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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Genosse Präsident!

Moritz Hieronymi, Peking

 

Gedanken zum 50. Jahrestag des faschistischen Putsches gegen Salvador Allende

 

Mitten in der Nacht des 29. September 1973 klingelte ein Telefon in der Redaktion der New York Times. Am Hörer ist ein junger Mann, der mit ruhiger Stimme erklärt, dass im Bürogebäude der International Telephone and Telegraph Corporation (ITT) in Kürze eine Bombe explodieren werde. »Dieses geschehe zur Vergeltung der Verbrechen ITTs in Chile.« [1] Drei Stunden später kam es in den Firmensitzen in New York und Rom zu Detonationen. Es wurden keine Menschen getötet oder verletzt. Wenige Wochen zuvor war in Chile der sozialistische Präsident Salvador Allende gestürzt und das Land in einen brutalen Terrorstaat verwandelt worden.

50 Jahre nach dem faschistischen Putsch haben die Ereignisse für Chile und für die Welt immer noch besondere Bedeutung. Ein Blick auf den Sozialismusversuch Allendes und auf die verdeckte »regime change«-Politik der USA lohnt sich, um gegenwärtige Entwicklungen und unsere politischen Schwachpunkte besser zu verstehen.

I. Der Wahlgewinner ohne Macht

Schon vor dem Wahlsieg im Jahr 1970 war Salvador Allende Gossens eine bekannte politi­sche Figur in Chile und Lateinamerika. Der Arztsohn war während seiner Studienzeit poli­tisch aktiv geworden. Anders als viele junge Chilenen schloss sich Allende nicht den Kon­servativen oder Kommunisten an, sondern sympathisierte mit der sozialdemokratischen Bewegung. 1933 gehörte er zu den Mitbegründern der Sozialistischen Partei Chiles. [2]

Womöglich weil die chilenischen Sozialisten keine Abspaltung der 1922 gegründeten KP Chiles waren, manifestierten sich Differenzen nicht in der gleichen Intensität wie in der Europäischen Arbeiterbewegung. So gelang es einer Einheitsfront progressiver Parteien in 1930er Jahre die Parlamentswahlen zu gewinnen. Der erst 30-jährige Allende wurde Gesundheitsminister und begründete so seine politische Karriere. [3]

Als Minister, Senator und später Senatspräsident fiel Allende durch seine stark marxisti­sche und linksprogressive Rhetorik auf, wenngleich – und das bis zum Ende – sein Verhält­nis zur Sowjetunion nicht unkritisch war. Teilweise ambivalente Äußerungen über die sozia­listische Staatengemeinschaft brachten ihm Kritik von Che Guevara ein. Dennoch be­schrieb er Allende als jemanden, […]der mit anderen Mitteln das Gleiche wie wir erreichen will. [4] Und in der Tat war Allende kein kritischer Regierungssozialist, sondern ein revolutio­närer Reformer. Schon kurz nach seiner Wahl im Jahr 1970 ordnete Allende die Nationali­sierung der chilenischen Banken an, womit eine Verstaatlichungspolitik der »nationalen Reichtümer« eingeleitet werden sollte. [5]

Der Aufbau des chilenischen Sozialismus unterschied sich maßgeblich von dem in anderen sozialistischen Staaten. Das Projekt Cybersyn sollte die ideologische Basis für den Sozialis­mus chilenischer Prägung bilden, welcher auf staatlichen, halbstaatlichen und privaten Eigentumsformen fußte. [6] Mit Unterstützung des britischen Operationsforschers Stafford Beer, Professor an der Manchester Business School, wurde ein auf kybernetischen Überle­gungen basierendes Plansystem aufgebaut. Hierfür wurden Betriebe und große Handels­ketten mit Computern und Telex-Maschinen ausgestattet, wodurch in Echtzeit Bedarfe er­mittelt und Anpassungen vorgenommen werden konnten. Dieses System führte anders als Kritiker befürchteten nicht zur Bevormundung der Arbeiter, sondern zur Schwächung der Betriebsmanager und zur Förderung der Leistungsbereitschaft und Innovation – nicht zuletzt, weil im Cybersyn ein eigenes Eingabesystem für Ingenieure und Arbeiter imple­mentiert wurde.

Während aller dieser Reformen wurden keine bürgerlichen Freiheiten beeinträchtigt. [7] Allende legte großen Wert darauf, dass die Verfassung eingehalten wird und oppositionelle Rechte bewahrt bleiben. Und dennoch brach schon 1971 eine schwere Wirtschaftskrise aus. Das Land wurde mit Streiks überzogen. Zugleich vertraute Allende den Sicherheits­organen nicht. Diese hatten sich verweigert, im Rahmen der Agrarreformen Konfiszierun­gen durchzuführen.

