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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Kriegsursachen

Prof. Dr. Hermann Klenner, Berlin

 

Wolfgang Gehrcke, Christiane Reymann (Hrsg.), Ein willkommener Krieg? NATO, Russland und die Ukraine; PapyRossa Verlag, Köln 2022; 231 Seiten; 14,90 Euro; ISBN 978-3-89438-801-0.

 

Wie ergoogelt werden kann, erklärte der Präsident des Bundesnachrichtendienstes Bruno Kahl in der Öffentlichen Sitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundesta­ges am 17. Oktober 2022, dass es Putin in erster Linie nicht um das Staatsgebiet der Ukraine gehe, sondern: »um eine Kriegserklärung gegen die gesamte westliche, freiheitli­che und demokratische Welt«. Im ziemlichen Unterschied dazu hatte der ehemalige US-Außenminister und Friedensnobelpreisträger Henry Kissinger in seiner Videobotschaft zum Münchener Weltwirtschaftsforum am 25. Mai 2022 immerhin vorgeschlagen, zum status quo ante zurückzukehren, also der Ukraine zu raten, Russland die Krim zu überlassen, denn eine demütigende Niederlage Russlands würde die Stabilität Europas auf lange Zeit gefährden. [1]

Im Unterschied zu Kahl und Kissinger handelt es sich in dem hier vorzustellenden Sammel­band um die vielseitigste Analyse der Ursachen für die gegenwärtige Weltsituation, speziell mit Bezug auf Krieg und Frieden. In seinem gegen die tägliche Lügenpropaganda der Main­stream-Medien gerichteten Vorwort erklärt Oskar Lafontaine, dass nur durch die Berück­sichtigung der Interessen aller Beteiligten Frieden in der Ukraine und ganz Europa verwirk­licht werden kann. Diese auf Interessen rekurrierende Erkenntnis wird von allem bestätigt, was die Welt nach dem zweiten Weltkrieg erlebt hat: Der Vietnamkrieg der USA von 1964 bis1975, die Afghanistan-Okkupationen durch die Sowjetunion von 1979 bis 1989 und durch die USA samt NATO von 2001 bis 2021, der Golfkrieg von 1990/91, die Jugosla­wien-Bombardierungen durch die NATO von 1999 (mit der ersten, von dem »Grünen«-Minister Joschka Fischer herbeigepredigten Kriegsbeteiligung Deutschlands seit 1945) und jetzt der seit dem 24. Februar dieses Jahres von Russland geführte Angriffskrieg gegen die Ukraine: Es sind allesamt völkerrechtswidrige Brutalsthandlungen mit mehreren Millionen Toten. Die illegalen Kriege wurden mit illegalen Methoden geführt, wofür auch die »capture-or-kill-policy«, der Einsatz von Drohnen sowie die unter anderem in Guantánamo planmäßig verübten Folterungen von Gefangenen zeugen. Begangen wurden all diese Verbrechen von Mitgliedern der Vereinten Nationen, obwohl sie selbst die in der Charter of the United Nati­ons normierte Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker (Art. 1: »equal rights and self-determination of peoples«) sowie die territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit der Staaten (Art. 2: »territorial integrity or political independence of any state«), genau so wie das absolut gesetzte Folterverbot (»no exceptional circumstances whatsoever«) in der Convention against Torture von 1984, Art. 2, beschworen haben.

Alle großen Völkerrechtsverbrechen der letzten Jahrzehnte erfolgten in klarer Absicht der Täterstaaten nach der Chauvinisten-Devise: Völkerrecht, wo möglich; Rechtsbruch (Krieg, Mord, Okkupation, Folterungen), wenn im Staatsinteresse, also dem der herrschenden Klasse, erforderlich. Victor Klemperers, zu Beginn des Ersten Weltkrieges geäußerte Kenn­zeichnung des Völkerrechts als einer »Vogelscheuche«, die selbst »der dümmste Spatz« nicht ernst nehme [2], ist so abwegig nicht, und vielleicht auch nicht Albert Einsteins, des bedeutendsten Physikers der letzten Jahrhunderte, geäußerte Meinung, dass es Internatio­nales Recht »nur in den Lehrbüchern zum Internationalen Recht« gebe. [3]

In den vier Abteilungen dieses mit einer rhetorischen Titel-Frage (»Ein willkommener Krieg?«) versehenen Bändchens: (Was für ein Land? – Was für ein Krieg? – Was für eine Welt? – Frieden: Trotz alledem!) kommen insgesamt siebzehn Autoren zu Wort. [4] Da der Rezensent mit deren Auffassungen grundsätzlich einverstanden ist, wird er in einer für eine Besprechung ungewöhnlichen Weise, nicht über diese Erkenntnisse wertend urteilen; vielmehr wird er die schärfsten Tatsachen zusammenstellen, die von den Autoren als Grundlage ihrer Werturteile angeführt wurden:

- Im Kern des gegenwärtigen Kriegsgeschehens geht es um die Aufrechterhaltung der machtpolitischen Hegemonie der USA (Project for the New American Century).

