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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Trotz alledem!

Prof. Dr. Hermann Klenner, Berlin

 

Gründung der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. vor 30 Jahren

 

Die Gegenwart, mit der Zukunft schwanger gehend, ist mit der Vergangenheit beladen, heißt es beim Urgründer unserer Sozietät, dem Juristen und Universalgelehrten Leibniz, und man kann denselben Gedanken mit nahezu gleichen Worten auch bei Hegel finden (dem die Mitgliedschaft in unsrer Vorgänger-Akademie der Wissenschaften verwehrt wurde): die konkrete Gegenwart ist das Resultat der Vergangenheit und trächtig von der Zukunft. [1] Man halte diese Aussagen nicht für banal und missverstehe sie vor allem nicht als Annahme einer Selbstentwicklung der Vergangenheit über die Gegenwart zur Zukunft; als ob der Fortschritt von sich aus »fortschreitet«. Schwangerschaften können auch in Fehlgeburten enden; Siege haben zuweilen Niederlagen als Kondition, doch sie können auch in Niederlagen enden.

Die berühmteste Verwendung des »Trotz alledem!« stammt von Karl Liebknecht; von ihm am 14. Januar 1919 als Überschrift zu einem Artikel geschrieben, in dem es heißt: »Es gibt Niederlagen, die Siege sind, und Siege, verhängnisvoller als Niederlagen«. Am Tag danach ist der Artikel in der »Roten Fahne« erschienen, und genau an diesem Tag wurde Karl Liebknecht in Berlin von Freikorpsoffizieren ermordet. [2]

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Mein hier gemeintes »Trotz alledem!« reflektiert eigene Lebenserfahrungen, die schließlich in die Entstehung und Existenz unserer Leibniz-Sozietät einmündeten. Ab Januar 1945 nahm HK als Gefreiter einer Granatwerfer-Kompanie der Nazi-Wehrmacht am Kriegs­geschehen teil, wurde verwundet und ging nach Kriegsende als Gefangener in einem Behelfslazarett der US-Armee zum zuständigen deutschen Amtsgericht, um aus der Kirche auszutreten. Nicht wegen des Theodizee-Problems, sondern weil ihm in der nunmehrigen Erkenntnis des Verbrecherischen der Krieg führenden deutschen Wehrmacht bewusst wurde, dass auf seinem eigenen Koppelschloss ein »Gott mit uns« ohne kirchlichen Protest eingraviert und bei seinem Konfirmanden-Unterricht der evangelische Pastor sichtbar NSDAP-Mitglied gewesen war.

Trotzdem hinderte ihn sein eigener Kirchenaustritt vom Frühsommer 1945 nicht daran, einer Einladung der protestantischen Kirche folgend, auf dem Leipziger Kirchentag von 1997 ein Hauptreferat zu halten, [3] und zuvor schon hatte er Texte sowohl von John Milton (1608-1674) mit seinem »when God commands, to take the trumpet« als auch von Gerrard Winstanley (1609-1676) herausgegeben, der seinen Frühkommunismus ausschließlich mit Bibeltexten begründete. [4]

Nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft durch die Rote Armee war HK im Frühjahr 1946 als Bauarbeiter in die SPD eingetreten, wissend und wollend, dass diese Partei sich bald mit der KPD vereinigen werde. Dem sozialistisch/kommunistischem Gedankengut ist er bis heute treu geblieben, trotzdem es in der Anwendung vielerorts summa summarum versagt hat. Dass er seine gewesene Mitgliedschaft in der rassistischen HJ, die am 20. April 1944 als »Geschenk« zu Hitlers Geburtstag in die NSDAP übertragen worden war, weder rückgängig machen konnte noch verdrängen wollte, hat gewiss dazu beigetragen, dass er später besonders über Persönlichkeiten jüdischer Herkunft publiziert oder deren Werke ediert hat: Eva Engel, Eduard Gans, Heinrich Heine, Eugene Kamenka, Hans Kelsen, Jürgen Kuczynski, Ferdinand Lassalle, Karl Marx, Moses Mendelssohn, Heinrich Bernhard Oppenheim und Baruch de Spinoza; für das juristische Ehrendoktorat von Lion Feuchtwanger an Berlins Humboldt-Universität hat er auf Anregung von Hans Nathan die Begründung erarbeitet, deren Inhalt den Geehrten besonders erfreute.