Dem Widerspruch zwischen juristischer und objektiver Macht wollte Allende mit der Mobi­lisierung der Massen trotzen. Graswurzelbewegungen wurden in unterschiedlichen gesell­schaftlichen Bereichen aktiviert, um direktdemokratische Instrumente zu etablieren. [8] Allende glaubte, dass der Druck des Parlaments und der Straße das Militär und die Gerich­te umstimmen könnte. Tatsächlich wurden die Entscheidungen für Chiles Zukunft nicht im Präsidentenpalast La Moneda getroffen.

II. Die Firma, die CIA und der Schlächter

Chile steckte in einer schweren politischen und wirtschaftlichen Krise als Allende sich im Dezember 1972 an die UNO-Generalversammlung wandte. In einer außergewöhnlichen Rede stellte er den Einfluss von ITT und anderen transnationalen Konzernen dar, die gezielt die staatlichen Strukturen lateinamerikanischer Staaten unterwandern würden. ITT, die die chilenische Kommunikationsindustrie beherrschte und eine Vielzahl von produzierenden Unternehmen besaß, hatte einen 18-Punkte-Plan mit der US-Regierung ausgearbeitet, um einen Regierungswechsel in Chile einzuleiten. [9] Der damalige US-Außenminister Henry Kissinger wird später mehrmals darauf hinweisen, dass er ITT »weggeschickt« hätte und selbst die Zügel in die Hand nahm. [10] Bloß wurde kurz vor Fertigstellung dieses Beitrages bekannt, dass Kissingers Version das Produkt übersteigerter Eitelkeit war:

Im Jahr 1970, der Wahlsieger Allende war noch nicht zum Präsidenten ernannt, traf Richard Nixon den Verlagsmanager von El Mercurio, Augustín Edwards. [11] El Mercurio ist ein Tochterunternehmen von ITT. In den Gesprächen wurde ein Handlungskatalog beraten, die Inauguration des Präsidenten durch einen Militärputsch zu verhindern. Diese unheilige Alli­anz für Demokratie und Freiheit plante das, was 1973 tatsächlich geschehen würde: Der chilenische Kongress sollte aufgelöst, die Verfassung außer Kraft und eine militärische Re­gierung eingesetzt werden. Die Gesprächsnotizen umfassen die Unterstützung des Militärs mit Geldern und Waffen. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Liquidierung von General René Schneider verhandelt. Schneider vertrat einen moderaten Kurs und wollte eine Beteiligung des Militärs in politische Fragen unterbinden. Während General Schneider ermordet wur­de, scheiterte der Putschversuch von 1970 aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Grün­den. Vermutlich führte die Ermordung zu einer großen Mobilisierungswelle unter der Bevöl­kerung, sodass ein Putsch zu riskant geworden wäre.

Bis 1970 hatten die USA schätzungsweise 71 Mio. US-Dollar zur Verhinderung der Wahl Allendes investiert. [12] Dabei hatten nachrichtendienstliche Operationen gegen eine mögli­che sozialistische Regierung bereits 7 Jahre vor der Wahl Allendes begonnen. [13] Im Wesent­lichen unterstützten die CIA in den ersten Jahren bis zu fünf Medienkonzerne, die anti-sowjetische Informationen verbreiteten und zugleich unliebsame Meldungen unterdrücken sollten. [14]

