Dr. Kings Leben und Tod für uns heute!
Victor Grossman, Berlin
Die tödliche Kugel, vom Nachbargebäude gefeuert, traf Dr. Martin Luther King am 4. April 1968 – vor fünfzig Jahren. Der angebliche Mörder, James Earl Ray, ein kleiner Gauner, konnte sich irgendwie zwei kanadische Pässe und Flugtickets nach Europa leisten, ehe er verhaftet wurde. Sein Geständnis, nur gegeben, um ein Todesurteil zu verhindern, zog er wieder zurück und forderte dafür einen ordentlichen Gerichtsprozess. Der fand nie statt; im April 1998 starb er im Gefängnis, völlig abgeschirmt und fast vergessen. Die Akten über ihn dürfen erst 2027 bekannt werden.
Einige Hinweise gibt es schon. J. Edgar Hoover, von 1924 bis zu seinem Tode 1972 Chef des FBI (das Modell des deutschen Verfassungsschutzes), hatte die Kommunistische Partei unterwühlen und dezimieren können. Dann warnte er alle FBI-Ämter, sie müssten »den Aufstieg eines ›MESSIAS‹ verhindern, der die kämpferische schwarze nationalistische Bewegung einigen und dynamisieren könnte … potentielle Störenfriede feststellen und sie neutralisieren …«.
Mit »MESSIAS« meinte er King, den er »den notorischsten Lügner in den USA« nannte. Er ließ ihn in Hotelzimmern abhören, und als er doch einen Fehltritt feststellte, ließ er King damit in einem »anonymen« Brief drohen und auffordern, sein »dreckiges, abnormales Leben« zu beenden.
Feste Gründe gab es schon für Hoovers Hass! Der gute Pfarrer, gewiss fromm und gegen Gewalt, ähnelte keinesfalls Schwester Teresa! Für ihn war die Gewaltlosigkeit eine besonders starke Waffe für Unterdrückte und niemals ein Verzicht auf den Kampf.
Wenig bekannte kämpferische Positionen
In Schulbüchern und Reden, besonders zum Geburtstagsfeiertag (nach vielen Jahren erkämpft), wird King häufig als ein sanfter, mildtätiger Träumer missdeutet. Gewiss könnte das seine wunderbare »Ich-hatte-einen-Traum«-Rede vor dem Lincoln-Denkmal in Washington zulassen. Doch diese Rede fand 1963 statt, als er mit John F. Kennedy im Weißen Haus noch gut stand.
Später kamen ganz andere Äußerungen. Das Foto einer Mutter in Vietnam mit ihrem getöteten Baby schockierte ihn zutiefst. Zunehmend erkannte er die Beziehung zwischen dem Rassismus und dem Krieg, den er »weißen Kolonialismus« nannte. In der Riverside-Church in New York sagte er:
»… Während der letzten zwei Jahre, in denen ich versucht habe, den Verrat meines eigenen Schweigens zu durchbrechen und von dem zu sprechen, was in meinem Herzen brennt … haben mich viele gefragt, ob mein Weg wohl weise sei …. Da wusste ich, dass Amerika niemals die notwendigen Mittel und Kräfte zur Einbürgerung seiner armen Bürger aufbringen würde, solange Abenteuer wie das vietnamesische weiterhin Menschen, Fähigkeiten und Geld wie ein zerstörerisch dämonisches Saugrohr an sich ziehen. So wurde ich mehr und mehr gezwungen, den Krieg als den Feind der Armen anzusehen und diesen Feind zu bekämpfen.«
»Und ich wusste, dass ich niemals wieder meine Stimme gegen Gewalttaten der Unterdrückten in den Gettos erheben könnte, bevor ich nicht zuerst und eindeutig über den größten Gewalttäter in der heutigen Welt gesprochen hätte, und das ist meine eigene Regierung. Um … dieser Regierung willen, um der Hunderttausenden willen, die unter unseren Gewaltakten zittern, kann ich nicht schweigen …«
»Wir haben in den letzten 10 Jahren die Entstehung einer neuen Unterdrückungsmethode beobachten können, die jetzt zur Begründung der Anwesenheit amerikanischer Militär-›Berater‹ in Venezuela führt. Die Notwendigkeit, zur Sicherung unserer Investitionen den gesellschaftlichen Status quo aufrechtzuerhalten, erklärt die konterrevolutionäre Aktion amerikanischer Streitkräfte in Guatemala. Das erklärt auch, warum amerikanische Hubschrauber gegen Guerillas in Kolumbien eingesetzt werden und warum amerikanisches Napalm und Green-Beret-Elitetruppen bereits gegen Rebellen in Peru eingesetzt wurden.«
Und er warnte:
»Wir müssen schnell damit anfangen, von einer ›sach-orientierten‹ Gesellschaft zu einer ›person-orientierten‹ Gesellschaft zu kommen. Wenn Maschinen und Computer, Profitbestrebungen und Eigentumsrechte für wichtiger gehalten werden als die Menschen, dann wird die schreckliche Allianz von Rassenwahn, extremem Materialismus und Militarismus nicht mehr besiegt werden können.«
Solche Worte machten ihn nicht nur bei Hoover unbeliebt. »Liberale« Medien, die endlich soweit waren, den Rassismus schlecht zu finden, nannten seine Worte falsch, ja, unpatriotisch. Auch Führende des afro-amerikanischen Establishments, um ihre erreichte Akzeptanz nicht zu gefährden, verurteilten ihn. Sein Nobelpreis wie die »Traum«-Rede wurden vergessen, denn dieser Mann stellte gar das amerikanische System in Frage!
