Viel Lärm um den Kosovo
Moritz Hieronymi, Peking
Im Jahr 1999 bombardierten die NATO-Truppen für 78 Tage die Bundesrepublik Jugoslawien. Der Angriff erfolgte ohne Mandatierung durch den UN-Sicherheitsrat. Um systematische Menschenrechtsverletzungen gegen die Kosovoalbaner zu unterbinden, sahen sich die westlichen Staaten dazu berufen, die Bundesrepublik Jugoslawien völkerrechtswidrig anzugreifen. Die USA und ihre Verbündeten begründeten die Umgehung des UN-Sicherheitsrats mit der Blockadehaltung Russlands, wodurch das UNO-System vermeintlich arbeitsunfähig wurde. Dennoch konnten sich die Weltmächte im Sommer 1999 auf eine gemeinsame Resolution [1] einigen. Ziel war es, die gravierende humanitäre Situation in Jugoslawien zu beenden, indem dem Gebiet Kosovo unter anderem weitreichende Autonomierechte zugebilligt wurden.
Die UN-Resolution sieht die Etablierung einer Interimsverwaltung im Kosovo unter Aufsicht der Vereinten Nationen (UNMIK) vor. Die Mission zielt darauf ab, die politische Selbstverwaltung des Kosovo zu fördern, wodurch die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik Jugoslawien stabilisiert werden sollten. Hierzu wurden der UNMIK weitreichende Kompetenzen verliehen, die sich von Verwaltungsaufgaben bis zu exekutiven Maßnahmen erstreckten.
Der völkerrechtlichen Status des Kosovo blieb unbeantwortet. Vielmehr wurden Unklarheiten noch verschärft: So wurde der Bundesrepublik Jugoslawien Souveränität und territoriale Integrität zugebilligt. Zugleich soll dem Kosovo substanzielle Autonomie und eine entsprechende Selbstverwaltung eingeräumt werden. Die Bundesrepublik Jugoslawien wurde veranlasst, ihre Truppen aus dem Gebiet Kosovo abzuziehen, welches seither unter Kontrolle der NATO-geführten KFOR-Mission steht. Die Widersprüchlichkeit zwischen Autonomie des Kosovo und der Staatlichkeit der Bundesrepublik Jugoslawien, dessen Staatennachfolger Serbien ist, führt zu einem Zwischenstadium, in dem Serbien faktisch keine Herrschaftsgewalt über Teile seines Staatsgebiets ausübt und der Kosovo keine eigene Staatlichkeit besitzt.
Auf Initiative des damaligen UN-Generalsekretärs sollte ab dem Jahr 2005 der politische Status des Kosovo festgestellt werden. Hierfür wurde als Sonderbeauftragter Kai Eide, norwegischer Botschafter in der NATO, berufen. Diese besondere Expertise wurde um den früheren Präsidenten Finnlands, Martii Ahtisaari, komplementiert. Beide Diplomaten kamen zu der Empfehlung, dass dem Kosovo das Recht auf eine Verfassung und auf eine Armee zugestanden werden müsste. [2]
In der Nachbetrachtung ist der sogenannte Ahtisaari-Bericht das Drehbuch der nachfolgenden Geschehnisse: Am 17. Februar 2008 wurde im Parlament des Kosovo die Unabhängigkeitserklärung beschlossen. Darin heißt es, dass die demokratisch gewählten Vertreter des Volkes den Kosovo zu einer souveränen und unabhängigen Republik erklären. Im Parlament stimmten 109 von 120 Abgeordneten für die Erklärungen. Der Präsident des Kosovo, der kein Abgeordneter war, stimmte ebenfalls mit.
Heute erscheinen die Entwicklungen ab 2005 äußerst widersprüchlich. Warum ernannte der UN-Generalsekretär einen Repräsentanten einer ehemaligen Kriegspartei zum Sonderbeauftragten? Wieso konnte der Ahtisaari-Report, der wahrscheinlich gegen die UN-Resolution von 1999 verstieß, veröffentlicht werden? Und warum hat Russland durch sein Veto-Recht diese Entwicklung nicht aufgehalten?