- Die USA haben zwischen 1991 und 2018 in über 100 Fällen kriegerisch interveniert.

- Der sogenannte Antiterror-Krieg der USA hat bis 2011 mit 4.000 Milliarden Dollar mehr gekostet als der Zweite Weltkrieg.

- Die USA operieren auf 625 Militärbasen in 53 Ländern und mit zehn Flugzeugträger­kampfgruppen auf allen Weltmeeren.

- Die USA geben mehr als das Zwölffache von Russland für Krieg und Rüstung aus.

- Die USA beanspruchen eine extra-territoriale Geltung ihrer eigenen Rechtsprechung samt ihrer völkerrechtswidrigen Sanktionspolitik, die sie absichern durch 170.000 auf über 750 im Ausland stationierten Militärangehörigen.

- Die USA tragen mit 801 Milliarden Dollar 38 Prozent zu den weltweiten Rüstungsausga­ben bei.

- Die EU-NATO-Mitglieder geben weitere 340 Milliarden aus.

- Die 30 NATO-Staaten repräsentieren 12 Prozent der Weltbevölkerung, verantworten aber 56 Prozent der Militärausgaben und Rüstungsexporte.

- Die NATO führte völkerrechtswidrige Kriege gegen Serbien in Bosnien 1995, gegen Jugo­slawien 1999, in Afghanistan 2001, gegen den Irak 2003 und gegen Gaddafi in Libyen 2011.

- Die Rüstungsausgaben der NATO betragen derzeit das 15-Fache der russischen und knapp das 5-Fache der chinesischen Militärausgaben.

- Die Aufnahme von neun ehemaligen Sowjetrepubliken und Warschauer Vertragsstaaten in die NATO seit 1999 kann von Russland nur als Bedrohung empfunden werden, was sie auch ist.

- Seit 2014 hält die NATO jährlich etwa 300 Kriegsmanöver in Europa ab.

- Die USA haben ihre Atomwaffen in fünf NATO-Staaten deponiert.

- Bei strategischen Atomwaffen besteht eine Parität dergestalt: Wer als erster schießt, stirbt als zweiter.

- Das Militärbudget Russlands beläuft sich auf 66 Milliarden Dollar, ist damit knapp so hoch wie das Großbritanniens (68 Milliarden) und entspricht damit 8 Prozent der US-Ausgaben.

- Im Verhältnis zu Russland hat die NATO insgesamt das 3,6-Fache an Soldatinnen und Sol­daten unter Waffen.

- Infolge der uferlosen Waffenlieferungen an die Ukraine und der Ausbildung ukrainischer Soldaten in Deutschland ist die BRD Kriegspartei geworden.

- Das Nicht-NATO-Mitglied Ukraine mit seinen 41 Millionen Einwohnern und der allerärms­ten Bevölkerungsmehrheit in Europa hat mehr Militärs als jeder NATO-Staat (mit Ausnah­me der USA).

- Der gesetzliche Mindestlohn in der Ukraine beträgt seit 2021 pro Stunde 1,21 Euro.

- Die gigantische Kriegsmaschinerie auf der Welt ist der größte Verbraucher an Erdölpro­dukten.

- Wer vom Krieg profitiert, wird ihn nicht stoppen.

- Kollektive Sicherheit geht vom Grundgedanken aus, dass die Sicherheit der einen Seite untrennbar mit der Sicherheit der anderen Seite verbunden ist.