Weniger bekannt (für ihn eher ein Glück) war seine Rede zum hundertsten Geburtstag des großen Soziologen und Autors W.E.B. Du Bois (1868-1963), des eigentlichen Gründers des afrikanischen Freiheitskampfs. King, zwar niemals selbst ein Kommunist, sagte am 23. Februar 1968:
»Manche Leute würden gern die Tatsache übersehen, dass er in seinen späten Jahren Kommunist war. Es verdient hier angemerkt zu werden, dass Abraham Lincoln die Unterstützung durch Karl Marx während des Bürgerkrieges herzlich begrüßte und mit ihm freimütig korrespondierte … Es ist Zeit, nicht länger die Tatsache zu verheimlichen, dass Dr. Du Bois ein Genie war und sich dafür entschied, Kommunist zu sein. Unsere irrationale Besessenheit mit dem Antikommunismus hat uns schon in allzu viele Schwierigkeiten gebracht, als dass wir sie noch länger beibehalten könnten, als wäre sie eine wissenschaftliche Denkweise.«
Wirksames Unterstützen von Massenbewegungen und -protesten
Obwohl King aus dem bürgerlichen Milieu stammte und bisher wenig mit der Arbeiterbewegung zu tun hatte, beschloss er, den Mangel zu überwinden. In Memphis wurden 1.300 schwarze Müllabfuhrmänner bei miesesten Bedingungen miserabel bezahlt. Als zwei Kollegen durch fehlenden Arbeitsschutz zerquetscht wurden, kam es im Februar 1968 zum Streik, der trotz weißer Streikbrecher, Polizeigewalt und Schikanen noch anhielt. King sprach dort dreimal zu deren Unterstützung; gerade das Streiken von Schwarzen in den Südstaaten galt als Sünde, vielleicht gar als eine ansteckende; das FBI blieb zwar unsichtbar, war aber ständig präsent.
King und seine Mitkämpfer waren gerade mit einem großen Plan beschäftigt: mit einem Arme-Leute-Zeltlager in Washington, vom Kongress aus gut sichtbar. Etwa 3.000 Schwarze, Latinos, Indianer, Asiatisch-Amerikaner und auch Weiße, die numerisch den größten Teil der Armen in den USA darstellten, sollten gemeinsam 30 Milliarden Dollar für Maßnahmen gegen die Armut und auch für den sozialen Wohnungsbau fordern. Um das zu finanzieren, sei der Krieg in Vietnam zu beenden. Hier muss das besonders große Interesse des FBI – mit Störungsversuchen – erst recht nicht betont werden.
Mitten in der Planung brauchte der Streik in Memphis wieder Hilfe. Dr. King flog dorthin, nahm an einem großen Marsch teil und konnte – durch Zuhören und Zusprechen – das weitere Fenstereinschlagen einer Gruppe von Vermummten verhindern. Der Tod eines jungen Teilnehmers durch die Polizei traf den Erschöpften derart bitter, dass er sich für die Nacht entnervt die Decken über den Kopf zog. Danach hielt er eine große, unvergessliche, aber prophetische Predigt-Rede:
»Wie jeder andere würde ich gerne lange leben. Langlebigkeit hat ihren Wert. Aber darum bin ich jetzt nicht besorgt. … (Gott) hat mir erlaubt, auf den Berg zu steigen. Und ich habe hinübergesehen. Und ich habe das Gelobte Land gesehen. Vielleicht gelange ich dorthin nicht mit euch. Aber ihr sollt heute Abend wissen, dass wir, als ein Volk, in das Gelobte Land gelangen werden. Und deshalb bin ich heute Abend glücklich … Ich fürchte niemanden … .«
Am nächsten Abend fielen die Schüsse.
