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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Lenin und die DEFA

Werner Wüste, Wandlitz

 

August 1945. Mutter und ich kehrten nach Berlin zurück. Vater war schon da. Nach beinahe zehn Jahren hatte Mutter ihren Mann, hatte ich meinen Vater wieder. Befreit aus der Nazihaft, war er in seinem alten Kiez angekommen: Neukölln. Und wir haben ihn, nach einigem Umherirren in Berlin, bald gefunden.

Damals hätte ich es bestimmt nicht so benannt; aber gefühlt habe ich so, aufgeschlossen, mit allen wachen Sinnen: es begann ein neues Leben mit ungeahnten Möglichkeiten. Selbst meiner Mutter wich das Lächeln nicht aus dem Gesicht.

Vater hatte mit Erich Brehm Freundschaft geschlossen, dem nachmaligen Begründer und Chef der »Distel«. Und mit Kiki, den alle seine Freunde so nannten, der die »Kiki-Bühne« gegründet hatte, das erste Kabarett in Berlin nach dem Kriege; meinen neuen Freund Heinz und mich schmuggelte Kiki, nach Beginn der Vorstellung, in den bereits abgedunkelten Zuschauerraum. Wir durften ja eigentlich noch nicht. So erlebten wir zum ersten Mal eine politische Kabarett-Szene, »Der Straßenvertrauensmann«, geschrieben von Erich Brehm.

Natürlich hatte ich in der Nazi-Schule nie von Brecht und Tucholsky gehört. Erich Brehm sang zur Gitarre die Ballade von der Seeräuberjenny aus der Dreigroschenoper »... und ein Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen ...« und fragte mit Tucho »Wo kommen die Löcher im Käse her?« Meine Zuneigung zu Erich Brehm mündete in die für Brecht und Tucho. Lebenslang.

Freund Heinz kannte sich aus im Kiez. Er war ja hier zu Hause und wusste, in welchem Neuköllner Kino welcher Film lief. Ich sah bald meinen ersten sowjetischen Film, »Iwan Grosny«, und den ersten amerikanischen, »Der junge Tom Edison«.

So begann für mich, ich war noch nicht vierzehn, das verheißungsvolle, neue Leben. Aufregend und selbstverständlich. Das eigentlich Normale.

Als mein Vater einige Jahre später mich beruflich vorsichtig auf Film orientierte, musste er nicht viel Mühe aufwenden.

Iwan Grosny und Tom Edison also. Zunächst. Dann kam die DEFA.

Die »Deutsche Film Aktiengesellschaft« wurde offiziell am 17. Mai 1946 gegründet. Vor 70 Jahren also. Da aber lebte sie schon geraume Zeit, aktiv und munter. Da hatte sie bereits ihre Geschichte. Deren Beginn könnte man mit dem 25. September 1944 datieren. Eigentlich noch früher. Viel früher.

  1. Die Kraft von Filmen
  2. Die wichtigste der Künste sei der Film, wurde in »Fachkreisen« gerne Lenin zitiert, nicht nur in der DDR natürlich. So zweifelhaft diese Art von Verkürzung, so beliebt war sie. Jedenfalls: wer widersprach schon Lenin.

Aber es lohnt, etwas genauer hinzusehen.

Lunatscharski erinnert sich eines seiner Gespräche mit Wladimir Iljitsch. Gegen dessen Ende hin hatte der zu ihm, lächelnd, gesagt:

»Sie gelten bei uns als der Schirmherr der Künste, darum müssen Sie ständig dessen eingedenk sein, daß für uns von allen Künsten die Filmkunst die wichtigste ist.«

Lenin in einem weiteren Gespräch, präzisierend und einschränkend: »… daß der Film für die Gegenwart die wichtigste der Künste ist.«

Für die Gegenwart! Für die Gegenwart des Jahres 1921!

»Die Produktion neuer Filme, die von kommunistischen Ideen erfüllt seien und die sowjetische Wirklichkeit widerspiegelten … müsse man mit der Filmchronik beginnen, meinte Lenin. In der Art bildhafter Lektionen seien verschiedene Fragen von Wissenschaft und Technik (zu) behandeln.«

In der uns heute geläufigen Begrifflichkeit: Wochenschau, Dokumentar- und populär-wissenschaftlicher Film; vom Spielfilm (im Russischen: künstlerischer Film) war nicht explizit die Rede.

Interessant sind die vielfältigen Hinweise auf die agitatorisch-propagandistische Kraft von Filmen. Wir würden heute sagen: Massenwirksamkeit. – Denn es sollte doch eine sozialistische Ordnung geschaffen werden – mit einem Volk von Analphabeten!

