf Konfrontation hinarbeitet, ist Kenntnisnahme. Und zu dieser Kenntnisnahme gehört, zu begreifen, warum der NATO-Kurs gegenüber Russland in vielen Teilen der Welt keine Zustimmung mehr findet. Eine Befassung mit dem Wirken Xi Jinpings, das nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern sich auf die kollektive Analyse einer tatsächlich sich verändernden Welt gründet, zu der die chinesischen Inter­essen in wiederum kollektiver Beratung in Beziehung gesetzt werden, ist dafür eine wohl unerlässliche Voraussetzung.

Ingenieur, Philosoph und Marxismus-Verfechter

Xi Jinping feiert am 15. Juni 2023 seinen 70. Geburtstag. Sehr viel wäre aus diesem Anlass noch zu sagen zum großen, die Welt auf vielfältige Weise in Atem haltenden Thema »Sozia­lismus chinesischer Prägung«. Dafür reicht der Platz hier nicht aus. Gestattet aber sei noch ein Blick auf den Lebensweg des Jubilars und seine Ansichten zum Marxismus.

Xi Jinping ist – das sollten die in ihrem Urteil so raschen Akteurinnen und Akteure der deutschen Außenpolitik und des Medienmainstreams hin und wieder in Betracht ziehen – ein überaus lebenserfahrener Mann. Er hat – bei Wikipedia ist das gut dokumentiert – alle Höhen und Tiefen der Entwicklung der Volksrepublik am eigenen Leibe erfahren. Geboren in Beijing in der Familie eines hohen Parteifunktionärs, genoss er mit vier Geschwistern eine behütete Kindheit, die in der Kulturrevolution mit der Verhaftung des Vaters, der Demütigung der Familie und dem Selbstmord der Schwester ein jähes Ende fand. 1968 floh er – gerade 15-jährig – aufs Dorf und verdingte sich unter schwierigsten Lebensbedin­gungen als Landarbeiter. 1974 Mitglied der Gongchandang geworden, kehrte er 1975 nach Beijing zurück und studierte bis 1979 an der Qinghua-Universität Chemieingenieurwesen. Anfang der 1990er Jahre begann er seine politische Laufbahn als Vizebürgermeister der Küstenstadt Xiamen im Süden der Provinz Fujian, von 1995 bis 2000 war er Gouverneur von Fujian, 2002 wurde er Gouverneur der Provinz Zhejiang, 2007 Parteichef in Shanghai und im gleichen Jahr Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros der Gongchan­dang. Von 1998 bis 2002 absolvierte er – wiederum an der Qinghua-Universität – ein post­graduales Studium der marxistischen Philosophie und ideologischen Bildungsarbeit, das er mit der Promotion abschloss.

In den Sammelbänden »China regieren« spielen Texte zum Marxismus eine gewichtige Rol­le. Dabei geht es Xi Jinping vor allem um die marxsche Methode. Zu Marxens 200. Geburtstag am 5. Mai 2018 zitierte er Friedrich Engels, der am 11. März 1895 an Werner Sombart geschrieben hatte: »Aber die ganze Auffassungsweise von Marx ist nicht eine Doktrin, sondern eine Methode. Sie gibt keine fertigen Dogmen, sondern Anhaltspunkte zu weiterer Untersuchung und die Methode für diese Untersuchung.« [6] Dies ins Zentrum seiner Überlegungen stellend, fordert Xi, »Haltung, Standpunkt und Methode« des Marxismus zu bewahren und anzuwenden, und er meint damit: die »marxistische Auffassung« von der »Materialität der Welt und den Gesetzen, nach denen sie sich entwickelt«, zu begreifen, also auch die von der »menschlichen Emanzipation« und der »vollen und freien Entwicklung des Individuums«, weiter von der »Bedeutung des Wissens« und »von Praxis, Volk, Klasse und Widersprüchen«. »Wir Kommunisten«, fährt er fort, sollen »die marxistischen Klassiker lesen und die marxistischen Prinzipien verstehen als Lebensweise« und »Art des intellektu­ellen Strebens«, sollen »die Klassiker anwenden, um unsere Integrität zu stärken, unsere Denkfähigkeit zu schärfen, unseren Horizont zu erweitern und unsere Praxis zu befruch­ten.« [7]

Nach Gründen für die Bereitschaft der deutschen Regierung suchend, sich dem Kurs der USA in Richtung neuer Blockkonfrontation mit China anzuschließen, stellte Bundeskanzler Olaf Scholz am 3. November 2022 in der FAZ fest, dass sich der deutsche Umgang mit China verändern müsse, weil »sich China verändert«, und um dies zu beweisen, führte er an, dass auf dem 20. Parteitag der KPCh »Bekenntnisse zum Marxismus-Leninismus« einen »deutlich breiteren Raum« [8] eingenommen hätten als früher und »dem Streben nach natio­naler Sicherheit, gleichbedeutend mit der Stabilität des kommunistischen Systems, und nationaler Autonomie […] mehr Bedeutung« beigemessen worden sei.