Nachdem HK bewusst geworden war, dass er – wenn auch nur für wenige Monate und nur im eigenen Land und an keinen besonderen Untaten beteiligt – in einer chauvinistisch-aggressiven Wehrmacht (»Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!«) gedient hatte, anerkannte er das Ergebnis des Krieges ohne Wenn und Aber, trotzdem es für ihn auch den endgültigen Verlust seiner eigenen Heimat bedeutete. Nie hätte er sich die in der BRD gängige Revanchisten-Losung: »Deutschland, dreigeteilt, niemals!« zu eigen gemacht. Er ist heute noch froh, Bürger eines Staates gewesen zu sein, der sich für eine stabile Friedensordnung in der Welt samt einer allgemeinen Abrüstung einsetzte und der an keinem Aggressionskrieg beteiligt war, anders als die BRD in Serbien, im Irak und in Afghanistan. Und nun erlebt HK als jetziger BRD-Bürger, wie seine eigene Regierung ihre ökonomischen, militärischen, diplomatischen und ideologischen Mittel nicht dazu verwen­det, um gezielt zur Friedensherstellung in einem völkerrechtswidrig begonnenen Krieg beizutragen, sondern sich durch Waffenlieferungen ohne Ende an diesem Krieg beteiligt, zwar nicht juristisch, wohl aber soziologisch.

Trotzdem in den letzten Jahrzehnten völkerrechtswidrige Kriege von allen Seiten (u.a. in Korea, Vietnam, Afghanistan, Vorderasien und Afrika) geführt wurden, ist HK immer wieder bereit, sich in Wort und Schrift für die Existenz, die Anerkennung und die Einhaltung eines auf der Charter der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 beruhenden Völkerrechts einzu­setzen, obwohl ihm Albert Einsteins Behauptung wohlbekannt ist, dass es International Law nur in den Lehrbüchern zum International Law gibt. [5]

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Das Trotzdem hat auch im Wissenschaftlerleben von HK des Öfteren eine Rolle gespielt. Obwohl er als junger Juristenprofessor an Berlins Humboldt-Universität auf einer großange­legten »Staats- und rechtswissenschaftlichen Konferenz der SED« im Februar 1958 von Walter Ulbricht persönlich des Revisionismus beschuldigt und danach als Dorfbürgermeis­ter in den Oderbruch abgeschoben worden war, [6] wurde er trotzdem im März 1967 vom Präsidium der Akademie der Wissenschaften der DDR zum Leiter einer frisch gegründeten »Arbeitsstelle für Rechtswissenschaft« berufen. [7] Diese von ihm als Wiedergutmachung empfundene kleine Akademie-Arbeitsstelle sollte jedoch von nur einjähriger Dauer sein. Ein Schatten der Vergangenheit verdunkelte die Gegenwart: Wegen eines von ihm zur Ver­öffentlichung eingereichten rechtstheoretischen Grundsatzartikels, in dem das sozialisti­sche Recht nicht nur, wie allgemein anerkannt, als Mittel von Macht, sondern auch als deren die Rechte der Bürger garantierendes Maß der Macht konzipiert wurde, prangerte ihn der Generalstaatsanwalt der DDR auf einer Plenartagung des ZK der SED im Oktober 1968 – bei zustimmenden Zwischenrufen von Walter Ulbricht und Margot Honecker – als »rückfälligen Revisionisten« an; sein Artikel sei das »antisozialistische Machwerk eines Überzeugungstäters«. [8]

Trotzdem in offensichtlicher Konsequenz dieser Diffamierungen die Arbeitsstelle für Rechtswissenschaft durch eine Anweisung des Akademiepräsidenten im Januar 1969 aufgelöst wurde, [9] durfte HK fortan als Mitarbeiter in einem anderen Akademie-Institut weiter produzieren und publizieren. Auch wurde er 1978 Mitglied der Gelehrtensozietät der Wissenschaftsakademie und konnte sich fortan an den monatlichen fruchtbaren Diskussionen in den Klassen- und Plenarberatungen mit den anderen Gelehrten, auch mit eigenen Referaten, beteiligen. Als langjähriges Mitglied der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) konnte er an deren Kongressen teilnehmen sowie Gast­professuren in den USA, in Australien und in Japan wahrnehmen.