Ab 1970, im Vorfeld der Wahlen, wurde vermehrt auf die Widersprüche zwischen den Sozi­alisten und Kommunisten verwiesen. Hierzu unternahm die CIA Versuche, die Kommunisti­sche Partei zu unterwandern, um ein Bündnis mit den Sozialisten zu konterkarieren. Die Zeitung El Mercurio spielte hierbei eine entscheidende Rolle. Nicht nur als Propaganda­blatt, sondern auch als Schwarzgeldverteiler für Christdemokraten und andere politische Akteure. [15] Nachdem die Propagandaaktionen zwar Zwietracht gesät, aber keinen Stim­mungswechsel erzeugt hatten, gingen die USA in die wirtschaftliche Destabilisierung über: 1. Die Kreditvergaben an Chile wurden eingestellt, 2. US-Direktinvestitionen wurden unter­bunden, 3. Weil Kupfer das Haupterzeugnis der chilenischen Wirtschaft ist, wurde auf kup­fererzeugende Staaten Druck ausgeübt, die Produktion zu erhöhen und Preise zu senken. Obwohl die chilenische Wirtschaft einbrach und es zu Versorgungsengpässen kam, blieb die allgemeine Zustimmung für Allende hoch. In den Berichten aus der CIA lässt sich ein regelrechter Fanatismus erkennen: Zwischen 1970-73 unterstützten die US-Spione alles, was sich gegen Allende richtete. [16] Die Christdemokraten waren die Hauptbegünstigten, aber auch die Revolutionäre Linke, kleine Studentengruppen und unbedeutende Vereine. Wie lange Allende durchgehalten hätte, ist schwierig zu erahnen. Die Rolle der UdSSR ist zumindest ambivalent. So heißt es von einem CIA-Analysten, die UdSSR misstraute Allende. Moskau hätte Allende geraten, seine Spannungen mit den USA auf dem diplomati­schen Weg beizulegen. [17]

Der Sturz von Salvador Allende unterschied sich von anderen Putschen darin, dass trotz ökonomischer und politischer Destabilisierung ein entscheidender Teil der Bevölkerung hinter Allende und seiner Politik stand. Dieses erklärt auch die besondere Brutalität des Pinochets-Regimes, der den bürgerlichen Staat abschaffte und durch ein barbarisches Ter­rorsystem ersetzte. Die Menschenrechtsberichte aus damaliger Zeit reichen von willkürli­chen Verhaftungen, Folterungen bis hin zu Massenerschießungen und Zwangsarbeit. [18] Der Wille des chilenischen Volkes sollte gebrochen werden.

III. Ein armseliger Frieden!

Von 1947 bis 1989 sollen die USA 64 verdeckte Regime-Change-Operationen durchge­führt haben. [19] Die Anzahl der unmittelbaren und mittelbaren Opfer konnte nie ermittelt werden. Putsche sind damals wie heute Realität der hegemonialen Außenpolitik der USA. Der Standford-Professor Alexander George bezeichnet diese Politik als »Diplomatie des Zwangs«. Die USA bedienen sich ihrer Macht der Massenmedien, der Währungshoheit, der Nachrichtendienste und im schlimmsten Fall des Einsatzes von Militär. Hierfür ist die Unterscheidung zwischen soft und hard power hilfreich. Während die Subtilitäten der soft power mannigfaltig durch die Beeinflussung der öffentlichen Meinung erfolgen, wird »hard power« [20] im Kern durch wirtschaftliche Destabilisierungen erreicht: In Chile der Preisdruck auf Kupfer; in Kuba die Blockade; in Iran, Venezuela, Russland und der DVRK das Abtren­nen vom internationalen Finanzverkehr; Sanktionen gegen Belarus, Sudan, Burundi, Soma­lia, Zimbabwe; das Embargo auf Halbleiter gegen China und – seit April 2023 – gegen Indiens Ölsektor wegen der Kooperation mit dem Iran. Die nächste Eskalationsstufe ist die aktive Einmischung in die politische Souveränität. In Chile die Unterstützung der Konserva­tiven und des Militärs, in Georgien die »Rosenrevolution« durch die Installierung der Oppo­sition um Micheil Saakaschwili; die »Orange Revolution« der Ukraine durch die Millionen der Victoria Nuland oder der »Tulpenrevolution« in Kirgisien ebenfalls durch die Finanzie­rung der »Zivilgesellschaft«. [21] Diese Liste ist keineswegs abschließend.

Selbst wenn solche Handlungen der USA eine Verletzung der staatlichen Souveränität durch Einmischung in die inneren Angelegenheiten darstellen, stehen den Opferstaaten keine internationalen Handlungsmittel zur Verfügung. Diese Lücke lässt sich mit dem veral­teten römischen Friedensbegriff der Völkerrechtslehre [22] erklären: Demnach ist Frieden die Abwesenheit von Krieg und Krieg die zwischenstaatliche Anwendung militärischer Gewalt. Nach diesem »Klipp-Klapp«-Schema ist die gezielte Destabilisierung durch Propaganda, Wirtschaftssanktionen oder Finanzierung militärischer Truppen keine kriegerische Hand­lung. Welch armseliger Frieden! [23]

Chile war ein Traum. Ein hochkultivierter, warmherziger Präsident, der Charakter und Intel­lektualität zusammenbrachte. Ein Sozialismus, der bürgerliche Freiheit verteidigte und soziale und wirtschaftliche Menschenrechte erkämpfte. In den Reden und Interviews zeig­te sich Allende keineswegs naiv oder voluntaristisch. Aber überschätzte er die Macht des Volkes, die Immunkräfte einer wirklichen Volksherrschaft?

