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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Du verstehst, das Harte unterliegt

Werner Wüste, Wandlitz

 

Im August 1940, einen Monat früher als Walter Benjamin [1], verließ auch ein anderer berühmter Deutscher auf dieselbe beschwerliche Art Frankreich: zu Fuß über die Pyrenäen, auf gefährlichen Wegen, abseits bequemer Straßen: Heinrich Mann.

Wir fragten einen Einheimischen, der uns gleich verstand. »Nach Spanien? Hier.« Die Hand des Mannes riet uns, von der Straße abzuweichen auf einen kaum gebahnten Anstieg. Bald verlor der Weg sich im Gestrüpp ... Am besten versetzte man sich in die Gewohnheiten der Ziegen, die hier sonst verkehrten. Heute, Sonntag, blieben sie zu Hause. Unterwegs waren nur wir ... Ich hatte seit Jahrzehnten keinen beträchtlichen Berg mehr bestiegen, war nunmehr ungeschickt und nicht jung: ich fiel recht oft auf die Dornen. In die Füße drangen sie ohnedies, fehlte noch, mit den Händen hineinzugreifen. (Heinrich Mann, Ein Zeitalter wird besichtigt, Aufbau Berlin und Weimar 1982, S. 442 ff.)

Da war er immerhin schon im siebzigsten Lebensjahr, Benjamin rund 20 Jahre jünger. Der aber krank am Herzen.

1990 gab es in Marbach eine Walter-Benjamin-Ausstellung und dazu ein Buch, weit mehr als ein Katalog. Was an Berichten und Dokumenten erschlossen werden konnte, ist hier beeindruckend versammelt. Auch die Beschreibung der letzten Ereignisse durch Lisa Fitkow, Henny Gurland und deren Sohn Joseph.

I never had any doubts that Benjamin indeed had killed himself ... I am sure that it was essential then for us that the act of suicide be hidden from the police. (nach einem Brief von Joseph Gurland an Rolf Tiedemann, einen der beiden Autoren von Ausstellung und Buch)

Bekanntlich hatte Benjamin die Auslieferung an Deutschland fürchten müssen. Denn angeblich war über Nacht eine neue Gesetzeslage entstanden. Ob diese nur behauptet oder gezielt und ausschließlich ihm galt, konnte nie definitiv geklärt, aber vermutet werden.

1940 Flucht und Tod. 1990 Ausstellung und Buch. 2006 ein Dokumentarfilm: Wer tötete Walter Benjamin?

So fragt der Regisseur David Mauas, der im Auftrag des israelischen Fernsehens eigentlich nur eine siebenminütige Reportage zum 60. Todestag Benjamins drehen sollte. Und beim Recherchieren sich festbiss, auf Ungereimtheiten stieß, auf Widersprüche, einander ausschließende, unglaubwürdige Aussagen; und dabei Fakten zusammentrug, die für sich sprechen.

JÜDISCHE ALLGEMEINE, 30. November 2006, Michael Olmer:

... Der verzweifelte Benjamin tötete sich ... mit einer Überdosis Morphium. So steht es in den Geschichtsbüchern. Doch der argentinische Dokumentarfilmer David Mauas glaubt an eine andere Version ... Warum, fragt Mauas, konnten alle anderen festgesetzten Flüchtlinge, auch Benjamins Begleiterin Henny Gurland, am nächsten Tag weiterreisen? Und wenn es Selbstmord war: Warum wurde dann auf Benjamins Totenschein Herzinfarkt als Todesursache angegeben?

Überhaupt der Totenschein: Unterschrieben war er von dem Arzt Vila Moreno. Doch der hielt sich am Tag von Benjamins Tod nicht in Portbou auf. Wahrscheinlich, glaubt Mauas, war es ein anderer örtlicher Mediziner, Pedro Gorgot, der Walter Benjamin in seinem Hotelzimmer behandelte. Gorgot aber war Chef der örtlichen Falange, der spanischen faschistischen Bewegung. Und, wie ein Historiker im Film berichtet, arbeitete er für die Gestapo, die ein Verbindungsbüro in Portbou unterhielt. Auch der Besitzer des Hotels Fonda de Francia, in dem Benjamin starb, hatte Naziverbindungen. 1945 flüchtete er nach Venezuela, als die französische Regierung ihm einen Kriegsverbrecherprozeß wegen Kollaboration machen wollte. Gegen die Selbstmordthese spricht auch, daß der Jude Benjamin auf dem katholischen Friedhof Portbous beerdigt wurde. Der Priester, der die Beisetzungszeremonie leitete, war für seinen religiösen Dogmatismus bekannt. Einen Selbstmörder hätte er in geweihter Erde nicht einmal dann beerdigt, wenn es sich um den Papst gehandelt hätte, sagt im Film ein Zeitzeuge...

