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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Für jeden Einzelfall eine neue Antwort?

Ellen Brombacher, Berlin

 

Am 19. Januar 2011 fand auf Einladung des Marxistischen Forums, der Kommunistischen Plattform und des Neuen Deutschland im Münzenbergsaal des ND eine Podiumsdiskussion statt. Sie stand unter dem Motto "Für jeden Einzelfall eine neue Antwort?" und wurde von Genossen Prof. Gregor Schirmer moderiert. Auf dem Podium diskutierten miteinander: Sahra Wagenknecht (MdB und stellvertretende Parteivorsitzende der LINKEN), Stefan Liebig (MdB), Paul Schäfer (MdB) und Tobias Pflüger (Mitglied des Parteivorstandes der LINKEN). Gut 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer verfolgten mit gespannter Aufmerksamkeit die zweistündige Debatte. Ungeachtet kontroverser Positionen verlief der Abend in einer kulturvollen Atmosphäre.

Die Kontroverse

Hier soll nicht der Versuch unternommen werden, die Debatte in Kurzform wiederzugeben. Vielmehr soll auf die Hauptkonfliktpunkte verwiesen werden.

Zunächst einmal hierzu ein Zitat aus dem Programmentwurf: "Für DIE LINKE ist Krieg kein Mittel der Politik. Wir fordern die Auflösung der NATO und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Rußlands. Wir fordern ein sofortiges Ende aller Kampfeinsätze der Bundeswehr. Dazu gehören auch deutsche Beteiligungen an UN-mandatierten Militäreinsätzen nach Kapitel VII der UN-Charta. Um Akzeptanz für eine Militarisierung der Außenpolitik zu erlangen, ist zunehmend von "zivilmilitärischer Kooperation" und von Konzepten zur "vernetzten Sicherheit" die Rede. DIE LINKE lehnt eine Verknüpfung von militärischen und zivilen Maßnahmen ab. Sie will nicht, daß zivile Hilfe für militärische Zwecke instrumentalisiert wird.... Statt Aufrüstung, militärischer Auslandseinsätze und EU-NATO-Partnerschaft ist eine Umkehr zu einer friedlichen Außen- und Sicherheitspolitik notwendig, die sich strikt an das in der UN-Charta fixierte Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen hält."

Entblättert man die zweistündige hochkarätig besetzte Debatte von allen Einzelargumenten und -strängen, so läßt sich der Hauptkonflikt so beschreiben: Sahra und Tobias, die sich – trotz Verweis auf Verbesserungswürdiges – letztlich im wesentlichen für den Teil VI.4. des Programmentwurfs ("Wie schaffen wir Frieden? Abrüstung, kollektive Sicherheit und gemeinsame Entwicklung") aussprachen, betonten die Stoßrichtung desselben, das in der UN-Charta fixierte Gewaltverbot hervorzuheben und Militäreinsätze nach Kapitel VII der Charta abzulehnen. Diese Position steht nicht nur in der Tradition von Münster, sondern in der Tradition beider Quellparteien.

Paul Schäfer betonte den Fundus der Gemeinsamkeiten und forderte zugleich in diesem Kontext ein "klares Bekenntnis zu den normativen Regeln des Völkerrechts". Manchmal ginge es nicht ohne Gewalt, sagte er und erinnerte an das Lied "Dank Euch, Ihr Sowjetsoldaten". Die Gewaltanwendung sei mit der UN-Charta an die UNO übertragen. Wenn also überhaupt Gewalt, dann könne sie nur durch die UNO ausgeübt werden. Diesen Grundsatz halte er für alternativlos. Man könne sich nicht gegen alles sperren. Manchmal gäbe es Situationen, in denen man Gewalt anwenden müsse. Wenn DIE LINKE eine Partei des Völkerrechts sei, könne sie nur bedingt pazifistisch sein. Sei jede humanitäre Intervention vom Tisch, weil es Mißbrauch gäbe? Paul Schäfer verwies hier auf Ruanda oder Ost-Timor. Er sei für ein grundsätzliches Nein zu UN-Militäreinsätzen, aber zugleich müsse man alle Fälle genau angucken.

Sahra Wagenknecht verwies hingegen auf die Zusammensetzung des Weltsicherheitsrates und darauf, daß in ihm kein Beschluß über einen Kapitel-VII-Einsatz ohne die Zustimmung aller ständigen Mitglieder und daher auch nicht ohne Zustimmung der USA erfolgen könne. Unter diesem Aspekt charakterisierte sie die imperialen Interessen solcher Einsätze und wies den Vergleich mit der Antihitlerkoalition zurück. Einzelfallprüfungen lehnte sie als eine Möglichkeit ab, militärischer Gewalt als ultima ratio, als Mittel der internationalen Politik, durch die Partei die Tür einen Spalt weit zu öffnen.