Trotzdem HK in der DDR zweimal seine Professur verloren hat, nennt er doch unter den seine geistige Entwicklung ermöglichenden Voraussetzungen zuallererst eben diese DDR. Er hat ja jedes Mal eine Professur zurückbekommen, und drei von den vier wissenschaftli­chen Mitarbeitern seiner winzigen, von ihm an der Akademie in Gang gebrachten, doch bald wieder aufgelösten Arbeitsstelle für Rechtswissenschaft (deren Türschild noch jetzt in seiner Wohnung hängt und deren Mitarbeitern er später seine in Freiburg 1990 publizierte Edition von Kirchmanns Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft widmete) waren wenige Jahre nach deren Auflösung Professoren geworden, obwohl ihnen doch der Ver­dacht anhing, von ihm infiziert worden zu sein. Auch war der Berliner Akademie- wie der Leipziger Reclam-Verlag bereit, Monographien und Editionen von HK zu publizieren, zumal sie gekauft, auch exportiert wurden. Und ist derjenige wirklich beneidenswert, der seine Laufbahn konfliktfrei absolviert?

Und schärfer gefragt: hätte er, der nach Kriegsende beziehungs- und mittellos als Bauar­beiter mit einem Stundenlohn von 68 Pfennigen dastand, in der Bundesrepublik überhaupt studieren und als – wie sich erwies: lebensendgültig – bekennender, sogar organisierter Linker trotzdem einen Weg in die Wissenschaft finden können?

Jedenfalls hat er, nachdem er zuvor in den sechs Semestern seines Studiums mit einem staatlichen Monatsstipendium von einhundert Mark ausgestattet war, im Gründungsjahr der DDR das Referendarexamen bestanden; exakt vierzig Jahre später, am 26. November 1989, gehörte er zu den Unterzeichnern des Aufrufs »Für unser Land«, der von Reformin­tellektuellen initiiert war, die für eine eigenständige DDR als sozialistische Alternative zur kapitalistischen BRD plädierten. Mit Johannes R. Becher zu sprechen: »Auf andre Art so große Hoffnung war«. Offensichtlich bereut HK keine seiner beiden Entscheidungen, weder die von 1949 noch die von 1989. In den dazwischen liegenden vier Jahrzehnten hat er lieber als lernender denn als lehrender, lieber als lesender denn als schreibender, lieber als forschender denn als publizierender Rechtswissenschaftler gearbeitet.

Wie wohl jeder Wissenschaftler kennt auch HK das Oszillieren zwischen verzagter und zu­versichtlicher Gemütsstimmung, zwischen Euphorie und Depression. Das »Trotzdem« blieb und bleibt für ihn von existenzieller Bedeutung. Zu keinem Zeitpunkt, auch nicht als ein an sich und der Welt Verzweifelnder hat er das Arbeiten aufgegeben. Des Thomas Carlyle und Heiner Müllers Herzstück: »arbeiten und nicht verzweifeln« brauchte er sich nicht erst an­zulesen. Und des Bertolt Brecht Kredo, dass er nicht viele allgemeinverbindliche Du-sollst-Sätze gefunden habe, die er auszusprechen Lust hatte, dass aber ein solcher Satz laute: »Du sollst produzieren«, [10] war HK aus der Seele gesprochen. Wer gebraucht wird, ist nicht frei; insofern sind diejenigen, die Wissenschaft zu ihrem Lebensberuf gewählt haben, nie­mals frei, und schon gar nicht sind sie frei, nichts zu tun. Wer nicht bereit ist, notfalls oder trotzdem für die Schublade zu arbeiten, ist überhaupt nicht wert, publiziert zu werden.

