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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Immanuel Kant 1724 – 1804

Prof. Dr. Hermann Klenner, Berlin

 

Vor dreihundert Jahren, am 22. April 1724, wurde im damals in Preußen liegenden Königsberg (dem seit 1946 zu Russland gehörenden Kaliningrad mit seiner seit Juli 2005 nach dem jetzigen Jubilar benannten »Immanuel-Kant-Universität«) einer der bedeutendsten Philosophen nicht nur Deutschlands geboren. Mit Fichte, Hegel und Feuerbach leitete Kant den von Leibniz begonnenen Denkweg ein, der schließlich zu Karl Marx führte. Ohne diesen Vorausgang wäre der deutsche wissenschaftliche Sozia­lismus nie zustande gekommen, war die Meinung von Friedrich Engels, welcher auch Lenin (der übrigens Kants Werke mit in die Verbannung nahm) zustimmte. [1]

 

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Zunächst zu seinem Leben: Immanuel Kant wurde am 22. April 1724 als viertes von neun Kindern des Handwerkmeisters Johann Georg Kant und dessen Ehefrau Anna Regina Kant geboren. Von 1730 bis 1732 besuchte er eine Hospitalschule, danach bis 1740 das pietistische Kollegium Fridericianum, von dem seine Begeisterung für antike Autoren wie seine Abneigungen gegen religiösen Zwang, Pietismus und Kirchgängerei für sein ganzes Leben geblieben sind. Seine Mutter wie sein Vater erhielten nach ihrem Ableben 1737 bzw. 1746 ein Armenbegräbnis. Kant wohnte dann nicht mehr in der elterlichen Wohnung und verdiente seinen Unterhalt durch Privatstunden. Er begann 1740 ein Universitätsstudium, verließ aber die Universität ohne Examina. Als erste und einzige zu seinen Lebzeiten erschienene Originalsausgabe publizierte er 1746 »Gedan­ken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurteilung der Beweise, derer sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker […] bedienet haben«. (Dazu Gott­hold Ephraim Lessing, Werke, Bd. 5, Weimar 1963, S. 39: »K… unternimmt ein schwer Geschäfte, / Der Welt zum Unterricht. / Er schätzet die lebend’gen Kräfte, / Nur seine schätzt er nicht«.)

Bis 1755 arbeitete Kant in der Umgegend Königsbergs als Hauslehrer (Hofmeister) bei drei verschiedenen Familien: einem Prediger, einem Gutsbesitzer und einem Grafen. Nach seiner Promotion und Habilitation unterrichtete er für die nächsten fünfzehn Jahre als Privatdozent für Philosophie an der Universität von Königsberg und begann eine an Themen und Stundenzahl umfangreiche Vorlesungstätigkeit über Logik, Metaphysik, Theologie, Mathematik, Physik, Geographie, Anthropologie, Pädagogik, Religions-, Ge­schichts-, Moral- und Rechtsphilosophie. Durch eine harte Disziplin – tagtäglich von vor 5 Uhr früh bis 22 Uhr – verlangte der nur 1,57 m große (blonde und blauäugige) Kant seinem schwächlichen Körper diese außergewöhnliche Arbeitslast ab. Seine Bewerbun­gen für freigewordene Professuren wurden 1756 und 1758 von Preußens König bzw. Russlands Zarin abgelehnt. In seinem zweiundvierzigsten Lebensjahr erhielt der »be­rühmt gewordene Magister Kant« auf seine Bewerbung hin die mit 62 Talern Jahresgehalt dotierte Stelle eines Unterbibliothekars an der Königlichen Schlossbibliothek.

In seinem siebenundvierzigsten Lebensjahr wurde Kant endlich an der Universität Kö­nigsberg »Ordentlicher Professor für Metaphysik und Logik« mit einem Jahresgehalt von 236 Talern, 76 Groschen und 12 Pfennigen. Er kaufte für 5.500 Gulden ein eigenes Haus in Königsberg, einer Stadt von 6.000 Häusern; in seinem mit einer nur kleinen Bibliothek von 500 Bänden bestückten, ansonsten bescheiden möblierten Haus – als einziger Bildschmuck hing in seinem Arbeitszimmer ein ihm geschenktes Portrait Rous­seaus – lehrte und lebte fortan Kant. Er amtierte 1786 und 1788 als Rektor der Univer­sität, hatte nun ein Jahresgehalt von 417 (1789 von 725) Talern und wurde zum Aus­wärtigen Mitglied der Berliner, später auch Ehrenmitglied der Petersburger Akademie der Wissenschaften berufen. Auf persönliches Betreiben des preußischen Königs Fried­rich Wilhelm II. wurde der siebzigjährige Kant durch eine spezielle Kabinettsorder ver­warnt, da er durch seine veröffentlichte Schrift über Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft gegen »Unsere landesväterlichen Absichten« gehandelt habe.

