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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Pablo – der Tschort

Werner Wüste, Wandlitz

 

In meinem Lexikon, 1986 herausgegeben vom Bibliographischen Institut Leipzig, finde ich in Band 4 auf Seite 200 zwei Fotos nebeneinander: Pablo Picasso und Wilhelm Pieck. Natürlich ist das ein mit dem organisierenden Alphabet erklärbarer Zufall; aber eben doch einer dieser Zufälle, in denen der Finder schmunzelnd einen eigenen Sinn entdeckt. Und wenn man nur ("nur"?) sagen kann: beide haben vor der Geschichte bestanden.

Immerhin, und das ist nun alles andere als zufällig: Picasso war Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Künste der DDR, Pieck bekanntlich der erste Präsident des Landes.

Mein Lexikon liefert auch manches Stichwort, das erklärt, warum Picasso in unserem Lande so hoch geachtet war: aktiv in der Friedensbewegung und Schöpfer der "Taube", deren Symbol; Mitglied der KP Frankreichs; nahm Partei für die Volksfront im Spanischen Bürgerkrieg und schuf 1937 das Gemälde "Guernica", 1952 die Wandbilder "Krieg" und "Frieden". (Ilja Ehrenburg: Der Bürgerkrieg in Spanien hat ihn aufgerüttelt. Vielleicht ist Guernica das bedeutendste Bild unserer Zeit.) Gewann er aber auch die Zuneigung der Menschen, wie Anna Seghers oder Hermann Kant oder Erik Neutsch die Zuneigung ihrer Leser gewannen? Die Vergleiche sind vielleicht etwas unfair, zugegeben. Aber wenn ich nun frage: wurde er auch verstanden? So selbstverständlich wie die genannten Schriftsteller? Die Frage stellen heißt zumindest Zweifel anmelden. Drumherum reden macht keinen Sinn. Abstrakte Malerei wurde voller Mißtrauen betrachtet, war verpönt. (Malte aber Picasso wirklich abstrakt?) Es gab die Formalismus-Debatte. Das Menschenbild zu deformieren galt als Ausdruck von Inhumanität, Kosmopolitismus war schwerer Verdacht und schwerwiegender Vorwurf.

Und es war ja auch so bequem. Jedermann konnte "aus guten ideologischen Gründen" ablehnen, was er nicht verstand. Was zu verstehen er sich also gar nicht erst anstrengen mußte. – Ich räume ein, daß auch ich der Meinung war, es gäbe Wichtigeres als das möglicherweise fruchtlose Bemühen um Verstehen. Außerdem lebte ich von Kind an mit einer sehr guten Reproduktion der "Roten Pferde" von Franz Marc, (damals in der elterlichen Wohnung und heute bei uns) und die Frage, ob denn Pferde rot sein dürfen, stellt sich mir schon lange nicht mehr.

Zu Ilja Ehrenburg mag man stehen wie man will. Tatsache bleibt, daß er uns, aus persönlichen Begegnungen, sehr viele auch sehr persönliche Erinnerungen hinterließ, daß er mit manchem interessanten Zeitgenossen befreundet war. Natürlich auch mit Picasso.

Ehrenburgs Erinnerungen MENSCHEN JAHRE LEBEN erschienen 1978 bei Volk und Welt. Aber bereits 1964 hat Francoise Gilot ihr "Life With Picasso" vorgestellt, 1981 dann als Taschenbuch bei Diogenes unter dem Titel "Leben mit Picasso" (Umschlagfoto von Robert Capa, Magnum Fotos).

Literatur zu Picasso ist Legion. Ich werde mich hüten, den Eindruck zu erwecken, vielleicht Wesentliches hinzufügen zu können. Zumal es schon kompliziert genug ist, in prägnanten wie liebenswürdigen Zitaten das Phänomen Picasso zu erzählen. Bevor ich aber den Globetrotter Ehrenburg und die Malerin, Geliebte und schließlich Ehefrau Gilot in Zeugenschaft nehme, hier eine erstaunliche, sehr frühe Stimme. Die von Carl Einstein nämlich, (tatsächlich Carl, nicht Albert):

"Picasso entzieht sich in eilendem und wechselndem Erfinden den mühselig nachtrabenden Betrachtungen seiner Biographen und Bewunderer ... Die Kraft Picassos beruht in seinem Mißtrauen gegen Geschichte, in seinem Mut, voraussetzungslos zu arbeiten. Er wird selten der Abergläubige seiner Erfindungen, sondern vermag aus diesen sich zu lösen, sich von ihnen zu entfernen und neue Gesichte zu versuchen. So erscheint sein Leben gebaut wie eine Folge mehrerer Generationen, und darum überlagert der Schatten seines Werkes mehrere Generationen."

Das war 1926. Da hatte Picasso immerhin noch 47 Jahre Leben und Schaffen vor sich. (Carl Einstein, Die Kunst des 20. Jahrhunderts, Reclam 1988)

Francoise Gilot, die Geliebte:

Ein andermal war ich mit dem Fahrrad gekommen, weil das damals die einzige Möglichkeit war, schnell und bequem herumzukommen. Unterwegs hatte es zu regnen begonnen, mein Haar war triefend naß. "Nun schau dir das arme Mädchen an", sagte Picasso zu Sabartès, "in dem Zustand können wir sie nicht herumlaufen lassen". Er nahm mich beim Arm. "Kommen Sie mit mir ins Bad und lassen Sie mich Ihr Haar trocknen." "Aber Pablo", sagte Sabartès, "ich würde Ines darum bitten. Sie kann das sicher besser." "Du läßt Ines, wo sie ist", entgegnete Picasso. "Sie hat ihre eigene Arbeit zu tun." Er führte mich ins Badezimmer und trocknete mir sorgfältig das Haar.

