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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Zum Achtzigsten

Werner Wüste, Berlin

 

Lieber Genosse Erik Neutsch, ganz und gar unabhängig davon, ob meine Anrede organisatorische Berechtigung hat, Deine Haltung und Dein Denken jedenfalls lassen keine andere zu. Finde ich.

Also noch einmal: Lieber Genosse Erik Neutsch! Die Genossinnen und Genossen der Kommunistischen Plattform, zu der auch ich zähle, gratulieren dir sehr herzlich.

Nun könnte an dieser Stelle eine Aufzählung all dessen folgen, was wir Dir wünschen: Gesundheit! Gesundheit! Gesundheit! Und Kraft und Gelassenheit! Und immer wieder mal eine Freude außer der Reihe! Und lang währende Lust am Schreiben, die ja wohl aus dem gefühlten Auftrag schöpft. Und Freunde! Und einen verständnisvollen Verleger ... und damit wäre zwar die Reihe guter Wünsche längst nicht erschöpft, der Auftrag aber erfüllt und der Pflicht Genüge getan. Nur wäre mir das zu billig. Und Dir und Deinem Schaffen nicht angemessen. Anders gesagt: Das hättest Du nicht verdient. Ich fürchte, Oberflächliches wird Dir viel zu oft angeboten.

So will ich eben versuchen, auch, weil dieser Brief ja ein offener ist, und obwohl ich alles andere als Literaturwissenschaftler bin, (eher interessierter und allerdings nicht gleichgültiger, sondern engagierter Leser), ein unbefangenes Echo auf Deine Arbeit zu sein.

Natürlich habe ich "Spur des Lebens" (Neues Deutschland/Das Neue Berlin, 2010) gelesen, recht bald nach Erscheinen und nun erneut, mit großem Interesse, nicht unkritisch, aber mit Gewinn; und ich möchte jedem diese Lektüre sehr anempfehlen; weil sie hilfreich ist; weil man sich an ihren Wahrheiten sowohl abarbeiten wie auch aufrichten kann, weil entstehende Nachdenklichkeit weit über das literarische Interesse am Buch reicht. Weil in jedem Augenblick im gedruckten Wort, in Deinen Antworten dem aufnahmebereiten Leser der lebendige, Anteil nehmende Erik Neutsch entgegen kommt. – Entschuldige bitte, wenn Dir das wie "Honig ums Maul" vorkommt. Ich meine es so, wie es da steht.

Aber eigentlich wollte ich mich an meine indirekten Begegnungen mit Dir erinnern und Dir davon mitteilen. In der Hoffnung, daß Dir solches vielleicht eine kleine Freude macht. Also: Am Anfang war, im konkreten Fall, nicht das Wort, sondern der Film. Hauptgrund für diese Reihenfolge ist: ich hatte gerade drei Jahre vor dem kulturpolitischen Ereignis "Spur der Steine" die Filmhochschule absolviert und fühlte mich im Status eines trockenen Schwamms. Als ich aber "Spur der Steine" sehen wollte, war der Film abgesetzt. Karl Gass, Dir gewiß bekannt als unvoreingenommener, politisch engagierter Filmdokumentarist, damals mein Chef, erzählte von jener denkwürdigen Veranstaltung (im "Kosmos" in Berlin oder im "International"):

"Die saßen ein und zwei Reihen vor mir, haben sich amüsiert wie Bolle ... aber wenn das Stichwort kam, dann fielen sie mit Buh und Pfiffen über den Film her ..." Gass war überzeugt, "die" waren bestellte Provokateure und sollten nicht nur den Anlaß, sondern auch die Begründung für das Absetzen des Films liefern. Und es war doch noch kaum Zeit vergangen seit der Auszeichnung bei den Potsdamer Arbeiterfestspielen! Bald nach dem der Provokation folgenden Verriß im ND gab es im Dokumentarfilmstudio eine Parteiversammlung, und ein Genosse beantragte ein Parteiverfahren gegen sich selbst. Begründung: er müsse wohl eine Unklarheit haben, denn er befinde sich in absoluter Anti-Haltung zum ND-Artikel. Die Versammlung aber erklärte sich nicht in der Lage, den Antrag zu beurteilen. Kaum jemand kannte den Film. Wie denn auch? Und so kam es, daß der ZK-Beauftragte zusagte, dem Studio eine Kopie zur Verfügung zu stellen. Und so kam es, daß ich "Spur der Steine" sehen konnte. Und so kam es auch, daß ich, voll der Zustimmung, sehr, sehr neugierig wurde auf das Buch.