HK ist kein ausgeklügelt Buch, sondern ein Mensch mit seinem Widerspruch; medien­gerecht gesagt: er ist zugleich Täter, Opfer, Dulder (im Doppelsinn des Wortes) und Zeuge der Rechtswissenschaft der DDR, die jetzt ein Moment der bundesdeutschen Rechtsge­schichte darstellt. Wie sollte man nicht zornig sein über die Machtverhältnisse, in die man eingebunden war und ist; wie sollte man sich nicht ärgern über die eigenen Gutgläubigkei­ten; wie sollte man sich nicht schämen über eigenes Versagen und sich doch auch freuen, zuweilen sogar ein bißchen stolz sein über Gelungenes, an dem man zumindest glaubt, beteiligt gewesen zu sein. Wer über die allüberall vorkommenden Konflikte zwischen den Wahrheitssuchern und den Machthabern ins Grübeln gerät, der sollte nicht die Frage zu beantworten vergessen, welche Alternativhandlungen sich trotzdem demjenigen boten, dessen Produktivitätserfordernisse Vorrang vor nahezu allem anderen hatten. Als Wissen­schaftler hat man zu den Produkten seines Kopfes wie zu dem Weg seines Denkens zu stehen. Freilich gilt auch: Wer als Wissenschaftler ohne Irrtum ist, der werfe den ersten Stein auf seinen irrenden Kollegen. Oder haben sich nicht die Wissenschaftler aller Länder und zu allen Zeiten emporgeirrt?

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Die Akademie der Wissenschaften der DDR war gemäß ihrem Statut vom 28. Juni 1984 in das Gesellschafts- und Herrschaftssystem der DDR eingebunden. [11] Die Existenzkrise, in die seit geraumer Zeit der realexistierende Sozialismus ökonomisch, politisch, kulturell und nicht zuletzt auch moralisch geraten war, und die sich als ein ungeheurer Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit in nahezu allen Sphären der Gesellschaft offenbarte, erfasste im Spätherbst 1989 auch die Akademie. Von November 1989 bis Februar 1990 hat die Akademie nacheinander ihre Bindung an die führende Rolle der SED, an den Sozia­lismus und an die DDR gelöst. Der seit Februar 1990 unter dem Vorsitz von HK tagende »Runde Tisch« der Akademie setzte sich im Interesse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Beseitigung von Restriktionen und die Demokratisierung der Strukturen samt anste­hender Wahlen zum Präsidium ein. Auf einer ihrer Plenartagungen verzichteten am 30. August 1990 die Mitglieder der Gelehrtensozietät jedenfalls auf die ihnen bis dahin zuste­henden jährlichen Dotationen. Es ging um den Erhalt einer reformierten Akademie. Trotz allem waren im Jahre 1990 die Hoffnungen auf ein Miteinander von West und Ost im Sinne einer deutschen Gemeinsamkeit jedenfalls groß. Oder waren es bloß Illusionen?

Trotzdem die DDR-Akademie der Wissenschaften nicht nur reformbedürftig, sondern auch reformfähig war, [12] wurde sie im Ergebnis des die DDR-Gesellschaftskrise beendenden Anschlusses der DDR an die BRD abgewickelt. Der offiziell auch so genannte »Einigungs­vertrag« zwischen der BRD und der DDR vom 31. August 1990 gewährleistete in seinem § 38 ganz allgemein die »Einpassung [!] von Wissenschaft und Forschung« der früheren DDR-Gebiete in die »gemeinsame Forschungsstruktur der Bundesrepublik Deutschland« und bestimmte in seinem Absatz 2 speziell, dass mit dem Wirksamwerden des Beitritts die Gelehrtensozietät der Akademie der Wissenschaften der DDR von deren Forschungsinsti­tuten getrennt wird und dass die Arbeitsverhältnisse bei diesen Forschungsinstituten pau­schal bis zum 31. Dezember 1991 befristet sind; ferner, dass die Entscheidung, wie [nicht ob!] die Gelehrtensozietät der ehemaligen Akademie weitergeführt wird, landesrechtlich getroffen wird. [13] Das für die Gelehrtensozietät vorgesehene Fortführungsgebot negierend hat der verantwortliche Berliner Senator Manfred Erhardt in einem Brief vom 7. Juli 1992 deren 286 inländischen und 124 ausländischen Mitgliedern mitgeteilt, dass ihre Mitglieds­chaft in der Gelehrtensozietät erloschen sei. [14] Damit beging der Senator eine eindeutige Rechtsverletzung. Sie wurde nie geahndet. Die meines Erachtens illegale Berliner Senats­entscheidung, dass die DDR-Gelehrtensozietät nicht als Traditionsträger der Berliner Aka­demie infrage komme, zielte auf eine sich dann am 28. März 1993 konstituierende Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, die sich schließlich des Vermögens der abgewickelten DDR-Akademie der Wissenschaften bemächtigte. Unsere jetzige Leibniz-Sozietät hat die Beendigung der Akademie der Wissenschaften der DDR zu ihrer Vorausset­zung erlebt und nicht bloß deren Ende, wie es der Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in seiner Einladung zu deren Leibniz-Tag-Veranstaltung am 17. Juni 2023 unterstellt.