Kant beendete 1796 seine mehr als vierzig Jahre währende Vorlesungszeit an der Uni­versität, während der er 54-mal Logik, 49-mal Metaphysik, 28-mal Moralphilosophie, 1-mal Natürliche Theologie, 11-mal Enzyklopädie, 4-mal Pädagogik, 24-mal Anthropolo­gie, 46-mal Physische Geographie, 20-mal Theoretische Physik, 16-mal Mathematik, 2-mal Mechanische Wissenschaften, 1-mal Mineralogie und 12-mal (vor wenig mehr als je 20 Hörern!) auch Naturrecht vorgetragen hat.

Im fünfundsiebzigsten Lebensjahr, »obgleich bei noch nicht völlig eingetretener Hinfäl­ligkeit« – so des Philosophen eigene Worte –, veröffentlichte er nach einer Auseinan­dersetzung mit den Zensurbehörden im Herbst 1798: »Der Streit der Fakultäten«; in dieser Publikation vereinigte er drei zu verschiedener Zeit und in verschiedener Absicht geschriebene Abhandlungen zu einem Ganzen, und von ihr waren noch 35 Jahre danach mehr als tausend Exemplare nicht verkauft worden. Auch in dieser Abhandlung bekennt Kant sich zur Französischen Revolution, die »in den Gemütern aller Zuschauer eine Teil­nehmung dem Wunsche nach finde, die nahe an Enthusiasmus grenzt«. [2]

Um 1800 klagte Kant über seine allmählich auftretende Hinfälligkeit: »Meine Gesund­heit ist nicht die eines Studierenden, sondern Vegetierenden«. 1802 unterzeichnete er dann einen von fremder Hand geschriebenen Brief, in dem es heißt: »Mein Kräfte schwinden, und ob ich gleich keine eigentliche Krankheit jemals gehabt habe und auch jetzt keine befürchte, so bin ich doch bis jetzt seit zwei Jahren nicht aus meinem Haus gewesen«. 1803: im Oktober Schlaganfall; im Dezember als »letzter Federstrich« seine Unterschrift, mit der er seinem Vertrauten Ehrengott Wasianski Generalvollmacht erteilt. Todesanzeige 1804: »Am 12. Februar, mittags um 11 Uhr erfolgte das Absterben des Herrn Professor Immanuel Kant in einem Alter von 79 Jahren und 10 Monaten.« – Seinem Sarg folgte am 28. Februar um 14 Uhr unter dem Geläute aller Glocken der ganzen Stadt Königsberg eine unabsehbare Menschenmenge, gemäß des Verblichenen Intention: »ohne irgend eine Rangbeobachtung«.

 

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Kant hinterließ ein vielbändiges und vielseitiges Werk, dessen Kommentierungen ganze Bibliotheken füllen und von niemandem mehr vollständig erfasst, geschweige denn ver­arbeitet werden kann. Bereits bei seinem Tod betrug die Sekundärliteratur zu seiner Philosophie mehr als zweitausend Bände. Er gehört auch in der Gegenwart zu den meistzitierten Autoren der Weltphilosophie.