(Wie ich heute zu dem Vergleich von Buch und Film stünde, weiß ich nicht. Damals fand ich für mich die Erklärung für das Mißbehagen mancher über den Film in dem Widerspruch zwischen der notwendig epischen Erzählweise des Romans und der verkürzenden, konzentrierenden dramatischen des Films, dem Genre entsprechend. So blieb, glaube ich, manches Verständnis für das So-Geworden-Seins von Horrath und Kati zum Beispiel auf der Strecke.)

Es tut Deinem Buch nicht unrecht, wenn ich den Film nach Deinem Buch ein Ereignis nenne. Denn das primäre Ereignis ist der Roman. Frank Beyer hat das erkannt. Das ist sein Verdienst. Und er hat einen großen, bewegenden Film gemacht. Aber das Ereignis, wage ich zu behaupten, war begründet darin, daß Dein Roman erwartet wurde, weil er ein herangereiftes gesellschaftliches Bedürfnis zu befriedigen hatte; weil mit ihm erlebbar wurde, wie man Problemen, Entwicklungsproblemen eben, solchen, die sich im privaten Bereich ergaben ebenso wie im großen, gesellschaftlichen, begegnen könnte. Das erkannt und mit parteilichem Denken und Gestalten Wege erforscht und der Gesellschaft plausible, vollziehbare Vorschläge angeboten zu haben – das ist unbestreitbar Dein untilgbares Verdienst.

Vielleicht fragst Du jetzt und mit Recht: Wozu erzählt der mir das alles? Das sind doch alte Hüte! Ja, gewiß. Aber durchaus nicht – um im Bild zu bleiben – aus der Mode gekommen. Und zu meiner Rechtfertigung erwähne ich noch: das alles hatte ich Dir schon lange mal sagen wollen; und nun habe ich ungeniert die gebotene Chance genutzt.

Bis hierher hat mir mein Gedächtnis ausgereicht; nun folge ich, nach so langer Zeit, erneut der "Spur der Steine". Und es stellt sich heraus: nichts muß ich zurücknehmen. Im Gegenteil. Ich kann alles bekräftigen. Und ergänzen.

Es ist Dein Mut zur Wahrheit, der beeindruckt. Zu unbequemer, aufmüpfiger, auch schmerzhafter Wahrheit; und nicht einfach irgendeiner in die Welt hinein, auch nach innen, auch gegen sich selbst; dieser Mut, den Deine Helden leben. Unterschiedlich allerdings, verschieden in Tiefe und Konsequenz.

Einen Schritt weiter: es ist ihnen Bedürfnis, zu solchem Mut zu finden. Sie wollen ihn in sich finden. Sie quälen sich, aber sie können nicht anders. Das aber ist der Zeit geschuldet, in der sie leben, dem Aufbruch. Und so wird ihr subjektives Bedürfnis erhoben in gesellschaftliches, in die Notwendigkeit der Entwicklung. – Na, ja, große Worte, bißchen abstrakt vielleicht, aber nur für den, der Deinen Roman nicht gelesen hat.

Balla zum Beispiel. Aus meiner Sicht der Hauptheld. (Ich weiß, Du siehst das anders. Trotzdem.) Balla, der Zimmerer, der Brigadier. Der Raufbold, der Tyrann. Balla, der Arbeiter. Der schließlich unbestechlich Gerechte. Der Suchende. Seine Geschichte rechtfertigt die Bezeichnung Entwicklungsroman. Ist Übereinstimmung mit gesellschaftlich Notwendigem wie auch dessen Ausdruck. Balla als Katalysator, als Herausforderer, als Anreger für den Parteisekretär, auch als dessen Problem; wäre Horrath ohne Balla der, der er schließlich (geworden) ist?