Einen Schlussstrich?

Nun mag es ja Menschen geben, die meinen, nach so vielen Jahren sei es unerheblich, ob die genauen Umstände von Benjamins Tod und dessen wirkliche Ursachen definitiv geklärt sind.

Doch, es gibt solche Zeitgenossen. Wie auch nicht wenige meinen, es sei endlich ein Schlussstrich zu ziehen. Worunter denn? Unter die Gräuel der Gestapo? Die Vernichtung der Juden? Den Massenmord an Kriegsgefangenen? Und warum eigentlich?

Michael Benjamin, Walters Neffe, gibt indirekt Antwort. Er gab sie bereits 1993 in Amsterdam zur Eröffnung einer Ausstellung im Institut für Sozialgeschichte.

Walter Benjamin überschritt, von den Nazis und ihren Handlangern verfolgt, eingekerkert und krank gemacht, in Port Bou schließlich die letzte Grenze. Er starb an einer Gesellschaft, in der ein ungewöhnlicher Mensch nur bestehen konnte, wenn er zum gewöhnlichen Unmenschen wurde. Walter Benjamin starb als Flüchtling, dem das Asyl verweigert wurde – einer von Zehntausenden. Die Parallelen zum heutigen Geschehen sind bedrückend. Könnte Walter Benjamin heute in Deutschland Asyl erwarten? War Südfrankreich nicht auch noch ein »sicheres Land«? Und waren die Verfolgungen, deren Walter Benjamin gewärtig sein mußte, nicht solche, die gleichmäßig jeden seiner Art und Abstammung getroffen hätten? (Michael Benjamin, Das Vermächtnis, edition ost 2006, S. 72)

Es zeugt von verantwortungsbewusster Nachdenklichkeit, so zu fragen. Und jene, die die »Schlussstrich«-Diskussion begannen, haben dabei eigene Untaten im Sinn bzw. wollen verdeckt und verdunkelt halten, was diesen heute so sehr ähnelt.

Noch Schätze zu heben

Es gibt tausend gute Gründe, immer wieder an Walter Benjamin zu erinnern. Geistige Landschaft in unserer Zeit ohne ihn ist ärmere Landschaft. Und zudem scheint mir, dass sein Erbe, besonders wo es die Grenzen bürgerlichen Denkens überschreitet, wo es philosophisch-materialistisch, wo es marxistisch wird, noch längst nicht erschlossen wurde. Dass da vielleicht noch Schätze zu heben sind.

2014 erschien bei Suhrkamp ein Taschenbuch: Erdmut Wizisla, Benjamin und Brecht, Die Geschichte einer Freundschaft.

(Man könnte scherzen: An der Quelle saß der Knabe ... Wizisla ist seit 1993 Leiter des Brecht-, seit 2004 Leiter des Benjamin-Archivs der Akademie der Künste.)

Nach mehrmaligem Durchblättern, unterbrochen von gelegentlichem Innehalten und aufmerksamem, nachdenklichen Lesen, bin ich sicher, dass uns hier ein bedeutendes Dokument europäischer Geistesgeschichte vorliegt.

Es mag ja an mir liegen, dass ich es nicht genauer wusste; aber erst hier fand ich belegt, dass Gershom Scholem, dessen Aussagen als absolut gesetzt werden, nicht immer und in allem bedingungslos Freund von Walter Benjamin war, dass Scholem Walter Benjamin mehr und mehr kritisch sah und zwar in dem Maße, wie Benjamin sich marxistischem Denken, marxistischer Sicht öffnete. In Übereinstimmung mit Brecht. Fast könnte man Eifersucht nennen, wie Scholem die entstehende und sich entwickelnde Freundschaft mit Brecht beobachtete.

