Menschenrechte weiterdenken
Moritz Hieronymi, Peking
Vor 75 Jahren wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte beschlossen
Der südafrikanische Präsident, Cyril Ramaphosa, hatte im August dieses Jahres eine große Verantwortung zu tragen. Als Ausrichter des 15. Treffens der Staatenkooperation BRICS in Johannesburg durften ihm keine Missgeschicke passieren. Schließlich hatte das Bündnis aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika die Weichenstellung einer neuen Weltordnung zu beraten.
Obwohl der französische Präsident im Juli in weiser Vorahnung um eine Einladung gebeten hatte, zeigten sich die sonstigen westlichen Regierungsvertreter demonstrativ unbeeindruckt. [1] Nachdem der russische Präsident, wahrscheinlich aufgrund eines gegen ihm vom Internationalen Strafgerichtshof erlassenen Haftbefehls, seine Teilnahme absagte, hatte die nordatlantische Presse dem Treffen im Voraus jede Glaubwürdigkeit und Erfolgsaussicht abgesprochen. [2]
Der Unkenrufe trotzend gelangen in Johannesburg politische und institutionelle Durchbrüche, die die Entwicklung der BRICS essenziell prägen werden. Die in Washington besonders beargwöhnte Aufnahme von 6 Staaten, von denen Saudi-Arabien und Ägypten als besondere strategische Schwergewichte gelten und mit der Islamischen Republik Iran ein Erzfeind aus der internationalen Isolation geholt wird, hatte zu Missbehagen geführt. [3] Dabei wurden in der westlichen Presse die inhaltlichen Beschlüsse der BRICS fast vollkommen ausgespart, obwohl erstmalig tiefgreifende Überlegungen zum Menschenrechtsschutz angestellt wurden.
75 Jahre nachdem die UN-Generalversammlung die Resolution 217A (III) mit dem Inhalt der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (nachfolgend: AEMR) angenommen haben, steht die Welt vor einem neuen Verständnis von dem, was Menschenrechte sind und wie diese realisiert werden können.
Grundprinzipien des internationalen Menschenrechtsschutzes
Die inflationären Forderungen nach Menschenrechten haben im Westen und insbesondere in Deutschland zu einer maßlosen Beliebigkeit geführt. Menschrechtsadepten prangern in einer Selbstverständlichkeit andere Länder an, während deren sozio-ökonomische, kulturelle oder religiöse Entwicklungen keiner Beachtung gewürdigt werden.
Diese anmaßende Attitüde ist nicht selten mit geringer inhaltlicher Substanz gepaart. So verwendete DIE LINKE im Entwurf zum jüngst beschlossenen »Europa«-Wahlprogramm 20-mal das Wort Menschenrechte. In dem äußerst geschmeidigen Programmpapier, das einen Rückschritt bei einer sachdienlichen und notwendigen linken EU-Kritik bedeutet, bleibt vage, was die Partei unter Menschenrechten versteht. Folgerichtig vergessen die Verfasser, dass die EU sich nicht nur keinem europäischen, sondern sich auch keinem internationalen Menschenrechtsregime verpflichtet hat; mithin ein prozessual- und materiell-rechtlich effektiver Menschenrechtsschutz über die EU-Institutionen anzuzweifeln ist. Äußerst irritierend mutet es an, wenn DIE LINKE mit der Ausnahme der Europäischen Sozialcharta keinen Bezug zu sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechten nimmt, stattdessen aber künstlich differenzierend den Schutz »von Arbeits- und Menschenrechten« fordert. – Vielleicht meinte der Parteivorstand den menschenrechtlich verbürgten Schutz von arbeitsrechtlichen Standards?! Wie das Wahlprogramm und das Gros der Parteitagsreden hat die LINKE ihr Menschenrechtsverständnis in eine bürgerliche – nicht selten taktische – Interpretation getränkt.
Dabei sollte eine Völkerrechtspartei stets darauf bedacht sein, dass Recht in Menschenrechten nicht zu vernachlässigen. Menschenrechte sind Bestandteile von Rechtsregimen, welche ein innewohnendes Prinzip mit strukturellen Grundsätzen aufweist. Somit sind Menschenrechte nicht gleich Menschenrechte, aber in keinem Fall parteipolitische Verhandlungsmasse.