Für Lenins praktischen Umgang mit den Möglichkeiten des Films sollen, kommentarlos, Zitate aus einem Brief an Rykow stehen, bezogen auf einen Film »über die Arbeit der neuen hydraulischen Torfpumpe« (von Ingenieur R. E. Klasson) »mit deren Hilfe die Torfgewinnung im Gegensatz zum alten Verfahren mechanisiert wird ... Die Mechanisierung der Torfgewinnung macht es möglich, bei der gesamten Wiederherstellung der Volkswirtschaft der RSFSR und der Elektrifizierung des Landes unvergleichlich schneller, stetiger und in breiterer Front voranzukommen.«

Und dann folgen Weisungen:

»Die Gruppe von Personen, von deren Arbeit der rasche und vollständige Erfolg der Sache unmittelbar abhängt, erhält die Rotarmistenration, gleichzeitig ist ihr Gehalt derart zu erhöhen, daß sie sich voll und ganz ihrer Arbeit widmen können.« – Wie sich hier Vision und Nüchternheit vereinen mit dem genauen Blick auf die Realität! –

»Die Abteilung Filmwesen wird beauftragt, den Filmstreifen über das hydraulische Verfahren in sehr breitem Rahmen vorzuführen ... (Hervorhebung W. I. Lenin) Den ersten Bericht … setze ich auf den 30. 10. 1920 im Rat der Volkskommissare fest.«

Auch die Ereignisse um Kronstadt und der X. Parteitag hinderten Lenin nicht, am 9. April 1921 anzuweisen:

»... 2. Die Abteilung Filmwesen ist zu beauftragen … 12 Streifen über die Torfgewinnung zu drehen (für Rußland, die Ukraine, den Ural, Belorußland und Sibirien).«

Dann kam die DEFA.

Das Datum 25. September 1944 hatte ich genannt. Da kämpften die Verbände der Roten Armee noch gegen die »Wehrmacht«. Da wurde noch geschossen, gestorben. Da lief die SS noch Amok. Im Zuchthaus Sonnenburg mordete sie mehr als 800 Häftlinge.

DEFA-Gründer

Aber in Moskau, im Hotel »Lux«, beriet sich Wilhelm Pieck, der Vorsitzende der KPD, unter anderen mit Hans Rodenberg, Friedrich Wolf, mit Johannes R. Becher über die Neugestaltung des kulturellen Lebens nach der Vernichtung des Nazistaates.

Noch vor Kriegsende, noch vor der bedingungslosen Kapitulation, noch im April 1945 erteilte der sowjetische Stadtkommandant von Berlin, Oberst Bersarin, die Erlaubnis zu Eröffnung von Theatern und Kinos.

So waren »Iwan Grosny« und »Tom Edison« im Sommer 1945 in Neukölln schon fast Normalität.

Bevor am 4. Mai 1946 die erste Klappe für Wolfgang Staudtes »Die Mörder sind unter uns« fiel, hatten Marion Keller und Kurt Maetzig bereits im Januar den »Augenzeugen« aus der Taufe gehoben: »Sie sehen selbst – Sie hören selbst – Urteilen Sie selbst!«, - eine Filmchronik also! - hatte Joop Huisken den DokFilm »Potsdam baut auf« gedreht, Kurt Maetzig »Berlin im Aufbau«, und »Leipziger Messe 1946«. Eine antifaschistisch-demokratische Ordnung sollte geschaffen werden, trotz verbreiteter Mutlosigkeit und Skepsis im Volk. Und Schlimmerem.

Sie haben die DEFA gegründet bzw. waren beteiligt: Herbert Volkmann, Adolf Fischer, Kurt Maetzig, Hans Klering, Paul Wandel, Günther Weisenborn, Friedrich Wolf, Gerhard Lamprecht, Wolfgang Staudte, Slatan Dudow … Namen mit noch immer gutem Klang. Kulturpolitiker in der KPD, linke Schriftsteller, nicht alle etwa gestandene Filmemacher; zurückgekehrt aus der Emigration, aufgetaucht aus der Deckung. Antifaschisten. (Wer kann schon, wie Kurt Maetzig, von sich sagen, in tiefer Illegalität 1944 Mitglied der KPD geworden zu sein.) Sie begannen mit der Arbeit in der ersten deutschen Filmproduktionsgesellschaft nach dem Kriege.

Und der eigentliche DEFA-Gründungsakt im Mai 1946 war, salopp gesagt, »nur noch« der offizielle Punkt unter eine im Gang befindliche Entwicklung.

Es ist immer problematisch, Namen zu nennen. Weil das bedeutet, gleichzeitig viele andere Namen wegzulassen. Ich will an drei Regisseure erinnern.

Wolfgang Staudte drehte den ersten DEFA-Film, als die DEFA, streng genommen, noch gar nicht existierte. »Die Mörder sind unter uns«. Das war der erste deutsche Nachkriegsfilm überhaupt. Unterstützt von der SMAD.1 Und darf auch als sehr persönliche Auseinandersetzung Staudtes mit Nazireich und Krieg angesehen werden. »Die Mörder sind unter uns« begründete die antimilitaristische, antifaschistische Tradition der DEFA.