Die voranstehend belegte Rechtsentwicklung einschließlich der (illegalen!) Liquidierung der Gelehrtensozietät offenbart einen Bruch in der von Leibniz begonnenen Akademie-Geschichte Deutschlands von einmaliger Radikalität: weder 1933 noch 1945 ist die jeweili­ge von Berlin aus operierende brandenburgische, preußische oder jedenfalls deutsche Wissenschaftsakademie abgewickelt worden!

Kurz vor ihrer Abwicklung, am 26. Juni 1992, hatte der Leibniz-Tag der Akademie im Plenarsaal des Hauses am Gendarmenmarkt noch stattfinden können. In Wehmut und Abschiedsstimmung. Als Motto gab Präsident Horst Klinkmann seinem Bericht Schopen­hauers amoralische Meinung: »Der Wechsel allein ist das Beständige«.

Trotz alledem war die übergroße Mehrheit der gewesenen Akademiemitglieder nicht bereit, sich mit dem offiziellen Ergebnis abzufinden und aus der Wissenschaftslandschaft ausge­blendet zu werden. Wendehals-Geschmeidigkeiten, um Nietzsches Terminus zu verwenden, kamen kaum vor. Es gab nicht einen einzigen Austritt aus der Gelehrtensozietät! Das Bedürfnis eines regelmäßigen Miteinanders von Gelehrten ganz verschiedener Disziplinen und der dadurch ermöglichten Bereicherung des eigenen Wissens erzeugte ein Trotzdem fundamentaler Art. Es basierte zudem auch auf der Erinnerung an die großartigen Akade­miemitglieder vergangener Jahre und Jahrzehnte, von denen wenigstens einige genannt seien: der Jurist Arthur Baumgarten, der Mediziner Rudolf Baumann, der Marx/Engels-Forscher Auguste Cornu, der Physiker Klaus Fuchs, der Altphilologe Werner Hartke, der Philosoph Wolfgang Heise, der Ägyptologe Fritz Hintze, der Altphilologe Johannes Irmscher, der Biochemiker Friedrich Jung, der Chemiker Hermann Klare, der Philosoph Georg Klaus, der Psychologe Friedhart Klix, der Musikwissenschaftler Georg Knepler, der Wirtschafts­wissenschaftler Gunther Kohlmey, der Historiker Manfred Kossok, der Universalgelehrte Jürgen Kuczynski, der Jurist Karl Polak, der Romanist Werner Krauss, der Anglist Martin Lehnert, der Historiker Walter Markov, der Historiker Alfred Meusel, der Wirtschaftshistori­ker Hans Mottek, der Physiker Robert Rompe, der Indologe Walter Ruben, der Historiker Heinrich Scheel, der Chemiker Wolfgang Schirmer, der Physiker Max Steenbeck, der Philo­loge Wolfgang Steinitz sowie die Historiker Leo Stern, Ernst Werner und Eduard Winter. Dass unter den voranstehend genannten Akademiemitgliedern nicht weniger als sechzehn Wissenschaftler von den braunen Banditen in die Emigration oder ins Zuchthaus getrieben worden waren, gereichte unserer Akademie zu einer Ehre der besonderen Art. Die Tradi­tion dieser Gelehrten einfach abzubrechen, kam vielen unter den jetzigen Gelehrten einem Verrat gleich.