Aus einer Hegelianischen Sicht sind Staat und Gesellschaft unterschiedlich. In diesem Sin­ne hatte Allende die Gesellschaft und Teile der Legislative für sich gewonnen, aber der Staatsapparat und hierbei die wichtigen Bereiche der Gewaltmonopole blieben in der Hand der Reaktion. Ob es gefällt oder nicht, es bleibt, was der rechte Jurist Carl Schmitt sagte: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«.

Der Chile-Putsch steht als Prototyp für die Diplomatie des Zwangs und somit für die Reali­tät der heutigen pax americana. Oder in den Worten Henry Kissingers, der bezogen auf den Allende-Putsch meinte: »Wir haben es nicht getan. Ich meine, wir haben ihnen geholfen – […] wir haben die bestmöglichen Ausgangsbedingungen geschaffen.« [24]

Im August 2023 forderte der chilenische Botschafter in Washington den US-Präsidenten Joseph Biden auf, sämtliche Dokumente der Nixon-Administration zum 11. September 1973 zu veröffentlichen. Das Weiße Haus schweigt. [25]

 

Anmerkungen:

[1]  Montgomery, I. T. T. Office here damaged by bomb, New York Times, 29.11.1973, S. 1.

[2]  Debray, Conversations with Allende, S. 61.

[3]  Waitzkin, Commentary: Salvador Allende and the birth of Latin American socail medicine, International Journal of Epidemiology, Vol. 34 (4), August 2008, S. 739-741. S. 740.

[4]  Debray, S. 74.

[5]  Allende, Speech to the United Nations, 04.12.1972, abrufbar: https://www.marxists.org/archive/allende/1972/december/04.htm [14.08.2023].

[6]  Morozov, The Planning Machine, The New Yorker, 06.10.2014, abrufbar: https://www.newyorker.com/magazine/2014/10/13/planning-machine [11.08.2023].

[7]  Debray, S. 55-57.

[8]  Ibidem, S. 126.

[9]  Fn. 5.

[10]  Vgl. Kornbluh, in: The National Security Archive, New Kissinger ›Telcons‹ Reveal Chile Plotting At Highest Levels of U.S. Government, Briefing Book No. 255, 10.09.2008, abrufbar: https://nsarchive2.gwu.edu/NSAEBB/NSAEBB255/index.htm [14.08.2023].

[11]  Barlett, Files reveal Nixon role in plot to block Allende from Chilean presidency, The Guardian, 08.08.2023, abrufbar: https://www.theguardian.com/world/2023/aug/08/richard-nixon-plot-allende-chile-presidency [10.08.2023].

[12]  United States Senate, Covert Action in Chile 1963-1973, 94th Congress/1St Session, S. 50.

[13]  Ibidem, appendix, S. 61.

[14]  Ibidem, S. 8.

[15]  Ibidem, S. 18 f.

[16]  Ibidem, S. 26 ff.

[17]  Ibidem, S. 46.

[18]  Vgl. United States Institute of Peace, Report of the Chilean National Commission on Truth and Reconciliation, 04.10.2002, abrufbar: https://www.usip.org/sites/default/files/resources/collections/truth_commissions/Chile90-Report/Chile90-Report.pdf  [14.08.2023].

[19]  O’Rourke, Covert Regime Change, S. 29.

[20]  PRC MFA, America’s Coercive Diplomacy and Its Harm, 18.05.2023, abrufbar: https://www.fmprc.gov.cn/eng/wjbxw/202305/t20230518_11079589.html [14.08.2023].

[21]  Ibidem.

[22]  Cicero: Inter pacem et bellum nihil medium [Es gibt keinen Mittelweg zwischen Frieden und Krieg].

[23]  Schmitt, Begriff des Politischen, Corollarium 2, S. 63.

[24]  Kornbluh, in: National Securtiy Archive, The Kissinger Telcons: Kissinger Telcons on Chile, 26.05.2004, https://nsarchive2.gwu.edu/NSAEBB/NSAEBB123/chile.htm [14.08.2023].

[25]  Ribas i Admetlla, Chile seeks more documents from US on 1973 coup, La Prensa Latina Media, 01.08.2023, abrufbar: https://www.laprensalatina.com/chile-seeks-more-documents-from-us-on-1973-coup [14.08.2023].

 

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