***
Für mich war er einer der vier größten Amerikaner des 20. Jahrhunderts – alle vier Afro-Amerikaner. Malcolm X starb wie King, drei Jahre zuvor – von Kugeln durchsiebt und ermordet. Die Ansichten beider waren einander immer näher gekommen. Und beide bauten auf den früheren Kämpfen zweier Vorgänger auf: Professor Du Bois (sein 150. Geburtstag war am 23. Februar 2018), der nach Ghana auswandern musste, und Paul Robeson (der 120. Geburtstag des großen Sänger-Schauspielers ist am 9. April 2018), der verschmäht, kriminalisiert und verschwiegen wurde, ebenfalls weil er ein resoluter Linker war.
Was ist davon für uns noch heute relevant?
Alle vier lehnten den primitiven Anti-Kommunismus ab und erklärten die enge Beziehung und Gemeinsamkeit zwischen dem Kampf der schwarzen Amerikaner und dem Kampf von Unterdrückten aller Farben in jedem Land. Bei uns wäre das eine Einheit von Deutschen und Immigrantengruppen.
Alle vier begriffen die Gefahren des Imperialismus für die Welt wie für die meisten im eigenen Land. Alle zeichneten sich, neben ihrer besonderen Klugheit, durch Mut und Entschlossenheit aus, die für alle möglich seien.
Besonders Dr. King zeigte, wie ideenreiche Kämpfe, von vielen Menschen mitgeplant und durchgeführt, gute Resultate erreichen können. In Montgomery gingen Tausende schwarze Menschen lieber zu Fuß als Busse zu benutzen, in denen sie nur hinten sitzen durften. Weitere Kampagnen veränderten das Land. Wie Robeson wusste auch King, wie grundwichtig dabei gute Lieder sind.
Ob nicht auch für uns ideenreiche, gutgeplante Aktionen wirksam wären? Ob nicht, mit zu Herzen gehenden Liedern und klugen Losungen, wie »We Shall Overcome« in Birmingham, das einfache »Ich bin ein Mensch« damals in Memphis oder »Black Lives Matter« heute (Schwarze Leben zählen), ob nicht Kampf und Kultur auf der Straße die besten Methoden gegen Faschisten und Kriege bleiben? Die erstaunliche Leistung einer Handvoll Teenager brachte neulich einen Ball ins Rollen, der in fünf Wochen eine gute Million mobilisierte; können nicht Entschlossene hier Ähnliches versuchen? Bei Anti-TTIP klappte es doch! Könnte ein solcher Versuch der LINKEN – etwa zum Mietpreisstopp oder gegen Zwangsräumung – nicht im besten Sinne heilend auf die Spalterei wirken und am erfolgreichsten gegen die Faschisten? Könnten nicht manche der Engagiertesten, im Geist eines Martin Luther King, ähnliches versuchen und, auch ohne sofortige Erfolge, es wieder und wieder versuchen?
27. März 2018
Victor Grossman, schon in der DDR populär als Journalist und zu den Initiatoren der Singebewegung zählend, ist auch heute unermüdlich an der Seite derer unterwegs, die sich für Frieden, Sozialismus und Solidarität engagieren. Sein regelmäßig erscheinendes Berlin-Bulletin können Freunde der englischen Sprache hier verfolgen: https://theleftberlin.wordpress.com/victor-grossmans-berlin-bulletin. Die »Mitteilungen« gratulieren ihrem Autor herzlich zum 90. Geburtstag, den er am 11. März gefeiert hat.
Siehe auch Victor Grossmans Beitrag »Martin Luther King jr. – in memoriam« im Aprilheft 2008 der »Mitteilungen«: https://kpf.die-linke.de/mitteilungen/detail/news/martin-luther-king-jr-in-memoriam
Mehr von Victor Grossman in den »Mitteilungen«:
2017-08: Vier Tischbeine der USA-Politik
2017-05: USA und Erster Weltkrieg
2016-10: Gerda Taro, Spanien und Leipzig