Eine Unterscheidung von Menschenrechten kann anhand unterschiedlicher Kategorisierungen vorgenommen werden, wobei die inhaltliche Differenzierung maßgeblich ist. Die drei sachlichen Dimensionen werden nach zivilen und politischen, ferner wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen sowie kollektiven Rechten vorgenommen. Obwohl die Unteilbarkeit zu den allgemeinen Menschenrechtsgrundsätzen zählt, entfalten die verschiedenen Rechtsdimension nicht den gleichen Schutzumfang. So genießt das Recht auf Eigentum eine höhere Priorität als das Recht auf Arbeit. Dieses ist der Konstruktion der beiden verbindlichen UN-Menschenrechtspakte (Zivil- und Sozialpakt) geschuldet, die nicht die gleichen Verpflichtungen für die Vertragsstaaten vorsehen. [4] Demnach sind Sozialrechte häufig auf Zielbestimmungen reduziert, die keine subjektiven Rechte begründen. Problematisch ist es durchaus, soziale Rechte zu determinieren, da diese eine prozesshafte Charakteristik aufweisen. Dagegen beschreiben bürgerliche Rechte einen zu erreichenden Zustand und sind folglich präziser bestimmbar. Dennoch ist die Benachteiligung von Sozialrechten nicht einer Rechtsproblematik geschuldet, sondern dem Fehlen von politischem Willen einer Vielzahl von Industriestaaten.
In dieser Systematik ist die AEMR der Normenstandard, auf den die unterschiedlichen Menschenrechtsverträge rekurrieren. Jedoch ist diese als Resolution der UN-Generalversammlung rechtsunverbindlich. Aus diesem Grund argumentiert eine Vielzahl an Staaten und Juristen, die Menschenrechtserklärung sei zum Völkergewohnheitsrecht erstarkt. Diese Auffassung ist zwar begrüßenswert, aber in Anbetracht der Menschenrechtspraxis anzuzweifeln. So nimmt die Systematik der AEMR keine Differenzierung zwischen bürgerlichen und sozialen Rechten vor. Bereits im Jahr 1950 mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, dem höchstentwickelten regionalen Menschenrechtsregime, wurden soziale und kulturelle Schutznormen ausgespart, womit der Westen sein Verhältnis zur Unteilbarkeit von Menschenrechten offenkundig machte.
Die Suche nach einem neuen Verständnis
Eleanor Roosevelt war eine der prägendsten weiblichen Figuren für die Entstehung der UNO. Als Vorsitzende des UN-Menschenrechtsrates nahm sie wesentlichen Einfluss auf den Geist der AEMR, den sie während der Resolutionsverhandlungen folgendermaßen beschrieb:
Wir müssen bedenken, dass wir ein Gesetzbuch der Rechte für die Welt verfassen und dass eines der wichtigsten Rechte die Chance auf Entwicklung ist. Wenn die Menschen diese Chance ergreifen, können sie auch neue Rechte einfordern, wenn diese weit gefasst sind. [5]
Das Recht auf Entwicklung als immanente Triebfeder menschenrechtlicher Evolution war mithin der Ausgangspunkt für die AEMR. Im Jahr 1986 wird die UN-Generalversammlung die Deklaration zum Recht auf Entwicklung beschließen, worin Entwicklung als umfassender wirtschaftlicher, sozialer und politischer Prozess definiert wird, welcher auf die kontinuierliche Verbesserung von Lebensstandards, gesellschaftlicher Beteiligung und der gerechten Verteilung der sich daraus ergebenden Vorteile gerichtet ist.
Die westlichen Staaten haben dieses Verständnis für sich nicht übernommen. Stattdessen wurde das Recht auf Entwicklung zu einem kollektiven Recht erklärt, welches als gutgemeintes, aber bedeutungsloses Gebaren vergessen werden sollte. Demokratie und Freiheit sind die innewohnenden Kräfte, die Menschenrechte schützen und gewährleisten können. Dieses Verständnis, das in jüngster Zeit durch den Berkeley-Professor Tom Gingsburg wissenschaftlich untermauert wird, ist zum westlichen Mantra in der Menschenrechtsdebatte geworden. Im Umkehrschluss können Menschenrechte nicht in Diktaturen oder »autoritären« Regimen gedeihen.
Die pax americana – das globale Regime der USA –, in der eine kleine Gruppe von Staaten für sich in Anspruch nimmt, die Standards für ein richtiges Regieren und Wirtschaften für alle anderen festzulegen, nach Belieben Staaten ein- oder ausschließen und sich keiner Selbstkontrolle zu unterwerfen brauchen, kann in der veränderten Gemengelage dieser Tage nicht unbeantwortet bleiben.