Sein fundamentalstes Werk ist die von ihm 1781 gegen ein Bogenhonorar von 4 Talern in Riga veröffentlichte Critik der reinen Vernunft, mit der er nach eigener Einschätzung eine »Revolution der Denkart« einleitete und der Philosophie den »Rang von Wissen­schaft« eroberte. In der Vorrede beansprucht er Francis Bacons Einschätzung für sich: keine bloße Meinung zu bieten, sondern »eines endlosen Irrtums Ende«. [3] Vierfaches Ziel dieses Werkes, heißt es auf S. XI der Erstauflage, ist eine Kritik »des Vernunftver­mögens überhaupt« hinsichtlich aller Erkenntnisse, zu denen die Vernunft »unabhängig von aller Erfahrung streben mag«; außerdem die Bestimmung der Grenzen reiner Ver­nunfterkenntnis; ferner die Erörterung der »Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Meta­physik überhaupt«; und schließlich die Begründung möglicher Erkenntnis a priori. – Es gab und gibt immer nur eine kleine Minderheit von Professionellen, die diese Anforde­rungen Kants an seine Critik der reinen Vernunft, und damit diese selbst, verstehen. Schon damals kommentierte ein professoraler Amtskollege Kants, dass die Critik der reinen Vernunft aus lauter Hieroglyphen bestände, und Moses Mendelssohn, guter Freund von Kant, legte das »nervensaftverzehrende Werk« ungelesen beiseite. Überlie­fert ist aber auch eine Bemerkung Lichtenbergs, einer Autorität, die Kant zu würdigen wusste, dass andere meinen, »Herr Kant habe [deshalb] recht, weil sie ihn verstehen«. [4] Politisch eindeutig ist jedenfalls Kants Anspruch, mit seiner Vernunftkritik zum »Zeital­ter der Kritik« beizutragen, deren Ziel es sei, dass sich alles der Kritik unterwerfen müs­se, auch Religion und Gesetzgebung, die sich beide gemeiniglich wegen ihrer heiligen bzw. ihrer staatlichen Herkunft der Kritik zu entziehen versuchen. Dass Kant mit seiner Vernunftkritik alle nur möglichen Gottesbeweise widerlegt hat, trug gewiss dazu bei, dass – wie Werke von Bacon, Galilei, Hobbes, Rousseau, Voltaire und Heinrich Heine (nicht hingegen Adolf Hitlers »Mein Kampf«!) – natürlich auch seine Critik der reinen Vernunft (seit 1827) auf dem Index der von Roms Kirche verbotenen Bücher landete. [5]

 

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Kant war auch ein politischer Denker. Nach heutigen Begriffen ist seine »Rechtslehre der reinen Vernunft«, wie er sie nannte, »links« einzuordnen. Bereits in seiner Critik der reinen Vernunft zielte er auf eine »Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, dass jedes Freiheit mit der anderen ihrer zusammen bestehen kann«. Der sogar in der neueren Zeit vorgebrachten Infamie: Kants politische Theorie sei auf den Staat Friedrichs II., des sogenannten Großen, zugeschnitten, und die preußisch-deutschen Zustände seien das Modell für sein politisches Denken gewe­sen, widersprechen auf das Fundamentalste Kants eigenen Anforderungen: Verwerflich sei es, Gesetze über das, was getan werden solle, aus denjenigen abzuleiten, was getan wird; nicht vom Empirischen, sondern vom Vernünftigen müsse man ausgehen, denn eine empirische Rechtslehre sei ein Kopf ohne Gehirn. [6] Auf Preußens Friedrich wie auf jedes anderen Staates sich aufgeklärt gebenden Absolutismus gemünzt, schreibt Kant in einer Nachlassbemerkung: »Der Fürst hält sein Volk wie das liebe Vieh, er schiert ihm die Wolle knapp ab, lässt sie nicht nach ihrem, sondern nach seinem Willen weiden […] und lässt ihnen keinen Verstand als zum Gehorchen«. [7]

Der in Fortführung der Gedanken von Spinoza und Rousseau von Kant erhobene »Rechtsanspruch der Menschenvernunft auf Freiheit des Willens« [8], musste mit den bestehenden deutschen Zuständen kollidieren, und Kant machte daraus keinen Hehl. Wo immer er auf feudalen Despotismus und feudalen Plunder zu sprechen kam [9], attackierte er:

– den Adel, den er samt Fideikommiss und Majorat als »Anomalie«, als »temporäre Zunftgenossenschaft«, als überfällig also, markiert;

– die Leibeigenschaft, die er unverblümt als Verbrechen bezeichnet;

– die absolute Monarchie, denn nur die reine Republik sei eine rechtmäßige Verfassung;

– die Kriegs-, Rüstungs- und Eroberungspolitik (es gereicht ihm zur besonderen Ehre, gegen die Teilung Polens ebenso offen aufgetreten zu sein wie gegen die militärische Intervention in Frankreichs Revolution und den Söldnerverkauf an fremde Staaten);

– den Kolonialismus und den Sklavenhandel durch diejenigen, die von der »Frömmigkeit viel Werks machen und Unrecht wie Wasser trinken«;

– die »furchtbare Gewalt« des Klerus und die Kirche, die er vom Staat zu trennen vor­schlägt und deren Güter enteignet zu werden verdienen.

