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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Der Erste. Mehrfach. Und bemerkenswert.

Werner Wüste, Wandlitz

 

Nach der Gründungsfeier hatten die 300 Gäste noch Gelegenheit, die kleine Halle des Althoff-Ateliers nebenan zu besuchen, wo bereits seit dem 4. Mai 1946 Wolfgang Staudte den ersten deutschen Nachkriegsfilm »Die Mörder sind unter uns« drehte. In den Hauptrollen standen Ernst Wilhelm Borchert und die damals noch unbekannte Hildegard Knef vor der Kamera. (SPUR DER FILME, Hg. Ingrid Poss und Peter Warnecke, Hervorhebung W.W.)

Da ist manches bemerkenswert:

Der erste Spielfilm der DEFA ist zugleich der erste deutsche Spielfilm der Nachkriegszeit überhaupt, ist der erste Film mit ausdrücklicher Zustimmung und Unterstützung durch die SMAD, der erste Filmerfolg der Knef. (Angeblich auch der erste sowjetischer Zensur ausgesetzte! Weiß Ralf Schenk. Darauf werde ich zurückkommen.)

Jedenfalls setzt Die Mörder sind unter uns ein starkes Zeichen und markiert den Beginn der ersten Traditionslinie in der DEFA-Geschichte, der Auseinandersetzung mit Krieg, Schuld, Nazizeit, Verantwortung, mit Problemen nach dem »verlorenen Krieg« also, nach der »Stunde Null«, nach der Befreiung, nach dem Sieg über den Faschismus. Je nach Sicht.

Hier, kurz skizziert, die inhaltliche Hauptlinie:

In Berlin lebt ein psychisch zerstörter, ehemaliger Chirurg und Militärarzt, Dr. Mertens, in einer fremden Wohnung. Die gehört einer jungen Frau, Susanne Wallner, die aus dem Konzentrationslager zurückkehrt. Die Handlung führt zu einer Wiederbegegnung Mertens' mit seinem ehemaligen Vorgesetzten und erinnert íhn an die von jenem befohlene Ermordung von Geiseln Weihnachten 1942 in Polen. Mertens beschließt, den Hauptmann zu erschießen. [1]

Seit inzwischen 70 Jahren ist dieser Film im Gespräch, kontrovers, zustimmend, verleumdend, mit Halbwahrheiten behangen, zum Vehikel degradiert, zum Aufreger gemacht, immer wieder aufgeführt und kommentiert. Wirklich bemerkenswert.

Und noch heute findet man im Internet eine Vielfalt von Informationen und Bezügen. Und »Informationen«.

Premiere war am 15. Oktober 1946. [2] Aber erst im Januar 1959, mehr als 12 Jahre später, wurde der Film für die Bundesrepublik Deutschland freigegeben. Im Internet, unter Lernen (!) aus der Geschichte, en passant diese »Information«, wörtlich: »Bereits ein Jahr nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft und dem Zweiten Weltkrieg kam der Film … in die deutschen Kinos.«

»Elegant« gemogelt.

Im Mai 2016 nahm ARTE Staudtes Film in eine Reihe von DEFA-Filmen auf, angekündigt wurde er im Programmheft so: »Die Mörder sind unter uns« war nicht nur der erste deutsche Film jenseits der UFA, sondern ist heute noch einer der bedeutendsten der DEFA. Er bescherte dem deutschen Nachkriegsfilm mit Hildegard Knef den ersten Star und der sowjetischen Besatzungszone in der Filmproduktion einen Vorsprung vor den westlichen Alliierten.

Als dann Ralf Schenk [3] den Film »anmoderierte«, erklärte er, dieser erste DEFA-Film sei zugleich der erste sowjetisch zensurierte. Ich war so verblüfft, dass ich vergaß, mir die genaue Schenksche Formulierung sofort wortwörtlich zu notieren.

Mit der »Zensur« hat es diese Bewandtnis: Staudtes erster Arbeitstitel lautete »Der Mann, den ich töten werde«. Was Wunder, dass er so die Kritik der SMAD, vermutlich von Dymschitz [4], herausforderte. Selbstjustiz widersprach sowjetischer Rechtsauffassung.

Sehr wahrscheinlich hatte Staudte sein Exposé auch unter dem genannten Titel bei allen vier Alliierten eingereicht. Im Internet bei moviepilot.de ist zu lesen:

Nur Verantwortliche in der sowjetischen Besatzungszone sind an einer Verfilmung interessiert ... »Die Mörder sind unter uns« gilt als wegweisend für die realistische Ausrichtung der ostdeutschen DEFA, die am 17. Mai 1946 gegründet [5] wird.

Es wird Zeit, einen Punkt zu setzen.

1966, demnach zwanzig Jahre nach Produktion und erster Projektion, hatte Margit Voss, Berliner Rundfunk, ein Gespräch mit Wolfgang Staudte.