Auf dem 15. BRICS Treffen in Johannesburg wurden hierauf weitreichende Antworten gegeben. Die BRICS setzt sich für die Förderung und den Schutz von Menschenrechten und fundamentalen Freiheiten auf Grundlage der Gleichheit und des gegenseitigen Respekts ein:
»Wir kommen überein, alle Menschenrechte, einschließlich des Rechts auf Entwicklung, weiterhin fair und gleichberechtigt zu behandeln, auf derselben Grundlage und mit demselben Nachdruck«
Mit der Hervorhebung des Rechts auf Entwicklung nehmen die BRICS Anleihen bei dem von Roosevelt beschriebenen Menschenrechtsverständnis. Entwicklung soll die Triebfeder eines gesamtgesellschaftlichen Voranschreitens sein. Hierfür reduzieren die BRICS den Entwicklungsbegriff auf wirtschaftlichen Progress. In Johannesburg wurden fünf Politikbereiche (Makroökonomie, Finanzökonomie, Landwirtschaft, Handel und digitale Technologien) ausgemacht, die durch verschiedene Einzelmaßnahmen koordiniert entwickelt werden sollen. Im Wesentlichen ist hierfür die Stärkung der Intra-BRICS-Zusammenarbeit sowie die Kooperation in internationalen Organisationen vorgesehen. Besondere Aufmerksamkeit sollte dem Ausbau von Infrastruktur beigemessen werden, die aus Sicht der BRICS der Verbesserung von menschlichen, sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Bedingungen dienen soll.
Weil die BRICS keine internationale Organisation im Sinne des Völkerrechts ist, kann diese Staatenkooperation keine rechtsverbindlichen Beschlüsse fassen. Dennoch hat sich der informelle politische Zusammenschluss einen Instrumentenkasten gegeben, der nach Maßgabe der Selbstverpflichtung und der souveränen Gleichheit die Mitgliedsstaaten verpflichtet, ihre nationalen Politiken anzupassen. [6]
Der ökonomische Ansatz von BRICS ist zuvörderst auf die Verbesserung der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte gerichtet. So setzt sich die BRICS das Ziel eine bessere und gemeinsame Zukunft für die internationale Gemeinschaft zu erreichen. Diesem Konzept liegt die Überzeugung zugrunde, einen weltweit moderaten Wohlstand unter Wahrung der staatlichen Souveränität und friedlichen Koexistenz zu etablieren.
Menschenrechte und Geopolitik
Seit Langem finden in der LINKEN keine inhaltlichen Diskussionen über globale Fragen statt. Provinzfunktionäre können sich über den Bau eines Kindergartens wie über die Menschenrechtslage im Gaza-Streifen mit der gleichen Expertise äußern. Das Verhältnis zu Menschenrechten wird zur Haltungsfrage. Dabei ist den linken Parteistrategen und Protagonisten geraten, sich in Demut zu üben.
Das internationale Menschenrechtrechtssystem ist zum Spinnrad der Soft Power und zur Herrschaftslegitimation degeneriert. Lawfare – Recht als Mittel des Krieges – ist ein wirkungsmächtiges Instrument in der Auseinandersetzung dieser Welt.
Die BRICS haben sich mit dem Entwicklungsversprechen eine eigene Menschenrechtslogik gegeben. Das Recht auf Entwicklung ist ein gemeinsames Fundament, worauf sich Länder wie Indien und China, Saudi-Arabien und Iran oder Argentinien und Brasilien einigen können, obwohl sie in anderen politischen Fragen konträre Interessen verfolgen. Das ist nicht weniger opportun als der Ansatz des Westens, aber dafür findet eine moderate Verbesserung der Lebensverhältnisse in Entwicklungsländern statt. Die Jahrzehnte der Bombenteppiche – wie über Belgrad, Mogadischu, Bagdad, Kabul oder Gaza-Stadt – sprechen nicht für einen Zivilisationszustand, der die Rechte des Menschen in den Vordergrund stellt. Gleiches gilt für die 11 Mio. Menschen, die jährlich an Hunger sterben. Es ist Zeit, Menschenrechte weiterzudenken.
Anmerkungen:
[1] Redaktion, Macron wants an invitation to the BRICS Summit?, Global Times, 14.6.2023, www.globaltimes.cn/page/202306/1292607.shtml [20.11.2023].
[2] Vgl. Iglesis, Cele, Ranjan Sen, Putin, Xi and BRICS Allies See Chance to Shake Up World Order, Bloomberg, 21.8.2023, www.bloomberg.com/news/articles/2023-08-21/brics-summit-2023-the-emerging-market-power-bloc-that-wants-to-get-even-bigger [22.11.2023].
[3] BRICS, Johannesburg II Declaration, XV BRICS Summit, 23.8.2023, Nr. 91.
[4] Schutter, International Human Rights Law, S. 461 ff.
[5] Deva Prasad, M., »Lack of Access to Development as a Denial of Human Right: An Analysis of the Right to Development Discourse«, Nirma University Law Journal 2, no.1 (July 2012): 115-125.
[6] Webber Ziero, G. »Looking for a BRICS Perspective on International Law«, Brazilian Journal of International Law 12, no. 2 (2015): 304-323.
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