Wohlgemerkt, es handelt sich bei diesen Attacken Kants nicht um Randbemerkungen oder Entgleisungen. Schließlich hat Kant selbst in unverwechselbarem Gleichlaut mit »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«, jenen Losungen, unter denen das Volk von Paris die Bastillen des französischen Feudalismus stürmte, »Freiheit, Gleichheit und weltbür­gerliche Einheit (Verbrüderung)« zu den dynamischen Kategorien jener Politik erklärt, die kraft Vernunft der Staatsverfassung zugrunde liegen. [10] Kant hielt der französischen Revolution, der er mit »Enthusiasmus«, »Zujauchzen«, »heißer Begierde« gedenkt, bis zu ihrem und seinem eignen Ende die Treue.

Freilich, auch das muss gesagt werden: Kant war – politisch (anders: erkenntnistheore­tisch!) gesehen – kein Revolutionär. Den Übergang vom Staat seiner Zeit zum Staat sei­ner Vernunft wünschte er sich »nicht revolutionsmäßig, durch einen Sprung, d. i. durch gewaltsame Umstürzung«, sondern durch »allmähliche Reform nach festen Grundsät­zen, in kontinuierlicher Annäherung«. So endet jedenfalls seine Rechtslehre. [11] Auch schränkte Kant seinen Demokratiebegriff bis hart an die Grenze seiner Rücknahme ein, indem er – wie übrigens Frankreichs revolutionäre Nationalversammlung auch – Tage­löhnern, Handwerksgesellen, Bediensteten, Hauslehrern und Frauen kein Wahlrecht zubilligte, womit die Mehrheit des Volkes nicht »Bürger zu sein« qualifiziert wurde. [12]

 

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Zwischen seinem sechzigsten und seinem fünfundsiebzigsten Lebensjahr hat Kant sich zu keinem Problem häufiger geäußert als zu der Frage, wodurch das nach seiner Mei­nung größte Übel der Völker: der »kontinuierliche Krieg« zwischen ihnen, in einen »immerwährenden Frieden« überführt werden könne. [13] Schließlich sei der Friede das Meisterwerk der Vernunft. Zu diesem – damals wie erst recht heute! – Fundamental­problem der Menschheit hat er sich in mindestens acht verschiedenen seiner Schriften geäußert [14], sowie 1795 in einem in zunächst zweitausend Exemplaren verbreiteten selbständigen Traktat von 104 Seiten: »Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Ent­wurf« (Reprint: Berlin 1985). [15] Ausgelöst wurde Kants Friedensprojekt durch den im April 1795 abgeschlossenen Friedensvertrag zwischen der revolutionären Republik Frankreich und der konterrevolutionären Monarchie Preußen. Kant hatte zuvor schon gegen die Einmischung des Landes, dessen Bürger er war, in das Experiment der französischen Revolution Stellung bezogen, an der er, wie er es selbst formulierte, »dem Wunsche nach, der nahe an Enthusiasmus grenzt«, wenigstens meinungsmäßig teilnahm.

– Für Kant war die durch die Vernunft a priori gebotene friedliche Gemeinschaft aller Völker auf Erden kein bloß moralisches, sondern ein geschichtlich gebotenes Rechts­prinzip.

– Das kriegerische Morden der Menschen durch ihresgleichen hielt er weder für ein durch deren angeborene Triebausstattung bedingtes Verhaltensmuster, noch für eine göttliche Mission zur Bestrafung sündiger Gemeinschaften, sondern charakteristisch nur für vorübergehende Phasen der Menschheitsentwicklung, und zwar während ihrer barbarischen Zeiten. Von Natur aus seien die Völker zu einer fortschreitenden Koalition in einer weltbürgerlichen Gesellschaft bestimmt. Nicht auf den Edelsinn der Völker setzte Kant, sondern auf deren Einsicht in ihren Eigennutz.

– Sodann hat Kant die Kriegsentstehung wie die Kriegsführung aus den Interessen der Obrigkeiten erklärt, womit er das Interesse am Frieden dem Volk zuordnete. Mit der Staatenpflicht zum Frieden korrespondiert bei ihm das Menschenrecht auf Frieden. Daraus lässt sich ein pazifistischer Imperativ erschließen: Jeder Staat solle in seinem Inneren so organisiert sein, dass nicht die Staatsoberhäupter, sondern das Volk die ent­scheidende Stimme hat, ob Krieg sein solle oder nicht.

– Damit hat Kant, neben dem Wechselverhältnis zwischen inner- und zwischenstaatli­cher Gewaltherrschaft, eben auch das Wechselverhältnis zwischen inner- und zwischen­staatlicher Freiheitsverwirklichung thematisiert. Seine Idee einer mit dem natürlichen Recht jedes Menschen übereinstimmenden Verfassung, dass nämlich die dem Gesetz Gehorchenden zugleich die das Gesetz Gebenden sein sollen, sei die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt und für den ewigen Frieden.