Margit Voss: (...) Wolfgang Staudte, welche Erlebnisse waren es, die Ihnen zu jener Zeit jene Erkenntnis verschafften, die dem Film zugrunde liegt?

Wolfgang Staudte: (…) Ich war in den letzten Kriegstagen in Berlin untergetaucht ... (ich war nicht Soldat, ich hatte auch keine Papiere, die mich von irgendeiner kriegerischen Tätigkeit befreit hätten) – und bin gestellt worden und zwar von einem SS-Offizier, der mich aber kannte und der mich natürlich beschimpfte und der seine Pistole zog ... die Rote Armee war etwa schon bei Bernau [6], so in dieser Gegend, ich wußte also, daß es in den nächsten Tagen mit diesen Herren zu Ende sein würde – und da habe ich mir überlegt, was machst du eigentlich, wenn das zu Ende ist. …

Das Problem selbst, das war mir eigentlich schon viel, viel früher klar. Denn ich habe ja das Exposé zu diesem Stoff schon geschrieben gehabt ...

Das war allerdings mehr ein Traum, denn es gab ja niemanden. Es war ja eigentlich noch Krieg. (…)

Voss: Sie mußten zur sowjetischen Militäradministration. Das war für einen Menschen, der im britischen Sektor wohnte, wie Sie zum Beispiel, überhaupt gar nicht selbstverständlich.

Staudte: Zu diesem Zeitpunkt der Kapitulation und der Nachkriegszeit waren es für mich die Alliierten. Da war ich also nicht prosowjetisch oder proamerikanisch oder probritisch oder profranzösisch. Und ich bin naheliegenderweise, da ich im britischen Sektor wohnte, mit meinem Exposé zu den Engländern gegangen – ich mache es kurz – zu den Amerikanern gegangen, zu den Franzosen gegangen.

Voss: Peter van Eyck war doch damals bei den Engländern.

Staudte: Nein, er war bei den Amerikanern. Er war bei den Amerikanern verantwortlicher Film-Offizier und hat mir also in einem gebrochenen Deutsch, dafür aber in einer ungeheuer gutsitzenden Uniform erzählt, daß in den nächsten 20 Jahren für uns Deutsche an Filme gar nicht zu denken sei.

Voss: Haben Sie ihn später einmal an diesen Ausspruch erinnert?

Staudte: Nein, ich habe ihn eigentlich persönlich nie mehr wiedergesehen. Später kam ich dann zu Dymschitz, dem zuständigen Kultur-Offizier und da war es eben ein ganz kurzes Gespräch. (...)

Ralf Schenk sollte das nicht gewusst, »vergessen« haben? Wie er auch zu erwähnen »vergisst«, dass die Westmächte das Projekt ganz und gar abgelehnt hatten. Den begründeten Vorschlag, dem Film eine Fassung zu geben, die die Gefahr einer Aufforderung zur Selbstjustiz vermeidet, nennt er Zensur. – Nun ja. Nach dieser Logik ist eben jeder Dramaturg Zensor.

Wer 1945/46 sich zu einem solchen Film entschloss, der muss auch über das Publikum nachgedacht haben, auf das der Film treffen würde. Der muss sich gefragt haben, auf welche Art erlebnisfähig, wie denkfähig, wie sehr es bereit sein würde, der vorgedachten Filmerzählung zu folgen. Immerhin waren Sehgewohnheiten, Geschmack, Interesse, (Vor-)Urteil über Jahrzehnte »gebildet« an Erzeugnissen der UFA-Traumfabrik, an Revuefilmen mit Marika Rökk, »Wunschkonzert« zum Beispiel, »Frau meiner Träume«, an chauvinistischen Filmen à la »Jud Süß«, in dem übrigens auch Staudte eine Rolle hatte, an Filmen, die den Krieg verherrlichten oder verharmlosten wie »Der große König«, beide von Veit Harlan. Zarah Leander hatte gesungen »Davon geht die Welt nicht unter« und behauptet, es werde »einmal ein Wunder gescheh´n«, (Anspielung an die »Wunderwaffe«), Goebbels schrie schließlich den »totalen Krieg« herbei und jeder Volkssturmmann sollte wie weiland jeder Mann der Bürgerwehr in dem UFA-Film »Kolberg« [7], durchhalten, durchhalten, durchhalten.

Während die Frauen in den Luftschutzkellern saßen, schon längst, wenn sie sich trauten, laut sagten oder wenigstens dachten: Lieber trocken Brot für den Rest des Lebens, wenn nur dieser Krieg zu Ende wäre …

Andrerseits: Das Erlebnis des Krieges, die Millionen Toten, die ungeheuren Zerstörungen, die Verluste in fast jeder Familie, die Resignation und Hoffnungslosigkeit stellten möglicherweise eine solche Erschütterung dar, dass eine Umwertung aller Werte geradezu in der Luft lag. Vielleicht.

Vielleicht würde immerhin ein Teil der Zuschauer, jener Teil, auf den es zuerst ankam, dem Film folgen und zustimmen.