***

Abschließend noch drei Gedanken von Mitautoren des hier besprochenen Bändchens:

a) Der katholische (freilich aus seiner Kirche ausgetretene) Theologie-Professor Eugen Drewermann hat in seinen unter anderem am 7. Mai 2022 im Volkshaus von Zürich und genau zwei Wochen danach in Berlins Humboldt-Universität auf dem hybriden Kongress: »Ohne NATO leben – Ideen zum Frieden« gehaltenen Reden unter Berufung auf Matthäus-Evangelium V, 39 (»widerstehe nicht dem Bösen; non resistere malo«) von einer radikalst-pazifistischen Haltung aus jegliche Waffenlieferungen gleich an wen für anti-human und anti-religiös erklärt. Frieden sei möglich, wenn man sich aus der Spirale der Angst löse, die Interessen des jeweilig anderen ernst nehme und die Verantwortung für ein friedliches Mit­einander in seine/ihre Gesinnung überführe.

b) Der in Theorie und Praxis weltweit agierende Völkerrechtler Norman Paech hat nachge­wiesen, dass die gemeinhin wahrgenommene Gegenwartskrise des Völkerrechts in Wahr­heit eine Krise des internationalen Wirtschaftssystems samt seiner neoliberalen Konkur­renz und Herrschaft der Staaten im Kampf um die internationalen Märkte und Ressourcen ist. [5] Die Frage bestehe nicht darin, wo das Völkerrecht bleibt, sondern: wohin mit der NATO? Nämlich: in den Orkus!

c) In unserer Welt voller realer Unterschiede zwischen Reichen und Armen, zwischen Mäch­tigen und Ohnmächtigen, zwischen Gewaltha­bern und Gewaltlosen, zwischen Juden, Chris­ten, Moslems und Gottesleugnern, vollzieht sich das Miteinander in unterschiedlichen, not­wendigerweise auch gegensätzlichen Formen. Was das Gegeneinander von Staaten anlangt, so hat die deutsche Schriftstellerin und Publi­zistin Daniela Dahn, Trägerin des Goethe-, des Fontane-, des Tucholsky- und des Börne-Prei­ses, diagnostiziert, dass das Gegeneinander von Staaten sich in der Form eines Miteinan­ders vollziehen kann, wenn die Interessen des jeweilig anderen respektiert werden und der Krieg zwischen ihnen keine Option bleibt, denn: »Im Krieg verlieren auch die Sieger«. [6]

November 2022

Der Beitrag erscheint zeitgleich in der Ausgabe der Marxistischen Blätter 1-2023. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung. Red.

 

Anmerkungen:

[1]  Vgl. Hermann Klenner, »Die juristische Dimension des Krim-Konflikts«, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Jg. 61 (2019), Nr.1, S. 133-149.

[2]  Victor Klemperer, Curriculum vitae, Bd. 2, Berlin 1989, S. 198.

[3]  Albert Einstein, Einstein sagt, ed.: Alice Calaprice, München/Zürich 1997, S. 272.

[4]  Sie seien wenigstens genannt: S. Dağdelen, D. Dahn, E. Drewermann, W. Gehrcke, J. Goldberg, L. Henken, A. Hunko, J. Kronauer, G. Krone-Schmalz, J. Neelsen, N. Paech, Chr. Reymann, W. Rügemer, G. Schumann, E. Sieker, B. Trautvetter, L. Zeise. – Verwiesen sei auch noch auf: Yoram Hazony, The Virtue of Nationalism, New York 2018; Peter Wahl, »Der Ukraine-Krieg und seine geopolitischen Hintergründe«, in: Marxistische Blätter, Jg. 60, 3-2022, Beilage; Sahra Wagenknecht, Rede in de Haushaltsdebatte des Bundestages vom 8. September 2022, in: Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der Partei DIE LINKE, Jg. 31, Heft 10/2022, S. 2-4; Patrik Köbele, »Ist Russland imperialistisch?«, in: Arbeiterstimme, Herbst 2022, Nr. 217, 51. Jahrgang, S. 1-6; Norman Paech, »Krieg gegen die Ukraine – Völkerrecht als Sanktion?«, in: Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 130, Juni 2022, S. 58-62; W. Putin, »Das Ende westlicher Dominanz«, in: Junge Welt, 2. November 2022, S. 12-13.

[5]  Norman Paech, »Neues Völkerrecht für neue Kriege?«, in: Norman Paech / Karsten Nowrot (Hg.), Krieg und Frieden im Völkerrecht, Köln 2019, S.158-179.

[6]  Daniela Dahn, Im Krieg verlieren auch die Sieger, Hamburg 2022.

 

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2021-11: Beweggründe für den Eintritt in die KPF

2021-05: Demokratische Regime versus Autoritäre Regime?

2020-09: Laudatio auf einen Rector Magnificus, auf Heinrich Fink