Ich formuliere rigoros: Wer über die Beziehungen von Arbeiterklasse und Partei angeregt nachdenken will, muß die Geschichte von Balla und Horrath lesen. Muß diese Beziehung als Spannungsfeld begreifen, als äußerst dynamisches, widerspruchsvolles Spannungsfeld. Leseprobe:

Balla mußte es aufspüren, und er stellte nun doch die Frage, die ihn seit Tagen quälte: "Wissen möchte ich, warum du das alles tust. Warum schlägst du dir die Nächte um die Ohren, läufst hierhin und dorthin und fährst auch noch sonntags aufs Land? Du kriegst doch keinen Pfennig dafür, stimmt es nicht? Ich komm auf neunhundert Mark im Monat, mindestens, wenn wir Massen haben, Beton zum Beispiel. Du verdienst vielleicht achthundert, höchstens. Warum, möchte ich wissen, bist du dafür dauernd unterwegs? Warum strampelst du dich ab, streitest dich rum, manchmal nur wegen ein paar lumpiger Stunden? ... "Ich will ehrlich sein," fuhr Balla fort. "Weil auch du es bist, zu mir jedenfalls. Mich haben sie gefragt, in der Nacht. Honigmund, der Maurer. Was dabei ist, wenn die Wand eine Woche später fertig wird. Ich habe keine Antwort darauf gewußt." Horrath atmete tief. Er prüfte die Glaubwürdigkeit auch dieser Frage ... Aber er war sich noch unschlüssig und sann laut: "Tja, wie soll ich dir das erklären ..." "Ich bin Kommunist", sagte er. Balla winkte sofort ab. "Das kenn ich ..."

Horrath blickte auf die verschleierten Scheiben und suchte nach einer Entgegnung, die nicht phrasenhaft klingen sollte ...

Balla konnte sehen, daß Horrath arbeitete. ... Balla wäre es lieber gewesen, wenn Horrath sofort erwidert hätte, wie aus der Pistole geschossen, ohne zu grübeln. Sobald einer erst denkt, ehe er spricht, weiß man nie, was er verschweigen will... "Ich könnte dir vorrechnen, haargenau, wie viel eine Wand kostet, wenn sie um eine Woche verzögert wird. Auf Heller und Pfennig könnte ich das ..." Horrath lauschte seinen Worten nach. "Doch das ist es nicht, nicht das allein, daß ich für die wirtschaftliche Überlegenheit meines Landes kämpfe. Es ist viel mehr. Jede Stunde des Lebens, Balla, fordert eine Entscheidung von uns, heute, in unserer Welt. Die menschliche Gesellschaft strebt einem einzigen Ziel entgegen, dem Sozialismus. Niemand kann sich davor verschließen. Es ist ein Wettlauf um Meter und Sekunden, er reißt jeden mit. Man kann keine Pause einlegen, wenn man gewinnen will. Eine einzige Stunde, die ungenutzt verstreicht, kann über Sieg oder Niederlage entscheiden, über ein sinnvolles oder über ein verpfuschtes Leben. So hart stoßen sich heute die Dinge..." (Spur der Steine, Mitteldeutscher Verlag, 1966, S. 348/350)

Jetzt lese ich Dir schon Deinen eigenen Text vor. Entschuldige bitte, es hat mich mitgerissen. Aber ganz unabhängig davon, ob jeder alle Deine Antworten akzeptiert oder akzeptieren kann – um Deine Fragen jedenfalls kommt er nicht herum. Wenn er nur ein ernster Mensch ist.

Sollte nun ein Leser der "Mitteilungen" nach meinem Brief zu Deinem Achtzigsten auf die Idee kommen, "Spur der Steine" erneut zu lesen oder gar erstmals, was mich natürlich freuen würde, darf ich vielleicht doch diese Warnung nicht unterdrücken: Ja, es ist wirklich "alles drin" in diesem Buch, alles, was von Gewicht und Bedeutung war im Leben der DDR. Vor rund einem halben Jahrhundert war das die Mindestforderung an sozialistische Literatur. Und es hing ja auch wirklich alles zusammen. Andererseits: wie Du es vermocht hast, abseits oder jenseits von jeglichem Klischee unaufdringlich etwa für Balla und den Maler Voss auf der Baustelle eine Ebene der Begegnung "auf gleicher Augenhöhe", wie man das heute ausdrückt, zu schaffen, das fordert Respekt. Den ich sehr gern zolle. Ich vermute, Deine Freundschaft mit Willi Sitte hat Dir wesentlich geholfen. Oder wie Du glaubwürdig erzählst, daß ein Großbauer und Halsabschneider Gründer einer zweiten LPG im Dorf wird. Der Leser glaubt ahnen zu können, wie das wahrscheinlich ausgeht; und irrt, denn die Geschichte geht dann doch einen anderen, ihren eigenen, überraschenden Weg.