Kurt Maetzigs erster Spielfilm war »Ehe im Schatten«. Nacherzählt wird das Schicksal des Schauspielers Joachim Gottschalk, der 1941 mit seiner Familie in den Freitod ging. Er konnte den Drangsalierungen der Nazis, seiner jüdischen Frau wegen, nicht widerstehen. »Ehe im Schatten« wurde als einziger deutscher Nachkriegsfilm gleichzeitig in ganz Berlin aufgeführt, das bedeutet: in allen vier Sektoren.

Slatan Dudow war längst ein deutlich und kräftig »beschriebenes Blatt«; er hatte 1932, mit Brecht, »Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt« gedreht, u.a. mit Herta Thiele und Ernst Busch. »Unser täglich Brot«, 1949, war sein erster Film bei der DEFA. Unvergessen bleibt »Stärker als die Nacht«, der von einem standhaften Kommunisten im Kampf gegen die Nazi-Diktatur erzählt.

Kann man über die Filmgeschichte der DDR reflektieren, ohne das viel zitierte 11. Plenum zu erwähnen? Könnte man schon, so viel und umfangreich wurde und wird noch immer zu diesem Thema veröffentlicht. Und für manchen wurde es zum Vehikel erkoren; als bestens geeignet, Anti-Sozialistisches abzulassen.

Andererseits: Nein, kann man nicht. Gerade, weil es kein Ruhmesblatt der politischen Geschichte der DDR darstellt.

Die Fakten sind hinreichend bekannt. Die Folgen auch. Und sehr wahrscheinlich sind die Schlüsse gleich oder ähnlich jenen, die in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens gezogen werden können: Aufbau einer sozialistischen Ordnung ohne die Zustimmung und das aktive Mit-Tun des Volkes geht nicht. Das heißt: ohne Vertrauen zu den Menschen nicht, ebenso wenig ohne deren Vertrauen in die Führung. Das setzt gegenseitigen Respekt voraus, gegenseitige Achtung, Akzeptanz. Gegenseitiges Vertrauen bedeutet auch eine angemessene Portion begründeten Selbstvertrauens auf beiden Seiten; bedeutet u.U. auch Vertrauensvorschuss, Mut zum Risiko. Nicht alles ist vorhersehbar, nicht alles kann man wissen.

Das vielbeschworene Bündnis mit der Intelligenz, auch der künstlerischen, ist, wie sich nicht zuletzt an besagtem Plenum zeigt, nicht nur unabdingbare Voraussetzung, sondern ebenso ein mit Geduld und Vertrauen zu gestaltender Prozess. Dogmatismus, Besserwisserei, um nicht zu sagen: Arroganz, sind geeignet, in Nullkommanullnichts zu zerstören, was zuvor langsam und vorsichtig zu wachsen begonnen hatte.

Zum Optimismus gehört auch Humor, selbst solcher mit sarkastischem Touch. Im Dresdner Ratskeller entdeckte ich, noch in tiefen DDR-Zeiten, unter vielen Sprüchen an Säulen und Wänden diesen:

»kunst hat kein feind dann den der´s nit kann.«

Wären doch die Genossen des Politbüros manchmal dort eingekehrt. Um Einkehr zu halten.

Post skriptum.

Auch das ein Stück(chen) DEFA-Geschichte, allerdings aus der (vielleicht minimal) weniger beargwöhnten Sektion DokFilm: Kollege J. drehte an der Humboldt-Uni und erkundigte sich, wo und bei wem er wohl einen gut gefüllten Vorlesungssaal finden könne. Na, bei Havemannn natürlich.

Dass die DEFA bei Havemann dreht, erregte Aufsehen. Im Studio gab es, ich will nicht gerade sagen, eine Untersuchung, aber eine Debatte. Die Abteilung Kultur des ZK war (vermutlich) der Initiator. Als Organisator der Parteigruppe durfte ich teilnehmen. Von meinem Vater wusste ich von Havemannn und seinen mutigen Aktivitäten im Zuchthaus Brandenburg. Ich verteidigte Havemann und meinen Kollegen und verlangte Öffentlichkeit der Debatten.

In diesem Zusammenhang gab mir ein Anderer hektografierte Manuskripte von Havemanns Vorlesungen. Kaum hatte ich angefangen, darin zu lesen, verlangte er sie zurück. Ich fragte nicht, warum. In Erinnerung blieb mir der erste Satz der ersten Vorlesung. »Wahrheitkann man nicht beschließen.« – Ein Satz mit einem Widerhaken. Ich kann ihn nicht mehr vergessen. Will ich auch nicht.

 

Anmerkung:

1 Sowjetische Militäradministration

 

Mehr von Werner Wüste in den »Mitteilungen«: 

2015-10: Mut zum Sozialismus

2015-09: Kompilation. Annäherung – Walter Benjamin

2015-07: Kennen Sie Einstein?