Auch wenn es keine Dienst- und Sitzungsräumlichkeiten, keine Geschäftsstelle, keine Bibliothek, kein Archiv und keinerlei Finanzen mehr gab, trafen sich ab September 1992 Monat für Monat in Berlins »Club Spittelkolonaden« frühere Mitglieder der Gelehrtensozie­tät der ehemaligen DDR-Akademie der Wissenschaften. Um sich auf inhaltliche Wissen­schaftsprobleme konzentrieren zu können, verzichteten sie auf die gewiss kostspielige und langwierige Anfechtung der Berliner Senatsbeschlüsse vor der Justiz. Stattdessen bildeten sie eine Vorbereitungsgruppe, und schließlich haben 49 ehemalige Akademiemitglieder am 15. April 1993 den gemeinnützigen Verein »Leibniz-Sozietät« gegründet. Durch dessen Ein­tragung in das Vereinsregister wurde er legalisiert. Legitimiert aber ist der nunmehr einge­tragene Verein durch seine bis auf die von Leibniz initiierte, konzipierte und präsidierte Wissenschaftssozietät vom 11. Juli 1700, ihrem ersten Statut vom 3. Juni 1710 und dem Statut vom 24. Januar 1744 sowie der bis dahin zurückreichenden Forschungskontinui­tät. [15] Der rechtsfähige Verein von 1993 beschloss eine Satzung und wählte einen Vorstand mit dem Biochemiker Samuel Mitja Rapoport als Präsidenten, dem Historiker Ernst Engel­berg als Vizepräsidenten und dem Philosophen Wolfgang Eichhorn als Schatzmeister. Am Ende des Gründungsjahres hatte die Leibniz-Sozietät bereits 104 Mitglieder, und im Jahre 2007 beschloss sie ihren Namen auf »Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V.« zu erweitern. Ein neu gebildeter Förderverein »Freunde der Leibniz-Sozietät«, der die Entwicklung der Sozietät kritisch begleitet und finanziell unterstützt, wurde unter dem Vor­sitz von Horst Klinkmann gebildet. Die regelmäßigen Tagungen unserer Sozietät, ihrer Arbeitskreise und die mehr als 150 Bände von Abhandlungen belegen, wie erfolgreich unser »Trotzdem« war und ist.

Da diese Abhandlung mit einem Leibniz-Gedanken begann, möge sie auch mit einem solchen enden. Diesmal aus der ersten Fassung seines Akademieprojekts, dem »Grundriss eines Bedenkens von Aufrichtung einer Sozietät in Deutschland zu Aufnehmen der Künste und Wissenschaften«: Hoffnung ist ein Glaube des Zukünftigen gleichwie der Glaube eine Hoffnung des Vergangenem ist, doch beide sind gegründet auf Erkenntnis. [16]

Literatur

Gerhard Banse, »Kontinuität und Wandel in der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin«, in: Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin. Sitzungsberichte, Band 118, Jahrgang 2014, S. 7-32.

Gerhard Banse / W. Küttler / H-J. Rothe (ed.), »25 Jahre Leibniz-Sozietät – Vielfalt des wissenschaft­lichen Lebens 1993-2018«, in: Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin. Sitzungsberichte, Band 137, Jahrgang 2018.

Conrad Grau, Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Heidelberg/Berlin 1993.

Gerda Haßler (ed.), Leibniz und unsere Sozietät (in Vorbereitung).

Herbert Hörz, »Erlebte und gestaltete Akademiereform – die Leibniz-Akademie in den 90er Jahren des 20.Jahrhunderts«, in: Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin. Sitzungsberichte, Band 81, Jahr­gang 2005, S. 59-84.

Herbert Hörz, »Samuel Mitja Rapoport und die Leibniz-Sozietät«, in: Leibniz-Sozietät der Wissen­schaften zu Berlin. Sitzungsberichte, Band 115, Jahrgang 2013, S. 61-72.

Herbert Hörz, »Der schwierige Weg einer traditionsreichen Wissenschaftsakademie ins 21. Jahrhundert«, in: Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin. Sitzungsberichte, Band 118, Jahrgang 2014, S. 37-60.

Jürgen Kocka / Renate Maynz (ed.), Wissenschaft und Wiedervereinigung, Berlin 1998.

Hubert Laitko, »Die Akademie im gesellschaftlichen Wandel«, in: Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin. Sitzungsberichte, Band 81, Jahrgang 2005, S. 19-59.

Samuel Mitja Rapoport, »Rede zum Leibniz-Tag am 1. Juli 1993«, in: Leibniz-Sozietät der Wissen­schaften zu Berlin. Sitzungsberichte, Band 1, 1994, I/2, S. 5-6, 119-124.

Werner Scheler, Von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zur Akademie der Wissen­schaften der DDR, Berlin 2000.

Herbert Wöltge, »Die Unausrottbaren? Anmerkungen und Notizen zur Gründung der Leibniz-Sozietät«, in: Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin. Sitzungsberichte, Band 118, Jahrgang 2014, S. 149-178.

