Die Friedfertigkeit des Christentums
Horsta Krum, Berlin
»Die Geschichte des Christentums ist insgesamt zu blutig, als dass sie nicht schon durch sich selbst den Glauben an eine Friedfertigkeit des Christentums Lügen strafen müsste ... Dass unter westlichem Einfluss noch nie ein friedliches Volk hat friedlich bleiben dürfen, ist eine furchtbare Bilanz europäischen und christlichen Einflusses in der Welt.« So der katholische Theologe und Tiefenpsychologe Eugen Drewermann. [1]
Ab dem 6. Oktober 1991 durfte er nicht mehr an der Universität lehren, und ab dem 9. Januar 1992 nicht mehr predigen. Die Predigthörer sollen vor »Verwirrung und Irreführung bewahrt werden«. [2] Das beigefügte Schreiben schließt der Erzbischof, der beide Maßnahmen verhängt hatte: »Trotz meiner Enttäuschung hoffe und bete ich für Sie um Einsicht und Umkehr.« [3]
Gründe, die der Erzbischof angibt, sind nicht etwa politische Äußerungen wie die anfangs zitierten, sondern abweichende Interpretationen der Glaubenslehre der katholischen Kirche, z.B. vom Dogma, dass Jesus von einer Jungfrau geboren sei, die Infragestellung kirchlicher Autorität und die Verurteilung der Abtreibung.
Den beiden kirchenamtlichen Dekreten gingen Briefwechsel und lange Gespräche mit dem Erzbischof voaraus, auch öffentliche Äußerungen von Drewermann, in denen er geduldig erklärte, wie lebensfern die Kirche ist, dass sie die historische Forschung, die Medizin, Psychologie usw. nicht zur Kenntnis nimmt. »Ich selber sehe Tag für Tag im Gespräch mit Menschen, die seelisch sehr leiden, wie tödlich, wie kränkend, wie irrsinnig und widergöttlich der ganz alltägliche Umgang in Kirche und Gesellschaft wirken kann … Der Kontrast, die Diskrepanz zwischen dem, was Jesus war und wollte, und dem, was wir heute sind und im Namen der Kirche zu sein haben, könnte nicht schreiender sein ...« [4]
Drewermann spricht von den Menschen, ihrer Hoffnung und Angst, ihrer Liebe und Aggression, ihren Wünschen und Träumen, und das, was sie prägt, z.B. Familie, Gesellschaft mit ihren Institutionen, zu der auch die Kirche gehört. Sein Werk ist sehr reich und so umfangreich, dass hier nicht einmal der Versuch einer Darstellung gemacht werden kann. Viele seiner Bücher beschäftigen sich mit der Bibel, die ja ein jüdisch-christliches Buch ist, und deuten sie auch tiefenpsychologisch. Da gibt es u.a. die schöne Darstellung der Frauen in der Bibel mit dem Untertitel »Das Wissen der Liebe«. In allen Religonen geht es um Menschheitsfragen, auch in den Mythen und Märchen, auch in der Dichtung. [5] Auf unsere Konflikte und Ängste versuchen sie eine Antwort, die zum Leben und zum Überleben hilft.
Zur menschlichen Urerfahrung gehören Töten und Krieg. Mit der Erkenntnis, dass Imperialismus und Krieg zusammengehören, setzt sich Drewermann nicht auseinander, sondern geht viel weiter zurück. Warum ist, wie er im einleitenden Zitat sagt, die Bilanz des sogenannten christlichen Abendlandes so furchtbar? Dazu verweist er auf das Hauptthema der Bibel: die menschliche Geschichte, das Heil des Menschen. Im Gegensatz zu manchen asiatischen Religionen ist die Natur mitsamt der Tiere ein fremdes Gegenüber, dessen sich der Mensch zum Leben und zum Überleben bedient, rücksichtslos und gewalttätig. »In dieser Einstellung wurzeln aber nicht allein die schweren Probleme der gegenwärtigen Umweltkrise, sondern vor allem auch die Probleme des Krieges.« [6]
Die Ideologie der Herrschaft des Menschen über die Natur führt zur Herrschaft des Menschen über den Menschen. Als Beleg schildert Drewermann, wie im Altertum Arbeitstiere durch im Krieg gefangene Arbeitssklaven ersetzt wurden und dass heute »mit der Ausrottung der Natur durch unsere abendländisch-christliche Zivilisation selbstredend auch die Naturvölker restlos und endgültig ausgerottet werden.« [7]
Drewermann unterstellt nicht, dass Bibel und christliche Lehre dieses wollen – im Gegenteil: sie wollen die Schwachen schützen. Die Sehnsucht nach Frieden ist deutlich, manche großen Gestalten des Christentums haben aus ihr gelebt. Trotzdem: »Jede Lehre, die den Menschen nicht in die Natur einordnet, sondern gegen die Natur stellt, stellt … den Menschen gegen den Menschen. Ob sie es will oder nicht, wirkt sie auf diese Weise Krieg und Zerstörung, so viel sie auch verbal vom Frieden reden mag.« [8]
Drewermann beschreibt ausführlich, wie der Krieg sich aus der Jagd und dem Töten von Tieren entwickelt hat, vor allem auch im psychologischen Sinn. Das Leid der getöteten Menschen und Tiere, die vorher oft gequält, gefoltert worden waren, spielte keine Rolle, im Gegenteil. Jäger und Krieger ließen sich durch die gleichen Rituale feiern. Mitleid mit den gejagten und erlegten Tieren und mit dem Feind im Krieg gab und gibt es nicht. Wir wissen, wie die SS, die Gestapo und auch Wehrmachtssoldaten mit erklärten Feinden umgingen. Drewermann zitiert aus dem Werk des französischen Historikers Raymond Cartier (1965), der beschreibt, wie Präsident Truman am 6. August 1945 auf die Nachricht vom Abwurf der Atombombe auf Hiroshima reagierte: »Jungs, wir haben ihnen einen Ziegel von 20.000 Tonnen TNT auf den Schädel geschmissen. Die Seeleute brachen in ein Freudengeheul aus. Die Gewissensqualen, die angeblich den Triumph begleiteten, sind historische Fälschungen.« [9] Die »Helden von Hiroshima« haben sich zeit ihres Lebens regelmäßig bei ihrem Flugzeug getroffen und Champagner getrunken.
