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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

»Und doch gefällt mir das Leben ...«[1]

Werner Wüste, Wandlitz

 

Beim ersten Besuch bin ich glatt vorbeigefahren. Und auch beim zweiten hab' ich es zu­nächst übersehen: Das Ortseingangsschild. Es ist, entgegen der üblichen Weise, längs zur Straße aufgestellt. Neuendorf im Sande.

»Im Sande« ist zutreffend. Es liegt in einer Schwemmsandrinne, entstanden beim Ab­schmelzen eines Eiszeitgletschers.

Hauptsächlich von zwei Frauen soll hier berichtet werden. Von zwei Jüdinnen. Der Pädago­gin Clara Grunwald und der Fotografin Charlotte Joel. Neuendorf im Sande war ihre ge­meinsame, vorletzte Lebensstation. Von hier aus wurden sie deportiert. Nach Auschwitz. Im April 1943.

Ein Jahr zuvor hatte die sogenannte Wannseekonferenz für die Endlösung der Judenfrage die Weichen gestellt:

»Anstelle der Auswanderung ist nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechen­der vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten ... Unter entsprechender Leitung sollen nun im Zuge der Endlösung die Juden in ge­eigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird ... Der allfällig verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den wider­standsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen ...«

Verfasser des »Besprechungsprotokolls, Geheime Reichssache in 30 Ausfertigungen« war Adolf Eichmann.

Die Lehrerin

Clara Grunwald wurde 1877 in Reydt geboren. Ihr Vater war Rabbiner und Religionslehrer. Sie liebte und verehrte ihn sehr. Clara besuchte eines der »pädogogischen Seminare«. Ein akademisches Studium konnte die Familie sich nicht leisten, Volksschullehrerin aber konn­te sie werden. Ihr pädagogisches Talent sprach sich herum. Andere Lehrer schickten ihre »Probleme« zu ihr. Von Bertel Elmenreich, die, achtjährig, weder lesen noch schreiben konn­te, wird noch zu erzählen sein.

Egon Larsen schreibt:

»Es muß wohl unter dem erschütternden Eindruck des ersten Weltkriegs gewesen sein, daß Clara, die Rabbinertochter, ihre Stellung zur Religion von Grund auf revidierte. Sie trat aus der jüdischen Gemeinde aus ... weil sie einfach nicht an einen ewigen und allmächtigen Gott glauben konnte – einen Gott, der das sinnlose Massenmorden auf den Schlachtfeldern ge­statten konnte.« [3]

1933, nach Hitlers Machtübernahme, trat sie der jüdischen Gemeinde wieder bei. »Es war ihrpersönlicher Protest gegen den Judenhassdes neuen Regimes.«

Es verwundert nicht, weder, dass Clara Grunwald sich zu den Quäkern hingezogen fühlte – sie schätzte deren praktische Hilfe »für die, die sich nicht selber helfen konnten« –, noch, dass sie zu einer überzeugten Montessori-Pädagogin wurde. Bald leitete sie die deutsche Montessori-Bewegung.

1933 wurde der Jüdin Clara Grunwald die Lehrerlaubnis entzogen. Bald wurden alle Berli­ner Montessori-Kinderhäuser von den Nazibehörden gesperrt. Jetzt sah sie ihre Aufgabe darin, jüdischen Kindern zur Auswanderung zu verhelfen. Mehrfach und dringlich rieten ihre Freunde zur Emigration. Erst, wenn sie dem allerletzten Juden hinausverholfen habe, erwiderte sie. Die Menschen, denen sie helfen kann, dürfe sie nicht im Stich lassen.

Die Fotografin

»Irgend ein Bekannter hatte sie zu Clara geschickt, von der man wußte, daß sie immer ein Herz für hilflose Menschen hatte. Sie lud Charlotte ein, bei ihr zu wohnen: die Fotografin sollte ihr etwas von ihrer Kunst beibringen, und als Gegenleistung wollte Clara die unprak­tische Charlotte mit den Anfangsgründen der Hausarbeit vertraut machen.« [2]

Sehr viel wissen wir nicht von Charlotte Joel (1882-1943). Und auch eine Fotografie, die die talentierte und bald auch sehr gefragte Fotografin selbst abbildet, wurde bisher nicht gefunden. Bei wem sie ihren Beruf erlernte, ist ebenso wenig überliefert.

