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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Sie schaute mich an, als sei ich von Sinnen ...

Ellen Brombacher, Berlin

 

Komme ich in Richtung Dresden fahrend an der Ausfahrt Schwarzheide/BASF vorbei, so verspüre ich Trauer. Nicht nur, daß es den VEB Synthesewerk Schwarzheide nicht mehr gibt; wir haben den VEB gegen einen Konzern eingetauscht, der als Teil der IG-Farben an deren kometenhaften Aufstieg während der Nazizeit beteiligt war. Geld stinkt nicht. Nicht einmal nach Zyklon B. Jeder nimmt die aus dem Herbst 1989 letztlich hervorgegangene Restauration des Kapitalismus auf gesamtdeutschem Boden auf seine Weise wahr. Meine Wahrnehmung ist zuvörderst: ein nichtkapitalistisches Gemeinwesen wurde durch immer asozialer funktionierende Mechanismen der Profitmaximierung ersetzt, Kriege ebenso eingeschlossen wie faschistoide Tendenzen. Je offenkundiger dies wird, desto lauter tönt es, die DDR habe nichts getaugt. Selbst der Antifaschismus in der DDR sei ein minderwertiger gewesen, ein lediglich verordneter. In jüngster Zeit mehren sich die Vorwürfe, die DDR sei – zumindest partiell – antisemitisch gewesen. So in der laufenden Ausstellung "Das hat’s bei uns nicht gegeben. Antisemitismus in der DDR". Kurt Goldstein hat sich gemeinsam mit mir an die AMADEU ANTONIO STIFTUNG mit dem Vorschlag gewandt, ein Gespräch mit Jugendlichen zu führen, die an dieser Ausstellung gearbeitet haben. Der Vorwurf über Antisemitismus in der DDR findet sich ebenso im kürzlich in UTOPIE kreativ erschienenen Artikel "Nationaler Kommunismus nach Auschwitz – Die DDR und die Juden". Nationaler Kommunismus, das assoziiert Nationalsozialismus – ein Zufall? Der aus Naumburg stammende Autor Peter Ullrich war 1989 vierzehn Jahre alt. In meinem Denken verknüpfen sich Faschismus und Antisemitismus zuvörderst mit dem Schoß, aus dem das kroch. Der ist fruchtbar noch. Oder besser: Schon wieder. Europaweit – voll schauderhafter Tradition.

Nach einem Aufenthalt Ende 1941 in Estland beschrieb der finnische Polizeioffizier Olavi Viherluoto Einzelheiten über die Ausrottung der Juden. Anfang 1942 waren praktisch alle estnischen Juden getötet. 35 000 von 75 000 jüdischen Bewohnern Lettlands waren zu diesem Zeitpunkt bereits ermordet. Im Oktober 1941 gelangten Nachrichten aus dem litauischen Bezirk Wilna außer Landes, daß die litauische Polizei – mit aktiver Hilfe von Schülern und Studenten – 170 000 Juden umgebracht hatte. Die Bevölkerungszahl der baltischen Republiken betrug seinerzeit zwischen 7 und 7,5 Millionen Einwohner. Die Relationen sprechen für sich. Viele der Balten, die, wie die "Waldbrüder", nach der Vertreibung der faschistischen Wehrmacht gegen die Rote Armee kämpften, fürchteten zu Recht die Verfolgung. Ihre während der Nazi-Barbarei begangenen Verbrechen waren entsetzlich. 1993 feierten Angehörige der lettischen SS den 50. Jahrestag der Gründung des Mordordens. Seinerzeit lebten noch 12 000 von ihnen, dankbar für die ihnen von der deutschen Regierung gezahlte Rente. Ihre Opfer, keine 150 noch lebende lettische Juden, kämpften indes um Wiedergutmachung. 1993 erfuhr man so etwas noch im Fernsehen. Was wir in Litauen, Lettland und Estland erlebten und erleben, ist der späte Sieg der faschistischen Veteranen unter einem vom Gestank mörderischer Kollaboration behafteten Banner bürgerlicher Freiheiten: Gestattet sind Ruhm und Ehre für die baltischen SS-Angehörigen und – per Gesetz – die faktische Entsorgung sterblicher Überreste sowjetischer Soldaten, die bei der Befreiung Tallins oder anderer Städte von Nazitruppen fielen.