Deine Helden sind nicht ohne Irrtümer. Natürlich nicht. Sie sind es, denke ich, absichtsvoll, auf daß der Leser gleiche Irrtümer vermeiden lernt. Aber auch der Autor ist nicht frei von den Irrtümern seiner Zeit; zum Beispiel jenem, daß die Vollendung der sozialistischen Revolution, der Aufbau der neuen Gesellschaft das Werk von vielleicht zwei, drei Generationen sein würde, leicht in Zweifel gezogen, wenn der Bezirkssekretär Hansen "die roten Fahnen auf allen Betrieben und die Menschlichkeit im Jahr 2000" einen früheren, naiven Traum nennt.

Zurück zu Deinem großen, eigentlichen Thema, der spannungsvollen, immer nach Übereinstimmung strebenden Widersprüchlichkeit Arbeiterklasse – Partei. In "Spur des Lebens" antwortest Du auf eine entsprechende Frage, den Partner Klaus Walther korrigierend:

Ich brauchte zu meiner Herkunft keine Kluft zu schließen ... Was ich mit "Spur der Steine" tat, war nichts anderes, als daß ich über die Welt schrieb, aus der ich kam, zugegeben, in poetische Prosa gesetzt. Zugespitzt: Ich erzähle in dem Roman von meiner Klasse wie Thomas Mann von der seinigen in den "Buddenbrooks". Balla und Horrath könnten meine Brüder gewesen sein..." (S.111)

Aus vollem Herzen füge ich an: Meine auch!

In Betrachtung der Menge bereits vollgeschriebenen Papiers und des begrenzten Umfangs der periodischen "Mitteilungen" will ich auf die "Suche nach Gatt" verzichten. Sagen aber muß ich Dir und den Lesern: Man mußte wirklich nicht auf "Spur des Lebens" warten, um Antwort auf die spannende Frage zu erhalten, wie denn ein Erik Neutsch die Implosion all dessen, was ihm lieb und teuer war, verkraftet hat. "Nach dem großen Aufstand" zeigte bereits das "Rezept": Weiter arbeiten! Tiefer denken! Schreiben.

Es ist schon eigenartig, heute erneut die "Spur der Steine" zu lesen; heute, mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Aufbruch in ein neues, besseres Leben, den Du beschreibst und den der damals vielleicht selbst beteiligte Leser nun im Lesen erneut erleben kann, heute, wo "das Jahr 2000 und seine Güte" bereits Geschichte sind. Ich habe an mir bemerkt, in welchem Maße mir Sensibilität zugewachsen ist, wie viel mehr kritisch ich die echten Töne unterschied von weniger überzeugenden. Nein, das ist nicht Mißtrauen. Eher weitere Übung, übertragbar von dem Verhältnis zu Literatur in Erkennbarkeit von Falschheiten im Leben.

So wie eben auch Balla, von Dir durch die Geschichte geführt, an Horrath lernt; und umgekehrt Horrath an Balla. "Ich bin Kommunist", hatte Horrath gesagt. Ja.

Seit seiner ersten Begegnung mit Balla hat er versucht, ihn, besonders ihn, für das schwere Glück zu gewinnen, das Kommunismus heißt ... (S. 793)

Aber täglich hatte er zu lernen, wahrhaftig zu sein. Und Balla schließlich zwingt ihn mit seinem Vertrauen zur letzten konsequenten Ehrlichkeit zu sich selbst und gegenüber der Partei.

Und es erübrigt sich die Frage, ob denn nun alles umsonst war. In "Spur des Lebens" zitierst Du Marx. Dieses Zitat, so sehe ich das, faßt und hält zusammen, was unser aller Versuche, Geschichte zu verstehen, ausmacht; was außerdem Deine und unser aller Bemühungen um den Einfluß auf ihren Lauf und was auch Dich und Dein währendes Suchen nach Wahrheit beschreibt:

Proletarische Revolutionen ... kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar vollbrachte zurück, um es wieder vom neuen anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche ...schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: "Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!" (S. 115/116)

In diesem Sinne möchte ich Dich, lieber Genosse Neutsch, immer bei jenen vermuten, die die Verhältnisse zum Tanzen bringen. Mit sehr herzlichen Grüßen, Dein Werner Wüste

 

Mehr von Werner Wüste in den »Mitteilungen«: 

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2009-11: »Poj lastotschka, poj …!«

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2008-06: Die Kraft der Schwachen – Für Anna Seghers