Charlotte Joel porträtierte manchen bedeutenden und prominenten Zeitgenossen: den Pu­blizisten Gustav Landauer, den Literaturwissenschaftler Friedrich Podszus, den Religions­philosophen Martin Buber. Die meisten ihrer Arbeiten sind bis heute nicht auffindbar. Ihr Archiv gilt als verschollen.

Sehr bekannt wurden ihre Fotoporträts von Karl Kraus und Walter Benjamin. Hat ihr jünge­rer Bruder, der Drogenspezialist, ihre Bekanntschaft mit Walter Benjamin, mit dem er eng befreundet war und den sie mehrfach fotografierte, vermittelt? Oder war es umgekehrt? Wir wissen es nicht.

»Die Eindringlichkeit, mit der sie das Wesen eines Menschen im Bild erfasste, war un­gewöhnlich ...«

Ihre Verbindung zu den Benjamins war anhaltend und eng. Sie fotografierte nicht nur den Philosophen und Publizisten Walter, sondern auch den Mediziner und Kommunisten Georg und ihrer beider Schwester Dora, später Hilde Benjamin und Sohn Mischa. Und auch mich. 1937.

Schon 1933 war ihr Atelier »arisiert« worden. Arbeitsplatz, Einkommen, Vermögen, Woh­nung, die Lebensgrundlagen also, hatten die Nazis ihr genommen. Wir wissen aber, und er­haltene Fotos belegen das, dass sie das Berufsverbot immer wieder ignorierte. Bis zuletzt.

Die Notlösung

Im Oktober 1941 übersiedelten Clara Grunwald und Charlotte Joel nach Neuendorf im Sande. Da war die ehemalige Hachschara-Ausbildungsstätte bereits NS-Zwangsarbeits- und Sammellager für Deportationen.

Mündel Bertel Elmenreich hatte längst Martin Gerson geheiratet. Sie waren die jüdischen Verantwortlichen für Neuendorf. Das erleichterte die Übersiedlung der beiden Freundin­nen.

Egon Larsen: »Die Übersiedlung nach Neuendorf ... war schon deshalb ein Ausweg, weil Clara als Lehrerin und Charlotte als Fotografin keine Möglichkeit mehr hatten, in ihren Be­rufen weiter zu arbeiten und damit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Alles war im Dritten Reich für Juden verboten, aber Neuendorf war eine Notlösung.«

Lösung? Eine Not hatte lediglich die andere, letzte abgelöst.

Nach dem Untergang des »Tausendjährigen Reichs« verschlang ich, 13/14-jährig, alles Er­reichbare über die Zuchthäuser und Lager der Nazis. Wie man dort hatte leben können, war mir lange nicht vorstellbar. Die Erzählungen meines Vaters und allerdings Bruno Apitz' »Nackt unter Wölfen« halfen mir zu verstehen: Auch das Grauen hatte seinen Alltag.

Clara Grunwald hat diesen Alltag in Neuendorf bewusst angenommen.

Aus ihren Briefen:

Es kommt alles darauf an, welcher Gruppe man zugeteilt ist; die erste ist fort ... Meine Kin­der sind völlig verrückt vor Angst, daß wir getrennt werden. Sie wollen auch alles auf sich nehmen, rechnen mit allem, aber sie wollen mit uns zusammen bleiben.

Es sind augenblicklich 180 Menschen hier. Männer und Frauen, oft sind es gegen 200 Men­schen ... Wir haben eine Kleiderkammer, aus der gegeben wird, wenn einzelne dringend et­was benötigen. An die Ausstattung für die Wanderung (hic!) soll bald herangegangen werden.

Wir sind daran gewöhnt, daß nicht alles so geht, wie wir möchten, daß wir einen Aufschub von etwas, das uns Freude gemacht hätte, nur eben als Aufschub empfinden, als eine Freu­de, die wir noch vor uns haben ... Vielleicht ist es auch besser für Dich, dann zu kommen, wenn es nicht mehr so kalt ist. Wir haben 20° Kälte und mehr und in den Zimmern morgens 3° minus.

Auf dem Wege

Meine liebe Freundin, ich muß Dir etwas sehr Trauriges mitteilen: einige 60 Menschen, ein knappes Drittel, haben gestern fortfahren müssen ...