Vor Jahren lernte ich eine Jüdin kennen, die als Kontingentflüchtling aus Lettland nach Deutschland gekommen war. An der Sowjetunion ließ sie kein gutes Haar. Gefragt, warum sie nach deren Zerfall dennoch ihr Land verlassen habe, berichtete sie über ein Erlebnis in Riga. Ein Block von SS-Uniformierten sei auf sie zugekommen. Zunächst habe sie geglaubt, da würde gefilmt. Doch dann habe sie festgestellt, daß SS-Veteranen marschierten. Danach habe sie nur noch weggewollt. Ob sie sich hätte vorstellen können, daß dies zu Sowjetzeiten passiert wäre, fragte ich. Sie schaute mich an, als sei ich von Sinnen. Auf meine Frage, ob die Sowjetmacht nicht auch ihr Gutes gehabt hätte, schwieg sie. Diese scheinbare Argumentationslücke ist essentieller Natur. Warum sollte ein Gemeinwesen, in dem so etwas unmöglich gewesen wäre, eigentlich weniger wert sein als gesellschaftliche Strukturen, die alte und neue Faschisten tolerieren? Da diese Frage tabuisiert ist, muß die Argumentationslücke mit Akribie geschlossen werden. Der ehemalige Justizminister Klaus Kinkel wußte, warum er 1991 auf dem Deutschen Richtertag forderte, den DDR-Antifaschismus zu delegitimieren. Diese Forderung zu erfüllen, bereitet – zumindest im Osten – Schwierigkeiten. Dort war der Faschismus radikal, also an seine Wurzeln gehend, bekämpft worden. Zuvor den Verlust der Leuna Werke beklagend, kehrte die BASF erst 1990 dorthin zurück. Mag sein, auch im Osten wurde ein Unteroffizier der Wehrmacht zu wenig danach gefragt, was er im Krieg getan hatte. Die Kriegsprofiteure allerdings wurden auch nicht befragt. Sie wurden enteignet. Die meisten von ihnen gingen, SS- und Gestapo-Verbrechern gleich, in den Westen. Noch wissen das viele. In anderen Fragen haben Antikommunisten ein leichteres Spiel. Zum einen, weil sie über alle denkbaren Mittel der Manipulation verfügen, und zum anderen natürlich auch, weil wir genügend Angriffsflächen boten. Daß man nicht in den Westen reisen durfte, war für viele DDR-Bürger nicht nachvollziehbar. Daß die Konsummöglichkeiten in der DDR wesentlich beschränkter waren, daran erinnern sich alle, auch diejenigen, die ansonsten meinen, drei Sorten Seife täten es durchaus. Aber zwölf Jahre warten auf einen Trabbi? Diese Erinnerungen wirken nach, wenngleich sie in den Schlangen der JobCenter vergleichsweise selten diskutiert werden. Erwähnt sei noch die Presse- und Versammlungsfreiheit. Der Umgang mit Problemen des Sozialismus hat es dessen Gegnern sehr leicht gemacht, den Eindruck zu vermitteln, im Kapitalismus sei die freie Meinungsäußerung ein uneingeschränktes Recht. Wenngleich mittlerweile viele Menschen im Osten erfuhren, daß Meinungsfreiheit spätestens am Werktor endet, wirkt das der DDR zuzuschreibende Demokratiedefizit nach. Dennoch: Bei vielen im Osten erzeugt die aus dem Kapitalismus erwachsende Ernüchterung einen veränderten Blick auf das Leben in der DDR. Unreflektierte Selbstverständlichkeiten von damals werden als verlorene Werte bewußt.

Kürzlich nahm ich an einem Workshop mit ABM- und MAE-Kräften teil. Unvergessen bleiben mir die Worte einer Frau: "Ich komme aus Mecklenburg und habe mehr als vierzig Arbeitsjahre hinter mir. Ich bin Friseuse. Früher haben wir Lehrlinge ausgebildet. Das war ein Muß. Wir waren ein gutes Team und haben uns gegenseitig geholfen. Dieses ‚Jeder gegen jeden’ kannten wir nicht". Ich erinnerte mich an Inge Vietts Autobiographie: "Wenn die erste Welle kapitalistischer Zumutungen überstanden ist, werden sich die Erinnerungen melden, ... und die tausendmal gesagten Denunziationen werden ihre Wirkungen verlieren. Die Menschen werden das zerstörte gesellschaftliche Fundament gerechter und humaner nennen ..., und sie werden vom Kapitalismus erfahren haben, daß ein sozialistisches gesellschaftliches Fundament menschlicher und nötiger ist, weil es die Menschen davon abhält, sich gegenseitig niederzuringen, auszubeuten und zu erniedrigen.". Zwar sind es nicht "die Menschen", aber doch viele; zwar nennen diese Vielen das zerstörte gesellschaftliche Fundament noch nicht gerechter und humaner, zumindest nicht öffentlich – wegen der Meinungsfreiheit –, aber nichtöffentlich hört man solches immer häufiger. Zwar begreifen fast alle, daß man sich im Kapitalismus gegenseitig niederringt, aber nicht wenige sind durch siebzehn Jahre kapitalistischer Amoral so gezeichnet, daß sie dies als menschlichen Urzustand zu akzeptieren bereit sind. Wie auch immer: Der Alltag bestätigt Inge Vietts Feststellungen täglich ein Stück mehr. Für die Ideologen der kapitalistischen Globalisierung ist das ein Warnsignal. Je länger die Restauration der Profitgesellschaft in Europa andauert, mit desto wütenderem Haß "erinnern" sie an die vergangene gesellschaftliche Alternative. Hier werden Denkmäler geschleift, dort Straßen umbenannt. Andernorts verkommen geschichtliche Ereignisse zu bloßen Entschuldigungsgründen, und D-Day war die Wende im Zweiten Weltkrieg. Da die Reisefreiheit für viele ALG-II-Empfänger nicht so viel bringt, wie das in der DDR verbriefte Recht auf Arbeit ihnen heutzutage brächte, orientiert sich die veröffentlichte Meinung immer intensiver darauf, dem gewesenen Sozialismus nicht in erster Linie materielle Mängel vorzuwerfen, sondern ihm mangelnde gesellschaftliche Moral zu unterstellen. Dazu gehört auch der Vorwurf, der Antifaschismus in der DDR sei minderwertig gewesen. Dies nicht hinzunehmen, hat mit Nostalgie nichts zu tun. Und auf die Mafia in Sachsen zu verweisen, Kinderbordelle inklusive, ist kein Ablenkungsmanöver.

Aus: Neues Deutschland, 30. Juni 2007, S. 21

 

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