Die Anerkennung des Kosovo
Noch im Februar 2008, kurz nach der Unabhängigkeitserklärung, erkannten vornehmlich westliche Nationen den Kosovo als Staat an. Mittlerweile haben 101 Staaten diplomatische Beziehungen zu der Balkanregion aufgenommen. Russland, China, Indien und Brasilien, aber auch Griechenland, Spanien und Rumänien lehnen dagegen die Anerkennung ab. Somit bestehen global, aber auch unter den EU- und NATO-Mitgliedsstaaten keine einheitlichen Auffassungen zum Kosovo.
Die Frage der Anerkennung von Staaten und Regierungen genießt im öffentlichen Diskurs eine hohe Aufmerksamkeit. Dabei herrschen erhebliche Missverständnisse vor: Die Staatenanerkennung ist ein einseitiger Akt von deklaratorischer Natur. Folglich ist es entscheidungsunerheblich, ob Staaten anerkannt sind, damit sie als Staaten gelten und vice versa. Auch durch die Anerkennungspraxis des Westens hat der Kosovo nicht a priori Staatsqualität gewonnen.
Anders verhält es sich in Bezug auf Serbien. Die Anerkennung der Unabhängigkeit eines Teils von einem Staatsgebiet stellt eine Völkerrechtsverletzung dar. So bedeutet die Anerkennung des Kosovo als Staat die Aberkennung des kosovarischen Teilgebiets von Serbien. Folglich liegt hierin ein Verstoß gegen das Interventionsverbot nach Art. 2 Ziff. 7 UN-Charta.
Eine weitere Besonderheit im Fall des Kosovo ist, dass die Staatlichkeit dieses Balkangebiets wahrscheinlich noch gar nicht erreicht wurde. Im Kosovo herrschen mit der Regierung in Priština und der Übergangsverwaltungsmission der UNO zwei Verwaltungsstrukturen vor. Das kosovarische Parlament übt mithin keine volle Staatsgewalt aus. Ferner sind im Kosovo mit den KFOR-Truppen aktive ausländische Truppen stationiert, die insbesondere die Situation in der Teilregion Nordkosovo stabilisieren sollen. Dieses von Serben kontrollierte Gebiet hat sich unlängst dem Einfluss Prištinas entzogen. Wenngleich viele westliche Völkerrechtler gegensätzlich argumentieren, wäre es zumindest äußerst fraglich, ob der Kosovo ohne KFOR-Truppen, UN-Aufsicht und massive Alimentierung durch Washington selbstständig existieren könnte.
Der Internationale Gerichtshof
Im Jahr 2008 beauftragte die UN-Generalversammlung den Internationalen Gerichtshof (IGH), ein Gutachten über die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo abzugeben. Hierfür fragten die Antragssteller, ob die einseitige Unabhängigkeitserklärung durch die provisorischen Institutionen der Selbstverwaltung des Kosovo im Einklang mit dem Völkerrecht steht.
Der Gerichtshof interpretierte die Frage dahingehend, ob die Erklärungshandlung über die Unabhängigkeit des Kosovos mit dem Völkerrecht vereinbar sei. Dieses bejahten die Richter mehrheitlich und sahen in der Unabhängigkeitserklärung keine völkerrechtliche Verletzung. Zur Begründung führte der IGH an, dass die Unabhängigkeitserklärung nicht von der provisorischen Regierung, die der UN-Resolution von 1999 unterlag, sondern von einer Entität, die sich aus der kosovarischen Bevölkerung speiste, herrührte.