Auch Tobias Pflüger betonte, daß er diese Tür geschlossen haben wolle. Für viele Menschen gäbe es vor allem zwei Gründe, DIE LINKE zu wählen. Sie würde sich für die sozialen Interessen der Menschen einsetzen und sie sei Antikriegspartei. Und das müsse so bleiben. Er forderte, DIE LINKE müsse grundsätzlich alle Bundeswehrauslandseinsätze ablehnen, und in der BRD müsse man zurückkehren zum Grundgesetz, in dem die Bundeswehr als eine Verteidigungsarmee vorgesehen ist. Demzufolge müsse Schritt für Schritt abgerüstet, und zuerst müßten die Kriegsführungsstrukturen beseitigt werden.

Stefan Liebich entgegnete unter anderem, ihn interessiere nicht der Türöffner, ihn interessiere der einzelne Fall. Man müsse über alle Fälle sprechen, so einfach stelle sich das für ihn dar. Ansonsten verwies er mehrfach auf interpretierbare Formulierungen im Programmentwurf, sprach von einem Formelkompromiß. "Sind wir generell gegen Auslandseinsätze oder nicht", fragte er und meinte, wenn dies so wäre, so müßten wir z.B. die Beendigung des Blauhelmeinsatzes auf Zypern ebenso fordern wie den Abzug unbewaffneter Bundeswehr-Beobachter aus dem Sudan. "Müßten wir", so Stefan Liebich, "nicht vielmehr die Bundesregierung auffordern, Vorschläge eines UN-Einsatzes im Sudan nach unseren Bedingungen zu unterbreiten?"

Sahra Wagenknecht verwies darauf, daß der strittige Punkt schon in Münster nicht unsere Haltung zu UN-Blauhelmeinsätzen, sondern die zu Kampfeinsätzen nach Kapitel VII gewesen sei. Die Ablehnung dieser Kampfeinsätze auch im neuen Programm sei unumgänglich. Sahra erwähnte dann einen offenen Brief Joschka Fischers aus dem Jahr 1995, der die offene Auseinandersetzung bei den Grünen darüber einleitete, ob man fürderhin eine pazifistische Partei bleiben wolle oder sogenannten Menschenrechtsinterventionen zustimmen müsse. Sie verwies darauf, daß die entsprechende Entscheidung der Grünen bei ihrer Beteiligung am völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien – in einer Bundesregierung – endete. In die Bundesregierung, so Sahra, wären sie nie gekommen, ohne ihre pazifistischen Grundsätze über Bord geworfen zu haben.

Paul Schäfer erwiderte, die Gefahr für DIE LINKE bestehe in einer fundamentalistischen Nein-Position. Die UN mache vom Gewaltmonopol Gebrauch. Es ginge um die UNO. Man könne sich nicht selektiv aufs Völkerrecht berufen. Wir müßten die Frage beantworten: Sind wir für das Völkerrecht oder nicht? Wenn Sahras Analyse über den UN-Sicherheitsrat stimme, warum sei Kuba dann noch Mitglied der UN? Auch im Imperialismus gäbe es neue Entwicklungen, so in Lateinamerika. Diese Äußerungen lösten bei den Zuhörern eine gewisse Unruhe aus, und Sahra Wagenknecht bezeichnete sie als etwas verworren, weil die verschiedensten Dinge miteinander in einen Topf geworfen würden.

Gegen Ende der Debatte meinte Stefan Liebich, man müsse in diesen Fragen einen Kompromiß finden und verwies auf den Umgang mit der außenpolitischen Thematik im Wahlprogramm.

Erinnern wir uns: Am 20./21. Juni 2009 fand der Parteitag in Vorbereitung der Bundestagswahlen statt. Noch am Morgen vor Beginn des Wahlparteitages verbreiteten die Medien, ein zähes Feilschen um das Bundestagswahlprogramm sei zu erwarten; ein bei mehr als tausend Änderungsanträgen chaotischer Kampf. In dieser Situation nahm die KPF, gemeinsam mit dem Marxistischen Forum, dem Geraer Dialog und anderen ihre Verantwortung für einen konstruktiven Parteitagsverlauf wahr. Gemeinsam hielten wir von 42 Anträgen nur einen Änderungsantrag aufrecht; den Antrag, die Formulierung "Das Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen als Kern des Gewaltmonopols der Vereinten Nationen ist zu achten" durch die Formulierung "Das Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen ist zu achten" zu ersetzen. Aus gewiß unterschiedlichen Positionen überwog auf dem Parteitag bei weitem das Bewußtsein: Dies ist nicht der Ort, programmatische Debatten zu führen. Und so blieb der friedenspolitische Teil im Wahlprogramm unverändert. Voraussetzung war allerdings, daß Gregor Gysi vor der Beschlußfassung zusicherte, dies sei keine Vorwegnahme der Programmdebatte. Nun aber haben wir eine Programmdebatte, und für die Kommunistische Plattform läßt sich verläßlich sagen: Ein hinter den vorliegenden Programmentwurf zurückgehender Kompromiß in friedenspolitischen Dingen ist mit uns nicht aushandelbar.