Herbert Wöltge, »20 Jahre Leibniz -Sozietät – Vorläufiger Quellen- und Literaturbericht, in: Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin. Sitzungsberichte, Band 118, Jahrgang 2014, S. 227-238.

(Beitrag auf dem Kolloquium der Leibniz-Sozietät am 20. April 2023, nachträglich erweitert)

 

Anmerkungen: 

[1] Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand [1704], Leipzig 1926, S. 11; Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1830], Zweiter Teil, § 259, Frankfurt 1986, S. 55.

[2] Karl Liebknecht, Ausgewählte Reden und Schriften, Berlin 1952, S. 505-520. – Vgl. auch die sich auf die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg beziehenden Verse von Paul Celan, Gedichte, Bd. 2, Frankfurt 1975, S. 334: »DU LIEGST…«.

[3] H. Klenner, Karl Marx und die Frage nach der gerechten Gesellschaft, in: Konrad von Bonin (ed.), Deutscher Evangelischer Kirchentag, Gütersloh 1997, S. 286-292.

[4] John Milton, Zur Verteidigung der Freiheit, Leipzig 1987; Gerrard Winstanley, Gleichheit im Reiche der Freiheit, Leipzig 1986; auch Frankfurt 1988.

[5] Alice Calaprice (ed.), Einstein sagt, München / Zürich 2007, S. 272.

[6] Vgl. Ralf Dreier (ed.), Rechtswissenschaft in der DDR 1949-1971, Baden-Baden 1996; Hermann Klenner, Zur Kritik des Rechts, Berlin 2016, S. 64-83: »Die Babelsberger Konferenz von 1958«.

[7] Vgl. Jahrbuch der Deutschen Akademie der Wissenschaften 1967, Berlin 1968, S. 669.

[8] Analyse des Gesamtvorgangs bei Jürgen Marten, »Die Maßlosigkeit der Macht und das Recht«, in: Gerhard Haney, Werner Maihofer, Gerhard Sprenger (ed.), Recht und Ideologie, Bd. 1, Freiburg 1996, S. 395-401.

[9] Vgl. Mitteilungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Jg. 1. Heft 2, Februar 1969, S. 13.

[10] Bertolt Brecht, Werke, Bd. 18, Berlin 1995, S. 179; vgl. auch: Goethe, Berliner Ausgabe, Bd. 19, Berlin 1973, S. 339: »Der Mensch erfährt und genießt nichts, ohne sogleich produktiv zu werden«.

[11] Gesetzblatt der DDR, I, (1984), S. 241, (1986), S. 441 (1989), S. 146.

[12] Vgl. Hermann Klenner, »Wissenschaftswende an der Akademie der Wissenschaften«, in: Utopie kreativ, Jg. 1992, Nr. 21/22, S. 154-176 (auch in: H. Klenner, Kritik am Recht, Berlin 2016, S. 107-131).

[13] Bundesgesetzblatt 1990, Teil II, S. 885, 889, 1360. Vgl. Ingo von Münch, Die Verträge zur Einheit Deutschlands, München 1990.

[14] Horst Klinkmann / Herbert Wöltge (Hg.), 1992. Das verdrängte Jahr. Dokumente und Kommentare zur Geschichte der Gelehrtensozietät der Akademie der Wissenschaften für das Jahr 1992, Berlin 1999, S. 163; Richard Klar, »Zur Entstehung und zum Verständnis von Art 38, Absatz 2 des Einigungsvertrages«, in: Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin. Sitzungsberichte, Band 81, Jahrgang 2005, S. 85-98.

[15] Hermann Klenner, Leibnizens Denkschriften vom 26. März 1700, »eine societatem scientiarum et artium zu fundiren« und das Regelement der königlich-preußischen »Societät Wißenschaften alhier vom 3. Juni 1710«, in: Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin. Sitzungsberichte, Band 110, Jahrgang 2011, S.41-106.

[16] Leibniz, Politische Schriften, Bd.2, Frankfurt/Wien 1968, S. 33.

 

Mehr von Hermann Klenner in den »Mitteilungen«:

2023-03: Erinnerung an Karl Marx

2023-01: Kriegsursachen

2021-11: Beweggründe für den Eintritt in die KPF