Diese Feststellung ist unter Berücksichtigung der politischen Abläufe und der Regeln zur Rechtsauslegung äußerst fragwürdig. So wurde die Unabhängigkeit in der Versammlung des Kosovo erklärt, indem der Versammlungspräsident und der »Premierminister« des Kosovo entsprechende Anträge stellten und die Fürsprache hielten. Diese Organe waren an die UN-Resolution von 1999 gebunden, wodurch die territoriale Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien sichergestellt werden sollte. Der IGH musste ipso facto die Interimsregierung und die Versammlung zu einer Unabhängigkeitsbewegung umwidmen, deren Absicht die Gründung eines demokratischen kosovarischen Staates war und die nicht mehr an der UN-Resolution gebunden war. Hierfür stellt der Gerichtshof darauf ab, dass die Erklärung nicht vom Parlament beschlossen wurde, sondern im Rahmen einer außerordentlichen Sitzung frei gewählter Repräsentanten der Kosovaren. Interessanterweise sind diese Repräsentanten personenidentisch mit den Abgeordneten, die in Wahlen zur Versammlung des Kosovo bestimmt wurden.
Ein weiteres Argument lautet, dass der UN-Sicherheitsrat keine finale Lösung für den Kosovo vorsah, sondern nur eine Übergangslösung suchte, in der die Unabhängigkeit nicht ausgeschlossen wurde. Diese Argumentation erscheint sehr fragwürdig, da die UN-Resolution zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung galt und bis heute gilt; mithin der Zustand des Übergangs fortbesteht. Auch wenn der Auffassung des IGH gefolgt würde, bleibt fraglich, welcher völkerrechtliche Status den Repräsentanten der Kosovaren zukommt. So sind die allermeisten Unabhängigkeitsbewegungen oder sezessionistischen Regierungen keine völkerrechtlichen Subjekte. Es wird wohl kaum in der internationalen Gemeinschaft davon abweichende Stimmen geben, denn sonst würden die allermeisten Staaten in ihrer territorialen Integrität bedroht.
Das Rechtsgutachten des IGH führte zu Verwirrung bezüglich der Staatlichkeit des Kosovo. Hinsichtlich des völkerrechtlichen Status, der Rechtswirksamkeit der Unabhängigkeitserklärung oder des Rechts auf Selbstbestimmung der Völker schwieg der IGH. Der Gerichtshof prüfte nur, ob die Handlung des Erklärens von staatlicher Unabhängigkeit völkerrechtskonform war. Weiterhin urteilte der IGH nicht, sondern begutachtete eine Rechtsfrage. Rechtsgutachten des IGH sind nicht rechtsverbindlich.
Abschließende Anmerkung
Dass westliche Staaten UN-Resolutionen missachten, ist nicht neu. Die Besonderheit in diesem Fall liegt im doppelten Feldzug gegen Jugoslawien: Erst wurde ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg geführt, um dann entgegen der Zusicherungen in der UN-Resolution 1244 diesen Staat durch die Anerkennung seiner Teile politisch zu zerschlagen. Was bedeutet das fürs Völkerrecht? Wenig! Der Umgang des Westens mit dem Balkan in den 1990er Jahren hat eine politische Instabilität erzeugt. Seither herrscht Misstrauen zwischen dem Westen und Serbien sowie Russland.
Es war ein Pyrrhussieg des Westens. Heute sehen wir an den Beispielen Georgien, in der Ukraine und wahrscheinlich bald in Moldawien, dass Russland sich auf die Argumentationsstruktur der USA zum separatistischen Kosovo bezieht bzw. beziehen wird. Das Völkerrecht spielt dabei eine immer geringer werdende Rolle.
Anmerkungen:
[1] UN-SR, S/RES/1244 (1999), 10.6.1999.
[2] UN-SR, S/2007/168 (2007), 26.3.2007.
Mehr von Moritz Hieronymi in den »Mitteilungen«:
2023-01: Werteimperialismus
2022-12: Die Europäische Union – nicht Europa
2022-09: Taiwan, China und die UNO