Mehrheit des Publikums auf Sahras und Tobias’ Seite

Noch einmal zurück zur Veranstaltung am 19. Januar. Christian Klemm stellte im ND vom 21. Januar 2011 zutreffend fest, Sahra Wagenknecht und Tobias Pflüger hätten die Mehrheit des Publikums auf ihrer Seite gehabt. Im Zusammenhang mit einer hörbaren Publikumsreaktion kommentierte Stefan Liebich: "Ich weiß doch, wo ich hier bin". Ich vermute stark, Stefan meinte damit, wenn die KPF und das Marxistische Forum zu einer Veranstaltung einladen würden, kämen die entsprechenden üblichen Verdächtigen. Das würde vielleicht auch zutreffen – ohne drei Annoncen im ND und einer weiteren in der jungen Welt – dank der ND-Medienpartnerschaft. So aber wußte die Parteibasis in Berlin Bescheid. Es ist ein Trugschluß, anzunehmen, die wesentlichen Konflikte im Rahmen der Programmdebatte spielten sich zwischen Strömungen bzw. Zusammenschlüssen ab. Die Konstellation ist eine weitaus prinzipiellere: Ein großer Teil der Parteibasis ist für die antikapitalistische Grundlinie des Entwurfs und in diesem Kontext besonders für die Beibehaltung der friedenspolitischen Prinzipien und für rote Haltelinien in puncto Regierungsbeteiligung.

Wenn Christian Klemm in seinem ND-Artikel schreibt, das kategorische Nein zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr wackle trotz Übereinstimmungen in anderen Fragen, so läßt sich hierzu sagen: Dieses kategorische Nein ist spätestens seit dem Magdeburger Parteitag 1996 regelmäßig in Frage gestellt worden. Immer durch eine Minderheit, wie sich bei den entsprechenden Beschlußfassungen herausstellte. Diese Minderheit wies und weist vehement den Vorwurf zurück, ihr ginge es mit der Infragestellung der geltenden friedenspolitischen Grundsätze darum, auf Bundesebene koalitionsfähig zu werden. Sei’s drum. SPD- und Grünenfunktionäre jedenfalls werden nicht müde, zu wiederholen, daß ohne die Anerkennung der außen- und sicherheitspolitischen Prinzipien der Bundesrepublik Deutschland eine Regierungsbeteiligung der LINKEN im Bund nicht in Frage käme. Das stimmt mit Sicherheit. Betrifft es doch die Staatsraison.

Mit der Friedensbewegung auf das Gewaltverbot fokussieren

Die Veranstaltung am 19. Januar 2011 zeigte erneut, daß sich an den Konfliktlinien hinsichtlich der friedenspolitischen Grundsätze der Partei seit anderthalb Jahrzehnten nichts grundlegend geändert hat. Im Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung, ob es im Zusammenhang mit UN-Einsätzen nach Kapitel VII der UN-Charta Einzelfallprüfungen geben solle oder nicht. Einzelfallprüfungen kommen einem Prüfungsvorbehalt gleich und implizieren somit Militärinterventionen als ultima ratio. Dies wurde besonders durch die Argumentationslinie Paul Schäfers verdeutlicht. Festgemacht wird die Forderung nach einem Prüfungsvorbehalt an dem Konstrukt, man könne nur für die UN-Charta als Ganzes sein. Das Völkerrecht sei unteilbar. Die geschichtliche Entwicklung der UNO und das in ihr herrschende Kräfteverhältnis werden ausgeblendet. 1945 herrschte ein anderes Kräfteverhältnis als 1990, und heute ist es ein anderes als vor zwanzig Jahren.

Zudem sollten laut Kapitel VII, Artikel 43 nach Maßgabe eines oder mehrerer Sonderabkommen dem Sicherheitsrat Streitkräfte zur Verfügung gestellt werden. Zu solchen Sonderabkommen ist es nie gekommen. Der Sicherheitsrat verfügt über keine eigenen Streitkräfte. Er kann gar nicht militärisch intervenieren. Es intervenieren regelmäßig die starken Staaten dieser Welt, die sich das leisten können, die das Militär samt Ausrüstung und die Finanzen dafür haben. Der Sicherheitsrat gibt seine eigene Verantwortung also an diese Staaten ab; an die NATO oder an Sonderkoalitionen, indem er beschließt: Es sind alle Maßnahmen, darunter militärische, erlaubt. Und – das sei hier noch einmal festgestellt: Ohne die Zustimmung der USA geht ohnehin nichts. Das Argument, man müsse die Charta als Ganzes anerkennen, um die UNO als eigenständige Kraft, die sozusagen über den Großmächten stünde, zu profilieren – und zur Charta als Ganzes gehöre nun einmal auch Kapitel VII –, hält den Realitäten schwer stand. Die UNO, also die Völker der Vereinten Nationen, wird wohl in erster Linie dadurch gestärkt, daß weltweit alle politischen Kräfte, die dazu willens sind – und dazu gehören die Linken, DIE LINKE inbegriffen, als Teil der Friedensbewegung – darum kämpfen, daß das Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen wieder einen größeren Stellenwert bekommt. Dem stehen Militäreinsätze nach Kapitel VII nun aber offenkundig entgegen. Wir sollten in der weiteren Programmdebatte große Anstrengungen darauf richten, diese Zusammenhänge immer wieder zu verdeutlichen, so wie Sahra und Tobias das im Münzenbergsaal in überzeugender Weise getan haben.

 

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