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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

»Tischlein deck dich!« - Ein Kalenderblatt

Günter Herlt, Berlin

 

Dieser zauberhafte Wunsch wurde vor etwa 200 Jahren von den Brüdern Grimm als Herz­stück eines Märchens zu Papier gebracht. Und alle, die im Elend steckten, klammerten sich an solche Zauberformel. Wobei sie entdecken konnten, dass die Brüder Grimm ein Dreier­pack gebündelt hatten, um dringende Probleme zu lösen. Der zweite Zaubersatz ruft näm­lich: »Goldesel streck dich!«, um Geld herbei zu zaubern. Und weil die Reichen solche Bitte gerne überhören, droht der dritte Satz: »Knüppel aus dem Sack!«

Das passte den Obrigkeiten des Feudaladels gar nicht. Die hatten viel Ärger mit der Abwehr der bürgerlichen Opposition. Kein Wunder, dass Jacob und Wilhelm Grimm, zusammen mit fünf anderen Professoren der Göttinger Universität, 1837 von den feudalen Landesherren außer Landes gejagt wurden. Trotzdem brach 1848 die Bürgerliche Revolution aus, weil sich eben kein Tisch auf dieser Erde von alleine deckt und auch kein Goldesel seine Schätze her­gibt. Warum das so ist und wie man das ändern kann, wurde zur gleichen Zeit im Manifest von Marx und Engels erklärt.

Süße Märchen enthalten oft bittere Wahrheiten

Um Tag für Tag den Tisch zu decken, braucht man die Bauern und Metzger, die Köchinnen und Müller, Löffel und Gelder, einen Herd und ein Dach und manches mehr. Aber wo die Rei­chen und Satten das Sagen haben, haben es die Armen und Hungrigen sehr schwer. Auch heutzutage im superreichen Deutschland!

So entstand vor 25 Jahren, am 22. Februar 1993 im Berliner Westen, nachdem die Obdach­losen-Asyle, Wärmestuben und Suppenküchen nicht mehr wussten, wie sie alle Bedürftigen satt kriegen sollten, die »Berliner Tafel«. Dort sammeln heute viele freiwillige Helfer aus 600 Groß- und Kleinmärkten, mit strengem Blick auf die Verfallsdaten, brauchbare Nahrungsmit­tel ein, um sie an Notleidende zu verteilen oder für Mahlzeiten herzurichten. Die Zahl der dankbaren Kunden wird immer größer, weil über 13 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben.

Inzwischen haben sich alle Großstädte angeschlossen, und eine zunehmende Zahl von Klein­städten folgt dieser Initiative. In 2.000 Ausgabestellen arbeiten etwa 60.000 Helfer für an­derthalb Millionen »Stammkunden«. Das sind übrigens doppelt so viele Kinder wie Rentner. Darunter auch Spätaussiedler, Migranten, Hartz-IV-Opfer, alleinerziehende Mütter und ande­re Geringverdiener. Keiner dieser Menschen kann davon leben, aber sie sparen damit etwa ein Viertel ihrer Nahrungsausgaben.

Wo Werte entwertet werden

In den letzten Jahren haben sich einige caritative Einrichtungen und Verbände als Träger an diesem sozialen Netz beteiligt. Doch wenn man genauer hinschaut, hat sich die Gründungs-I­dee, überflüssige Nahrungsmittel nicht zu »entsorgen«, sondern zu verteilen, in eine Art Ent­lastungs- oder Wiedergutmachungs-Initiative für die unsoziale Staats- und Wirtschaftsord­nung entwickelt. Da auch der amtierende Papst den Eindruck hat, dass der globale Kapitalis­mus für allzu viele Erdbewohner »tödlich wirkt«, sollten nicht zuletzt unsere christlichen Amtsträger begreifen, dass der Skandal der Kinder- und Altersarmut nicht mit der kümmerli­chen Nachbesserung einzelner Verordnungen zu tilgen ist.

Die Würde des Menschen ist auch hierzulande viel zu antastbar! Und die dafür verantwortli­chen »Grapscher« in Staat und Wirtschaft, Justiz und Sozialwesen, Gesundheitsdienst und Bildung, sind mit der viel zu schwachen Opposition nicht zu bändigen!

Übrigens: Da wir Deutschen besonders tierliebend sind, gibt es inzwischen auch »Tier-Tafeln« und auch Medikamenten-Spenden. Ich will das nicht abwerten. Ich habe eine große Achtung vor den ehrenamtlichen Helfern der Tafeln. Sie besorgen die Autos und Fahrer. Sie reden mit den Spendern und vereinbaren die Termine. Sie prüfen, welche Waren noch ge­nießbar sind. Sie besorgen die Gewürze, damit die Speisen schmecken. Sie schmieren Pau­senbrote für die Schüler. Sie telefonieren mit Ärzten und Apothekern, wenn Medikamente fehlen. Sie holen auch Kleiderspenden ran. Sie blockieren damit viele Tage in ihrem persönli­chen Kalender, damit die Regierenden – ohne rot zu werden – sagen können: »Nie ging es uns so gut wie heute!«

Die im Dunkel sitzen, sieht man nicht

Wenn man an diesen Tafeln sitzt, sieht man vieles anders. Seit 1990 ist die Zahl der Sozial­wohnungen um 60% zurückgegangen und der Mietpreis in den Großstädten um das Doppel­te gestiegen. Das wirkt wie »Kundenwerbung« für die Tafeln. Die Supermärkte sparen Entsor­gungskosten, aber manche wollen dennoch nicht den wachsenden Bedarf an Armen-Spei­sung decken. Am Rohstoff für BIO-Gas ist besser zu verdienen. Vielleicht ist vorsichtigen Spendern wegen der Eier- und Fleischskandale auch das Risiko zu groß, dass eine Suppen­küche mal mit Vergiftungen in die Schlagzeilen kommt? Und wenn so etwas – trotz aller Sorgfalt – mal passiert, wie nennt man das dann: »Panne«, »Unfall«, »mangelnde Hygiene« oder präziser: »Totschlag durch ein menschenfeindliches System«?

Solidarität ist ein wunderbares Linderungsmittel für viele Nöte. Ein Heilmittel für die Gebre­chen dieser menschenfeindlichen Ordnung ist es nicht. Die Bettelei und Schinderei der Ta­feln und Suppenküchen ist aller Ehren wert. Manche von denen nennen sich auch »Tischlein deck dich!« Den Brüdern Grimm und ihren guten Geistern gebührt das Bundesverdienst­kreuz. Man sollte es aber vorher den Erfindern der Hartz IV-Gesetze, mancher Asylverord­nungen oder den Fanatikern der privatisierten Daseinsfürsorge abnehmen!

 

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2017-11: Die »Aurora« und ich

2017-05: Das Orakel vom Bodensee

2016-12: Das Ostfernsehen war besser als sein Ruf