Und vielleicht war Wolfgang Staudte genau der richtige Mann.

Einerseits war er kein Nazi, wirklich nicht, aber ein Mann des Widerstands eben auch nicht. Und auch kein »unbeschriebenes Blatt«. Er war Schauspieler, bevor er Regisseur wurde und hatte 1930 in »Im Westen nichts Neues«, die Hauptfigur Franz Kemmerich synchronisiert. Diese Rolle hat ihn beeindruckt. 1933 entzogen ihm die Nazis die Arbeitserlaubnis als Schauspieler.

Auch das ist bemerkenswert, wer weiß das schon:

Noch vor »Die Mörder sind unter uns« hatte Staudte, gewiss im Auftrag der SMAD, für Eisensteins »Iwan Grosny« die deutsche Textfassung und Synchronisation besorgt. [8]

»Die Mörder sind unter uns« ist eine scharfe Kritik an einer Nachkriegsgesellschaft, die es zuließ, dass sogar Kriegsverbrecher erneut Kasse und Karriere machten.« (Dieter Wunderlich im Internet).

Trotz mancher Meinungsverschiedenheit blieb Staudte bis 1955 bei der DEFA. Und nach vielen Jahren Filmarbeit in der BRD war sein Fazit: Es ist schwer die Welt zu verbessern mit dem Geld von Leuten, die die Welt in Ordnung finden.

Es gibt in Staudtes Personen-Ensemble für Die Mörder sind unter uns einen, der abgehoben ist von allen andern, scheinbar »nicht von dieser Welt«: Mondschein. Der alte Mann mit dem lieben Gesicht und der leisen Stimme hat mit den Resten seiner Habe im Keller eine Optikerwerkstatt eingerichtet, hilft, wo er kann, scheint leicht zu tragen an der Last der Jahre, ist die personifizierte Güte, wartet auf den Sohn. Der gegen Ende des Films seine Heimkehr ankündigt. Da lebt Mondschein schon nicht mehr.

Mondschein hat auf die Handlung (fast) keinen Einfluss. Ohne ihn jedoch wäre der Film einfach ärmer, fehlte ihm wesentliches: ein Moment der Ruhe, der Besinnung.

Zeitgenössische Kritik nimmt Mondschein nicht zur Kenntnis. Nicht einmal die naheliegende Metapher: Optiker sorgen für besseres Erkennen, fällt jemandem in den Sinn. Erst im Jahr 2000 erscheint im Ergebnisse Verlag Hamburg ein Essay von Ulrike Weckel, die Mondschein durch seinen Namen als Juden markiert sieht. Die Güte des Mannes wirft ein warmes Licht auf die trostlose Gegend und ihre Bewohner. Ulrike Weckel ist auch die einzige, die Mertens einen zerknirschten Mitläufer nennt.

Und was ich mir ganz und gar nicht erklären kann: Niemand stellt, trotz deutlicher Ähnlichkeit von Titel und Zitat, den inneren Zusammenhang her zwischen »Die Mörder sind unter uns« und »Soldaten sind Mörder«.

Kurt Tucholsky in »Der bewachte Kriegsschauplatz«, »Weltbühne« 4. August 1931:

Da gab es vier Jahre lang ganze Quadratmeilen Landes, auf denen war der Mord obligatorisch, während er eine halbe Stunde davon entfernt ebenso streng verboten war. Sagte ich: Mord? Natürlich Mord. Soldaten sind Mörder.

Reichswehrminister Wilhelm Groener klagte gegen den Herausgeber der Weltbühne Carl von Ossietzky. Es kam zum Prozess. In seinem Schlusswort sagte Ossietzky, und das kann auch als Resümee zu Staudtes Film gelten:

Aber es ist falsch, wenn man annimmt, daß es sich in dem Weltbühnen-Artikel um die Diffamierung eines Standes handelt; es handelt sich um die Diffamierung des Krieges.

 

Anmerkungen:

[1]  DVD bestellbar im nd-Shop.

[2]  Im Admiralspalast, damals Deutsche Staatsoper; und zwei Wochen nach der Urteilsverkündung im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess.

[3]  Ralf Schenk, Dr. h.c., Vorstand DEFA-Stiftung.

[4]  Dymschitz, Alexander Lwowitsch, Kulturoffizier in der SMAD.

[5]  Siehe: Werner Wüste, Lenin und die DEFA, Mitteilungen 5/2016, Seiten 24 ff. – Red.

[6]  Bernau, wo Konrad Wolf für kurze Zeit Stadtkommandant war.

[7]  Regie ebenfalls Veit Harlan, Premiere 30. Jan.1945 (!)

[8]  Es handelt sich um den 1. Teil des Films, der 1944 uraufgeführt worden war.

 

Mehr von Werner Wüste in den »Mitteilungen«: 

2016-05: Lenin und die DEFA

2015-10: Mut zum Sozialismus

2015-09: Kompilation. Annäherung – Walter Benjamin