– Und schließlich zeigt sich in der Option Kants für eine »Föderation nach einem gemeinschaftlichen Völkerrecht«, dass er seinen allseits bekannten kategorischen Imperativ: »Handle so, dass du wollen kannst, deine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden« [16], vom Gegenstandsbereich des zwischenmenschlichen auf den der zwischenstaatlichen Beziehungen transferiert hat, eine Übertragung, die wenig beach­tet, wenn überhaupt bisher erkannt worden ist.

Und, um auch das noch zu sagen: diese auf die Gemeinsamkeit der Völker und ihrer Interessen orientierende Konzeption Kants steht im Einklang mit dem Völkerrecht der Gegenwart; sie steht aber in vollständigem Gegensatz zu dem seit Beendigung des zwei­ten Weltkriegs als berechtigt ausgegebenen Dominanzanspruch der USA gegenüber dem Rest der Welt, ebenso wie zur Bereitwilligkeit der EU und der NATO, sich diesem Anspruch unterzuordnen. Die gegenwärtige BRD-Regierung verwendet ihre ökonomi­schen, militärischen, diplomatischen und ideologischen Mittel nicht, um gezielt zur Frie­densherstellung in völkerrechtswidrig sowohl begonnenen wie geführten Kriegen anderer Staaten beizutragen. Durch Geldüberweisungen und Waffenlieferungen ohne Ende betei­ligt sie sich – zwar nicht juristisch, wohl aber soziologisch – an diesen Kriegen.

Eine hilfreiche Kant-Lektüre bei der Analyse des gegenwärtigen Weltkriegs-Geschehens in Osteuropa und Palästina wird freilich niemand von den uns beherrschenden Politi­kern erwarten. Auch wenn Bundeskanzler Olaf Scholz auf Einladung der Berlin-Branden­burgischen Akademie der Wissenschaften am 22. April dieses Jahres den Immanuel Kant gewidmeten Jubiläumsvortrag halten wird, wäre es illusionär anzunehmen, dass er dabei die ideologische, finanzielle und militärische Kriegsbeteiligung der BRD als der Gedankenwelt Kants widersprechend be- und verurteilen wird. Als jedenfalls der pro­movierte Jurist Olaf Scholz im Oktober 2022 mit dem an der privaten Harvard-Universi­tät lehrenden US-amerikanischen Philosophie-Professor Michael Sandel über das »Gemeinwohl« diskutierte (was auch gegenwärtig noch in voller Länge auf YouTube online gesehen und gehört werden kann), blieben die aktuellen Kriege samt deren Gründe und Hintergründe ebenso wie das Gegenwartsverhältnis von Privateigentums- und Kriegsinteressen sowie die menschenrechtswidrige Funktion des Chauvinismus ausgespart.

 

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Kant-Sentenzen

Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.

Alle Politik muss ihre Knie vor dem Recht der Menschen beugen.

Wo Staat und Volk zwei Personen sind, ist Despotismus.

Freiheit der Feder – Palladium der Volksrechte.

Eine väterliche Regierung ist die am meisten despotische Regierung.

Der Besitz der Gewalt verdirbt das freie Urteil der Vernunft.

Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie.

Die Freiheit eines jeden beginnt dort, wo die Freiheit eines anderen aufhört.

Der ziellose Mensch erleidet sein Schicksal, der zielbewusste gestaltet es.

Wenn wir die Ziele wollen, wollen wir auch die Mittel.

Ich kann, weil ich will, was ich muss.

Denken ist Reden mit sich selber.

Es ist nichts beständiger als die Unbeständigkeit.

Kein Mensch ist so wichtig, wie er sich nimmt.

Erfahrung ist eine verstandene Wahrnehmung.

Mathematik ist eine Bedingung der exakten Erkenntnis.

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündig­keit.

Die Ehe ist die Verbindung zweier Menschen verschiedenen Geschlechts zum lebens­länglichen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften.

Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gestrickt ist, kann nichts ganz Grades gezimmert werden.

Es ist höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich tun soll, von demjenigen herzu­nehmen, was getan wird.

Würde man die Handlungen der Menschen von Gott abhängig denken, wäre der Mensch eine Marionette.

Der Friede ist das Meisterwerk der Vernunft.