Und es ist wohl überhaupt so, dass, sollte unsere Vorstellung die von herzlicher Harmonie, von ein für alle Mal gegebener Freundschaft, von Konfliktlosigkeit, von unveränderbaren Standpunkten in der linken Intelligenz gewesen sein, wir diese radikal verlassen müssen. Die Realität war anders. War viel beweglicher, lebendiger. Und interessanter. Und Freundschaften blieben Freundschaften, jedenfalls der Möglichkeit nach, trotz schärfster Auseinandersetzung in der Sache.

Wizisla nennt Adorno, dessen spätere Frau Gretel Karplus, Ernst Bloch, Siegfried Kracauer und andere, die eine kritische Sicht auf Benjamins Ansichten entwickelten.

An Gretel Karplus antwortet Benjamin, und er meint alle Freunde: »... kann ich wenig mehr tun als das Vertrauen meiner Freunde dafür erbitten, daß diese Bindungen … ihre Fruchtbarkeit zu erkennen geben werden. Gerade Dir ist es ja keineswegs undeutlich, daß mein Leben so gut wie mein Denken sich in extremen Positionen bewegt.«

Wizislaw erklärt: Selten hat Benjamin es deutlicher … beschrieben: Zum Originären seines Denkens zählt gerade der Versuch, gegensätzliche Positionen zu verknüpfen. Die auf der Hand liegenden Gefahren beständen – so ließe sich das Unausgesprochene vermuten – im Scheitern des Versuchs der Verknüpfung, im Verharren in einer der als extrem bezeichneten Positionen. Die Fruchtbarkeit derartiger Beziehungen sah Benjamin in der Möglichkeit, mit Personen gleichberechtigt Haltungen und Positionen erproben zu können, die Alternativen zu den von ihm bislang eingenommenen bildeten und ihm Gelegenheit gaben, sein Denken zu schärfen.

Benjamin und Brecht

Als ich, nach vierjährigem Dienst bei der Deutschen Grenzpolizei, mein Studium an der Filmhochschule begonnen hatte, wurde, neben manchem anderen, auch Brecht Gegenstand meines Interesses. Nicht, dass ich zuvor nichts von ihm kannte. Die »Hundert Gedichte«, Bibliothek Fortschrittlicher Deutscher Schriftsteller, 1951, besaß ich bereits. Aber was nun begann, war anders.

Ich spürte, das ging mich an. Es forderte meine Aufmerksamkeit heraus.

Die »Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration«, nach heutiger Ausdrucksweise, »fasste mich an«. Ich muss sie wohl auch rezitiert haben; jedenfalls sind Zeichen für Bindung oder Zaesur noch erkennbar.

»Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich,

Und die Bosheit nahm nach Kräften wieder einmal zu ...«

Der Zöllner, der nach Kostbarkeiten fragte, bekam von dem Knaben, der den Ochsen führte, Bescheid: »Er hat gelehrt!«

Doch der Mann in einer heitren Regung

Fragte noch: Hat er was rausgekriegt?

Sprach der Knabe: Daß das weiche Wasser in Bewegung

Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.

Du verstehst, das Harte unterliegt.« 

Benjamin:

Das Gedicht ist zu einer Zeit geschrieben, wo dieser Satz den Menschen als eine Verheißung ans Ohr schlägt, die keiner messianischen etwas nachgibt.

DU VERSTEHST, DAS HARTE UNTERLIEGT.

Die Schweizer Zeitung am Sonntag veröffentlichte im April 1939 Gedicht und Benjamins Kommentar. Er bittet um Exemplare,

»... wenn irgend möglich 10 bis 15 Stück. Ein Hauptzweck so einer Publikation liegt darin, daß man sie den richtigen Leuten in die Hände spielen kann; das habe ich vor.«

Den Vorschlag einer präventiven Volksbewaffnung in der selben Zeitung nannte Benjamin »ausgezeichnet«; und fügte hinzu: »Wenn Ihr den durchsetzen würdet!«

Wizisla berichtet:

Seine eigentliche Wirkung fand das bedruckte Zeitungsblatt jedoch in den französischen Internierungslagern ... und zitiert Hannah Arendt:

»Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Gedicht in den Lagern, von Mund zu Mund gereicht wie eine frohe Botschaft, die, weiß Gott, nirgendwo dringender benötigt wurde als auf diesen Strohsäcken der Hoffnungslosigkeit.«

Benjamin, Brecht, Bernard von Brentano, Ihering planten Herbst 1930/Frühjahr 1931 unter Mitarbeit von Bloch, Kracauer, Kurella und Lukács mit Rowohlts Hilfe eine Zeitschrift herauszugeben: KRISE UND KRITIK.

Deutlicher als anderswo, so scheint mir, lassen im Anhang veröffentlichte Protokolle die Haltung der Beteiligten erkennen.

Fragmentarische Notiz Brechts:

die kritik ist so aufzufassen dass die politik ihre fortsetzung mit anderen mitteln wäre

die kritik schaelt keineswegs ewige gesetze heraus indem sie ihre hauptresultate erst jenseits von raum und zeit … konstituiert

Benjamin an Brecht 1931, nachdem er sich aus dem Herausgeberkreis zurückgezogen hatte: ... der bürgerlichen Intelligenz zu zeigen, daß die Methoden des dialektischen Materialismus ihnen durch ihre eigensten Notwendigkeiten … diktiert seien. Die Zeitschrift sollte der Propaganda des dialektischen Materialismus durch dessen Anwendung auf Fragen dienen, die die bürgerliche Intelligenz als ihre eigensten anzuerkennen genötigt ist.

Benjamin wollte in den Gesprächen wissen:

Wie bringt man die Intellektuellen in den Klassenkampf?

Denn er glaubte sich sicher, dass eine proletarische Revolution bevorstehe, folglich dem Proletariat die Führungsrolle zustehe.

Berliner Dialekt

29. Oktober 1923. Vox-Haus Berlin. Die »Funk-Stunde AG« geht auf Sendung. Walter Benjamin begleitete dieses neue Medium von Beginn an.

Als ich, 17jährig, Regie-Volontär beim Funk wurde, gab es in der Masurenallee noch einen Kollegen, der jenen Anfang miterlebt hatte. Julius, genannt »Jule« Jaenisch. Und er kannte Geschichten. Wenn zum Beispiel in einem Hörspiel eine Feuerwehr »Auftritt« hatte, parkte sie in der Potsdamer Straße und kam auf Zeichen mit Tatü-Tata angebraust, während der Assi das Mikro aus dem Fenster hielt. Die Entwicklung der Tonaufzeichnung steckte noch in den Kinderschuhen.

Walter Benjamin verfasste und sprach selbst kleine, sehr verständliche Vorträge für die Jugendstunde. Ich stelle mir vor: Hätte ich als Jugendlicher seine Schilderung BORSIG angehört, ich wäre mit Neugier und Freude dort zur Arbeit gegangen.

Benjamins erster Rundfunkvortrag war dem Thema Berliner Dialekt gewidmet. Und etwa parallel dazu publizierte er in der FRANKFURTER ZEITUNG unter dem Titel »Wat hier jelacht wird, det lache ick« seine achtungsvollen und klugen Gedanken zum Thema. Und das gewiss auch zu seinem eigenem Vergnügen.

Du magst ja, verehrter Leser, wenn Du willst, das Folgende für einen Gag halten. Und ich räume ein, solcher Argwohn liegt nahe.

Trotzdem: Ohne weitere Vorrede hier ein Beispiel in fiktiver Anwendung.

»Kommste morgen zur Demo?« – »Na klar. Schiefertafel.« – »... ???« – »Na, Schiefertafel eben. Uff mir kannste rechnen!«       

 

Anmerkung:

[1]  Der vor 125 Jahren, am 15. Juli 1892 in Berlin, geborene Walter Benjamin gehörte zum Wirkungskreis der Frankfurter Schule.

 

Mehr von Werner Wüste in den »Mitteilungen«: 

2016-09: Der Erste. Mehrfach. Und bemerkenswert.

2016-05: Lenin und die DEFA

2015-10: Mut zum Sozialismus