Ganz abgesehen davon, dass es seltsam anmutet, wenn jemand wie Scholz, der am 27. Februar 2022 eine mit einem großen Aufrüstungsprogramm untersetzte »Zeitenwende« verkündet hat, es einem anderen Land zum Vorwurf macht, dem »Streben nach nationaler Sicherheit« größere Bedeutung beizumessen als früher, ist die Bemerkung zum Marxismus-Leninismus viel zu oberflächlich, um als seriös gelten zu können.

Richtig ist: Im Rückblick auf die vergangenen zehn Jahre wiederholte Xi Jinping auf dem Parteitag noch einmal die von ihm oft benutzte Formel, in der der Marxismus-Leninismus in einem Atemzug mit »den Mao-Zedong-Ideen, der Deng-Xiaoping-Theorie, den wichtigen Ideen des Dreifachen Vertretens und dem Wissenschaftlichen Entwicklungskonzept« als Grundlage für die politische Arbeit genannt wird. Dann aber gibt es einen Abschnitt »Eröff­nung neuer Perspektiven für die Sinisierung und den Zeitbezug des Marxismus«, in dem nur noch vom Marxismus – und nicht vom Marxismus-Leninismus – die Rede ist. Einem noch durch Parteischulen gebildeten Sozialdemokraten wie Olaf Scholz sollte der Unter­schied aufgefallen sein.

Was aber bedeutet der für die Gongchandang? Das blieb im Parteitagsbericht unerläutert. So bleibt der blanke Text: Die »grundlegenden Prinzipien des Marxismus«, heißt es, müss­ten »mit den konkreten Gegebenheiten« Chinas und »der hervorragenden traditionellen chi­nesischen Kultur« verbunden werden, und unverändert müsse »der dialektische und histo­rische Materialismus« Anwendung finden, dann werde es »auch in Zukunft gelingen, auf die großen Fragen, die Zeit und Praxis an uns herantragen, die richtigen Antworten zu finden und die schwungvolle Vitalität und sprühende Lebenskraft des Marxismus […] aufrechtzu­erhalten.« [9]

Xi Jinping hat im Jahrzehnt seiner Führungsrolle immer wieder deutlich gemacht, dass Chi­na seinen Weg geht, ohne ihn anderen in irgendeiner Weise aufzudrängen. Am 17. Januar 2017 erklärte er bei der Eröffnung des Weltwirtschaftsforums, dass kein Land behaupten könne, »sein eigener Entwicklungsweg sei der allein seligmachende, ganz abgesehen von der Zumutung, seinen eigenen Entwicklungsweg anderen Ländern aufzwingen zu wollen.« [10] Das ist ein zentraler Baustein des Konzepts der Multipolarität, das natürlich von der Reali­tät der unterschiedlichen Entwicklungskonzepte nicht zu trennen ist, sondern vielmehr den Rahmen bilden soll für deren Wettbewerb.

Mit seiner Friedensinitiative im Krieg in der Ukraine unternimmt Xi Jinping einen unerhört wichtigen Schritt dafür, dass dieser Wettbewerb im Frieden stattfinden möge – und nicht in einen Weltenbrand mündet.

14. Mai 2023.

Mehr Texte des Autors über China und anderes findet man hier: https://asiaticus.de.

 

Anmerkungen:

[1] Herden, Lutz: Der Westen muss mit sich selbst verhandeln oder die Diplomatie China überlassen, in: der Freitag, 18. Ausgabe v. 4. Mai 2023, S. 1.

[2] Xi Jinping: Eine zweite »Goldene Dekade« der BRICS-Kooperation einläuten, in: Derselbe, China regieren II, Beijing 2018, S. 600-605.

[3] Ebenda, S. 600.

[4] Ebenda, S. 601.

[5] Die Rede von Xi Jinping am 16. Oktober 2022 findet sich in deutscher Fassung auf der Seite der chinesischen Botschaft de.china-embassy.gov.cn/det/zt/20parteitag/202210/t20221026_10792297.htm (Aufruf 13. Mai 2023).

[6] Marx Engels Werke (MEW) Bd. 39, S. 428. – Der Text von Xi Jinping ist hier der englischen Ausgabe der gesammelten Reden und Texte entnommen. Xi Jinping: Broader Dimension for Marxism in Contemporary China and the 21st century, May 4, 2018, in: The Governance of China III, Beijing 2020, S. 96-98. Der Engels-Brief ist dort auf S. 97 zitiert, und zwar in der englischen Fassung aus: Karl Marx & Frederick Engels: Collected Works, Vol. 50, Engl. ed., Progress Publishers, Moscow 1979, p. 461.

[7] Xi Jinping, Broader Dimension …, a. a. O., S. 97.

[8] www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-gastbeitrag-faz-china-2139416 (Aufruf 3. Nov. 2022).

[9] Siehe Fn. 5.

[10] Xi Jinping: Verantwortung für die globale Entwicklung übernehmen. Grundsatzrede bei der Eröffnungsfeier des Weltwirtschaftsforums 2017, in: Ders., China regieren II, Beijing 2018. S. 583-597, hier: S. 591.

 

Mehr von Wolfram Adolphi in den »Mitteilungen«: 

2022-10: Wortmeldung zum 24.10.1992 (Landesparteitag der PDS Berlin)

2022-04: 12. April 1927: Reaktionärer Wendepunkt der zweiten chinesischen Revolution

2022-02: Zum Gedenken an den Revolutionär Deng Xiaoping (1904-1997)