 

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Literatur

Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, Berlin ab 1900 (I: Werke; II: Briefwechsel; III: Hand­schriftlicher Nachlass; IV: Vorlesungen)

Immanuel Kant, Werkausgabe, Bd. I - XII, Wiesbaden 1991

Immanuel Kant, Briefwechsel, Hamburg 1986

Immanuel Kant, Rechtslehre. Schriften zur Rechtsphilosophie, Berlin 1988

Zwi Batscha, Materialien zu Kants Rechtsphilosophie, Frankfurt 1976

Steffen Dietzsch, Immanuel Kant, Leipzig 2004

Volker Gerhardt, Immanuel Kant, Stuttgart 2002

Arsenij Gulyga, Immanuel Kant, Frankfurt 2004

Otfried Höffe, Immanuel Kant, München 2007

Gerd Irrlitz, Kant-Handbuch, Stuttgart 2002

Karl Jaspers, Kant, München 1983

Joachim Kopper / Rudolf Malter (ed.), Immanuel Kant zu ehren, Frankfurt 1974

Frank Kuhne, Marx und Kant, Weilerswist 2022

Domenico Losurdo, Immanuel Kant, Köln 1987

Rudolf Malter, Immanuel Kant in Rede und Gespräch, Hamburg 1990

Oskar Negt, Kant und Marx, Göttingen 2003

Michael J. Sandel, Vom Ende des Gemeinwohls, Frankfurt 2020

Karl Vorländer, Kant und Marx, Tübingen 1911

Januar 2024

 

Anmerkungen:

[1] Marx / Engels, Werke, Bd. 7, Berlin 1960, S. 541 (MEGA I/24, S. 382); Lenin, Werke, Bd. 5, Berlin 1955, S. 381; Register zu Lenins Werken, Band II, Berlin 1964, S. 245; N. K. Krupskaja, Erinnerungen an Lenin, Berlin 1960, S. 44.

[2] Immanuel Kant, Rechtslehre. Schriften zur Rechtsphilosophie (ed.: Hermann Klenner), Berlin 1988, S. 391.

[3] Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, (ed.: Wilhelm Weischedel), Stuttgart 1992, S. 7; Francis Bacon, Neues Organon, (ed.: Wolfgang Krohn), Hamburg 1990, S. 10.

[4] Georg Christoph Lichtenberg, Werke, Berlin 1975, S. 132.

[5] Albert Sleumer, Index Romanus, Osnabrück 1951, S. 149, 175 (Das Zweite Vatikanische Konzil hat 1966 den Index librorum prohibitorum außer Kraft gesetzt.)

[6] Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (ed.; Karl Vorländer), Hamburg 1966, S. 34.

[7] Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, Bd. 19, Berlin 1971, S. 514.

[8] Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (ed.: Karl Vorländer), Leipzig 1947, S. 87.

[9] Belege in: Hermann Klenner, »Zur Rechtslehre der reinen Vernunft«, in: M. Buhr / T. I. Oiserman (ed.), Revolution der Denkart oder Denkart der Revolution. Beiträge zur Philosophie Immanuel Kants, Berlin 1976, S. 162-177.

[10] Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, Bd. 23, Berlin 1969, S. 139, 143.

[11] Immanuel Kant, Rechtslehre. Schriften zur Rechtsphilosophie, Berlin 1988, S. 172.

[12] Immanuel Kant, ebenda, S. 128 f.; Kant, Gesammelte Schriften, Bd. 8, Berlin 1912, S. 295.

[13] Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, Bd. 8, Berlin 1912, S. 120 f.

[14] Immanuel Kant, Rechtslehre. Schriften zur Rechtsphilosophie, Berlin 1988, S. 160-173, 279-338, 474-480, 508-516. – Vgl. Volker Gerhardt, Immanuel Kants »Entwurf zum ewigen Frieden«, Darmstadt 1995; Hermann Klenner, Kants »Entwurf zum ewigen Frieden – Illusion oder Utopie«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Jg. 82, Stuttgart 1996, S. 151-160; Klenner, »Pax Kantiana versus Pax Americana«, in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Bd. 69, Jg. 2004, S. 43-54.

[15] Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Mit Texten zur Rezeption 1796-1800, Leipzig 1984.

[16] Immanuel Kant, Rechtslehre. Schriften zur Rechtsphilosophie, Berlin 1988, S. 283, 327, 418.

 

Mehr von Hermann Klenner in den »Mitteilungen«:

2024-01: Aus Spaß an der Freud: HEGEL zum NACH-DENKEN

2023-08: Trotz alledem!

2023-03: Erinnerung an Karl Marx