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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Der Bittere

Werner Wüste, Wandlitz

 

So nannte er sich selbst. Wäre es möglich, würde ich mit ihm streiten. Als bitter, verbittert gar, empfinde ich ihn nicht. Andererseits: süß oder sanft war das Leben keineswegs, das schonungslos zu beschreiben er sich vorgesetzt hatte und von welchem Vorsatz er, so weit ich das beurteilen kann, auch kein Jota abwich. Aber eben solches kann doch nur jemand tun mit fast grenzenlosem, unerschütterlichen Optimismus, mit fest gegründetem Vertrauen in die Menschlichkeit, in die Kräfte und den Willen zur Veränderung des bitteren Lebens!

Gorki ist unbestritten einer der Großen der Weltliteratur, so ganz und gar unzweifelhaft, daß auch die bürgerliche Literaturwissenschaft, die bürgerliche Ästhetik ihn nicht ignorieren kann. Ebenso wenig wie etwa Tolstoi, Turgenjew oder Dostojewski oder die russische Tradition des Romans überhaupt. Ob es diesen Begriff schon irgendwo gibt, weiß ich nicht: Ich würde das Ganze zusammenfassend den "russischen Realismus" nennen; der übrigens auch die Bildende Kunst, die Musik, die Lyrik wie die Darstellende Kunst dominiert.

So gab es für Gorki (und gewiß nicht nur für ihn) zwei starke, sein Schaffen bestimmende Faktoren: eben diesen "russischen Realismus", diese Tradition, diese Schule und dazu allerdings eine gesellschaftliche Situation, die immer deutlicher zu revolutionären Veränderungen tendierte und drängte.

Die marxistische Literaturwissenschaft fand den Begriff des "Sozialistischen Realismus" für jenen Gorkischen, der über den kritischen Realismus hinaus wies. Sein Roman "Die Mutter" gilt als dessen Geburtsurkunde. In ihm wird zum ersten Mal in der Weltliteratur der Kampf der organisierten revolutionären Arbeiter beschrieben gegen jene Zustände, die zuvor schon von den besten Realisten unter den Schriftstellern kritisch beschrieben worden waren. Ein Weg wird gewiesen. Kräfte in der Gesellschaft werden gezeigt, die mehr und mehr bewußt diesen Weg gehen.

Von Unverständnis bis Haß reichen folgerichtig die Reaktionen der Gegner. In allen denkbaren Schattierungen: Verhöhnen, Miesmachen, Beschimpfen, Verunglimpfen, Denunzieren. Bis auf den heutigen Tag. Manche Meinungsverschiedenheit zwischen Lenin und Gorki wird mal gegen diesen, mal gegen den anderen in Stellung gebracht; Gorki wird als Opportunist, als Feigling, als Fundamentalkritiker dar- oder hingestellt, je nach Bedarf. Man darf vermuten, daß im Zusammenhang mit seinem 75. Todestag (er starb am 18. Juni 1936) dieses Süppchen wieder umgerührt wird.

Natürlich waren da auch schwache literarische Leistungen, die der Idee des sozialistischen Realismus schadeten, in dessen Namen sie auftraten. Und scheinbar gaben die seinen Kritikern recht. Er ist eben kein Rezept. In jüngerer Zeit wurde es ruhiger um Idee und Begriff. Aber auch im anderen Fall sähe ich keinen Grund, vom Sozialistischen Realismus abzurücken, den Begriff aufzugeben. Jedenfalls nicht, solange kein besserer existiert.

Mit dem Namen Gorki verbindet sich für mich ein unvergeßliches Erlebnis. 1956 hatte ich mich an der Deutschen Hochschule für Filmkunst (später für Film und Fernsehen) für die Regie-Klasse beworben und war zur Eignungsprüfung eingeladen worden. Ich war Grenzer, und es war nicht selbstverständlich, zu einem solchen Anlaß frei zu bekommen. Überhaupt hing von der Zulassung zum Studium viel für mich ab. Der Kommission saß Koni Wolf vor. "Ich freue mich, einen Offizier der Grenzpolizei begrüßen zu können", eröffnete er das Gespräch. Das tat mir gut. Ich empfand aber auch Spannung im Raum. Ich war aufgeregt. Eine skizzenhafte Zeichnung wurde mir vorgelegt. Ob ich damit etwas anfangen konnte, lauteten Frage und Aufforderung. Ich konnte. Und ob ich bevorzugte Schriftsteller habe und welche das seien. Ich nannte Nexö und Gorki. Und ob ich wohl auch etwas im Gedächtnis hätte, das mich besonders beeindruckt hat, das ich erzählen könnte. Ja. Habe ich. In sieben Gesichter stand Aufmerksamkeit und Erwartung geschrieben. Gorkis Erzählung "Ein Mensch wird geboren" war mir eingefallen. Die hatte mich beim ersten Lesen in der Tat stark beeindruckt. Als ich zu sprechen begann, hatte ich überhaupt keinen Raum für einen Gedanken, der mir heute selbstverständlich ist: daß ich nämlich beim Lesen immer mich selbst in der jeweiligen Situation sah und daß meine Bewunderung für den Helden der Erzählung umso größer war, je weniger ich mir vorstellen konnte, in ihr selbst zu bestehen. Ich vermute, das geht anderen Menschen auch so, selbst wenn sie sich dessen nicht bewußt sind. Die Geschichte darf ich wohl und muß ich sowieso als bekannt voraussetzen; ich würde sie nur unvollkommen wiedergeben können. (Und wer sich nicht erinnert, sollte ruhig mal wieder zu Gorkis Erzählungen greifen. Sie sind es wert.)

Nachdem Gorki (er ist der Ich-Erzähler und man darf wohl annehmen, daß die Geschichte erlebt ist), nachdem er also der verstörten jungen Frau geholfen hatte, abseits der Straße, die sie gezogen war, ihr Kind zur Welt zu bringen, trägt er das Neugeborene zum nahen Strand, wäscht es und hält es auf ausgestreckten Armen der Sonne entgegen. So erzählte, so endete ich. Stille im Raum. Niemand sagte etwas. Ich war irritiert. Alle sahen mich erwartungsvoll an. Bis Koni Wolf es nicht mehr aushielt: "Na und weiter? Was weiter?" Er rief es fast, drängend, auffordernd. Ich schwieg betreten. Mir fiel nicht ein, was er meinen könnte. "Brüll doch! Schrei! Beklage Dich laut! Laß dir nichts gefallen! Sag den Ungerechtigkeiten dieser Welt den Kampf an!" …

Wie oft in meinem Leben habe ich an diese Situation denken müssen; wie ich in wenigen Augenblicken, dank Koni Wolf, Wesentliches über Maxim Gorki und dank beiden auch etwas über mich gelernt habe.

 

Mehr von Werner Wüste in den »Mitteilungen«: 

2009-11: »Poj lastotschka, poj …!«

2009-09: Reflexionen zur jüngeren Geschichte – Klartexte

2008-06: Die Kraft der Schwachen – Für Anna Seghers

2007-12: An die Delegierten und Gäste der Bundeskonferenz