Natürlich kamen die Umstände Picasso nicht immer derart entgegen. Er mußte sie meistens selbst erfinden ...

Eines Tages, als ich ihm, in einem Anflug von Herzlichkeit – sehr im Gegensatz zu der "englischen Zurückhaltung", die ich zuvor gezeigt hatte – gestand, wie unbefangen ich mich in seiner Gegenwart fühle, packte er mich am Arm und rief erregt: "Aber das ist ja genau das, was ich auch empfinde. Als ich jung war, noch jünger als Sie heute, fand ich nie einen Menschen, der so war wie ich ... Auch ich hatte das Gefühl, daß wir dieselbe Sprache sprechen. Vom ersten Augenblick an wußte ich, daß wir etwas miteinander anfangen können."

Er war sehr sanft, und das ist der Eindruck, der mir bis heute geblieben ist: seine außerordentliche Sanftheit.

Er sagte, daß von nun an alles, was ich tue und alles, was er tue, von größter Wichtigkeit sei: Jedes Wort, die geringste Geste sei von Bedeutung: alles, was zwischen uns geschehe, werde uns beständig verändern. "Ich wünsche," sagte er, "ich könnte die Zeit in diesem Augenblick aufhalten und die Dinge genau an diesem Punkt fixieren, weil ich spüre, daß dieser Augenblick ein wahrer Anfang ist.

Es war ein kalter, grauer Februartag, doch in meiner Erinnerung ist er von Sommersonne erfüllt.

Francoise Gilot ist selbst Malerin, und ihr wird ein außerordentliches Gedächtnis nachgesagt. Da darf man annehmen, daß, wenn sie Picasso in wörtlicher Rede zitiert, diese unverfälscht ist. Und Picasso präzise charakterisiert.

Ein Bild hielt ich für überaus gut komponiert: Die Formen und der umgebende Raum waren wunderbar ausgewogen. Mir schien es, daß daran unmöglich etwas zu ändern war ... Doch Pablo war unzufrieden: "Das ist gerade der Jammer", sagte er, "es ist so gut ausgewogen, daß es mich ärgert. Ich kann es so nicht lassen. Es ist ein stabiles Gleichgewicht, kein unstabiles. Es ist zu geschlossen. Mir ist ein Gleichgewicht lieber, das prekärer ist. Ich möchte, daß es sich selbst trägt, aber nur gerade so eben noch."

Schließlich fand er eine Stelle, die viel unerwarteter war und ganz genau jenes schicksalhafte Nebeneinander ergab, das er suchte: Das Gleichgewicht hing an einem Faden. Nun war er zufrieden ...

Ich fragte ihn, weshalb er die Welt und die Unterbrechungen, die sie mit sich bringe, nicht ausschalte. "Aber ich kann nicht," antwortete er. "Was ich malend schaffe, kommt zwar aus meiner inneren Welt. Aber gleichzeitig brauche ich den Kontakt und den Austausch mit anderen Menschen. Wenn ich Sabartès bitte, niemanden zu mir zu lassen, und es kommen Leute, und ich weiß, sie sind da, aber ich lasse sie nicht herein, dann quält mich der Gedanke, daß sie vielleicht etwas zu sagen haben, was ich wissen müßte und nicht weiß, und ich kann mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren." ...

"Ich male so, wie andere ihre Autobiografie schreiben. Bilder, ob fertig oder nicht, sind Seiten meines Tagebuchs, und als solche haben sie ihre Bedeutung. Die Zukunft wird die Seiten auswählen, die sie für wichtig hält." ...

Ilja Ehrenburg zitiert aus einem Brief Picassos:

"Ich habe schon vor langem gesagt, daß ich zum Kommunismus gekommen bin wie zu einer Quelle und daß mein ganzes Schaffen mich dahin geführt hat ..."

Und erzählt:

Wieder und wieder sagte er zu mir, er finde es zum Lachen, wenn es über ihn heiße, er "suche nach neuen Formen". "Ich suche nur eins, meine Idee auszudrücken. Ich suche nicht neue Formen, ich finde sie."

An anderer Stelle schließlich:

Als ich Pablo vor langen Zeiten meine Vorliebe für die Impressionisten gestand, meinte er: "Sie wollten die Welt schildern, wie sie sie sahen. Mich reizt das nicht. Ich will die Welt schildern, wie ich sie denke."

Picasso war in fast jeder Hinsicht äußerst widersprüchlich. Na und? Wenn jemand als Beispiel dafür gelten kann, wie aus Widersprüchen Produktivität zu ziehen ist, dann er. – Im Oktober würde er 130 Jahre alt werden. Oder sollte man, mit bewunderndem Blick auf ihn sagen: 130 Jahre jung? Noch einmal Ehrenburg:

Seit ich denken kann, nenne ich ihn spöttisch Tschort, Teufel ... und lächelnd sagt Picasso: "Ich der Tschort." Wenn er ein Teufel ist, so ist er einer von besonderer Art – der mit Gott um die Weltschöpfung stritt, rebellisch, dickköpfig ... ein guter Teufel.

 

 

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