Zwei Paare, die sich nicht trennen wollten, von denen aber nur ein Teil betroffen war, haben noch heiraten können, so daß auch der andere Teil mitgehen konnte ...

Du kannst Dir von der Totenstille, die heute herrscht, keine Vorstellung machen.

Meine Freundin Charlotte ist sehr überlastet, und 13 Arbeitsstunden in der Küche wird sie nicht lange aushalten. Da helfe ich ihr abends noch, die Brote für den nächsten Morgen zu schneiden und zu streichen.

Die Obstbäume blühen, die Blätter der Laubbäume sind plötzlich groß geworden und haben doch noch die helle Farbe und den frischen Glanz der ersten Jugend ... Alles ist lieblich und schön in der Natur, als hätten die Menschen nicht lauter Leid und Zerstörung geschaffen.

Die Kinder schaffen eine ganze Menge. Wir machen zusammen die Wohnung sauber und ver­sorgen die Küche, machen den Abwasch. Die Kinder bearbeiten und gießen die Beete. Morgen will ich mit ihnen zusammen Strümpfe stopfen und ihnen dabei allerhand Wissens­wertes erzählen.

Vollkommen gut und gütig zu werden, das ist ein Ziel, dem wir zustreben, wenn wir auch wissen, daß wir es nicht erreichen werden. Wer das Ziel will, muß auch den Weg wollen, und auch dann, wenn er sehr dornig ist. Auf dem Wege zu sein, das ist ein Grund, ruhig zu sein … Ich zwinge mich, weniger unter dem, was andere (oder mich) betrifft, zu leiden, damit mir alle seelische Kraft für das Handeln erhalten bleibt.

Frau Grashusen sandte uns wundervolle Füßlinge, die sie mit der Hand zu Socken vervoll­ständigt hat. Ein herrliches Geschenk. Charlottchen und die Kinder haben jetzt warme Füße. Wenn Du Annemarie schreibst, sage ihr auch, daß Carmens Nierenerkältung, die ihr viel zu schaffen machte, sich infolge der Wärme durch die schönen Schlüpfer sehr gebessert hat.

Habe ich Dir eigentlich erzählt, daß unsere Ruth sich so vorteilhaft verändert hat? ...

Bertel hatte sie zu sehr verwöhnt, vor allem hatte sie sie zu wenig zu nützlicher Hilfsarbeit angehalten, und wie soll ein Kind in sich soziale Gefühle entwickeln können, wenn es keine Gelegenheit zu sozialen Handlungen hat?

Die großen Hausschuhe hat Bertel bekommen, die kleinen die Gutssekretärin, die das Päck­chen herüber gebracht und beim Auspacken zugesehen hatte. Sie ist so ein ganz besonders guter Mensch, der nur für andere arbeitet und sorgt und so gut wie gar nichts mehr hat, weil sie die Not der anderen immer größer findet als die eigene und immer selbst die notwendigs­ten Dinge abgegeben hat. Ich war sehr erfreut, daß sie die Schuhe sehr gern haben möchte.

Dann gab es keine Briefe mehr.

Und diese Fotos, Ruth und Mirjam, Töchter von Bertel und Martin Gerson, gehören sehr wahrscheinlich zu den letzten von Charlotte Joel.

Ruth war etwa in meinem Alter. Hät­ten wir uns kennengelernt, wäre sie vielleicht meine Freundin geworden, wie auch Mischa mein Freund war.

So viel hoffnungsvolles, ungelebtes Leben!

 

Anmerkungen:

[1] Clara Grunwald, wenige Monate vor der mit Gewissheit erwarteten Deportation.

[2] Fotos und Zitate aus: Egon Larsen, Und doch gefällt mir das Leben, Die Briefe der Clara Grunwald, Hentrich & Hentrich, Berlin 2015 (Erstausgabe: Persona Verlag Mannheim 1985).

[3] Kenntnisse in der Hausarbeit konnten in bestimmten Ländern Voraussetzung für ein Visum zur Immigration sein.

 

Mehr von Werner Wüste in den »Mitteilungen«: 

2017-07: Du verstehst, das Harte unterliegt

2016-09: Der Erste. Mehrfach. Und bemerkenswert.

2016-05: Lenin und die DEFA​​​​​​​