Das Jagen, das Töten, der Triumph über den Feind, auch gerade über den religiösen Feind, reichen bis in den Beginn der Menschheitsgeschichte zurück. Drewermann stellt dar, wie sich Jäger zu Horden zusammenschlossen, um neue Reviere zu erobern; wie aus den wachsenden Stadtstaaten kriegerische Imperien wurden und wie sie moralische Skrupel immer wieder mit »besserer« Technik beantwortet haben. Drewermann geht die Geschichte der Menschheit durch bis heute, analysiert die verschiedenen Ursachen von Kriegen und beschreibt den maßlosen Herrschaftsanspruch des christlichen Abendlandes, der einen technisch zivilisierten und gleichzeitig psychisch barbarischen Menschentyp hervorgebracht hat, der immer neue Kriege führen muss. Und doch haben Humanisten, Philosophen mit vernünftigen Argumenten zum Frieden gemahnt; christliche Gruppierungen und einzelne Christen, auch in verantwortlicher Position, haben vom Gott der Liebe gesprochen, haben sich glaubwürdig für Frieden, Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit in Wort und Tat eingesetzt und sich dabei vor allem auf die Bergpredigt Jesu berufen. Warum haben sie alle nicht geschafft, den Krieg abzuschaffen oder auch nur zu begrenzen?
Weil Frieden nicht gemacht werden kann, auch nicht mit Vernunft und gutem Willen; weil die Bergpredigt keine Handlungsanweisung ist oder gar Gesetz. Wer mit der Bergpredigt und/oder vernünftigen Argumenten Frieden fordert, muss sich von Drewermann den Vorwurf der Oberflächlichkeit und Selbstgefälligkeit gefallen lassen. Denn die wichtigste Kriegsursache ist Angst. Markt, Geld und Land sind Kriegsinhalte, gegen die vielleicht noch argumentiert werden kann. Aber Angst ist weder durch Vernunft noch moralisierende Appelle zu besiegen. Statt den Krieg zu segnen oder zu verfluchen, sollte das Christentum, die Kirche versuchen »den Krieg in seinen konkreten Gründen transparent zu machen und durch ein tieferes Verständnis der menschlichen Tragödie von innen her zu überwinden.« [10]
Drewermann hat eine Dogmatik (Zusammenfassung der christlichen Lehre) in zwei umfangreichen Bänden geschrieben: Im ersten Band geht es um die Bibel, die kirchliche Lehre und die Angst (1993). Der zweite Band (1996) handelt vor allem von der Person Jesu: wie Menschen zu einem angstfreien Frieden geführt werden. »Befreiung zum Frieden« heißt der Untertitel. Bis zu diesem Frieden ist der Weg lang, für den einzelnen Menschen, und noch viel länger für Völker. Aber gibt es einen anderen?
Ich erlaube mir, einen Bogen zu ziehen zu dem Gedicht »Bitten der Kinder« (1951) von Bert Brecht: »Die Häuser sollen nicht brennen / Bomber sollt man nicht kennen / Die Nacht soll für den Schlaf sein / Leben soll keine Straf sein / Die Mütter sollen nicht weinen / Keiner soll töten einen / Alle sollen was bauen / da kann man allen trauen / Die Jungen sollen's erreichen / Die Alten desgleichen.« Da ist von einigen äußerlichen Kennzeichen des Friedens die Rede, machbar durch Vernunft und viel guten Willen. Aber die eigentliche Bitte, auf die das Gedicht zuläuft, ist nicht machbar und kann nicht befohlen werden; sie kann, wie die Bergpredigt Jesu, nur erfahren und gelebt werden, und ist ja auch formal keine Bitte mehr: Da kann man allen trauen. Der Theologe Drewermann predigt, der Tiefenpsychologe Drewermann analysiert, was der Humanist Brecht verdichtet. Dass Brecht ausgerechnet die Kinder dies aussprechen lässt, müsste Drewermanns Zustimmung finden, denn Kinder äußern keine moralischen Appelle und argumentieren nicht vernünftig. Sie reden und leben noch weitgehend aus dem Unterbewusstsein, dem Bereich, in dem die Angst sitzt – und eben auch der Frieden.
Dass der Frieden ein brennendes Thema für Eugen Drewermann ist, merken wir nicht nur aus seinen Büchern: Am 20. Februar 2010 sprach er auf dem Berliner Bebelplatz und am 13. Dezember 1914 vor dem Bundespräsidialamt am Schloss Bellevue. Er unterstützte die Kampagne »Stopp Ramstein«, die im Juni 2016 mit einer Menschenkette das Nein zum Krieg der NATO artikulierte. Und am 3. Oktober 2016 ist er auf der Essener Friedensdemo – 15 Uhr auf dem Willy-Brandt-Platz beginnend – zu hören.
Anmerkungen:
[1] Der Krieg und das Christentum, 1982, S. 179.
[2] Eugen Drewermann, Worum es eigentlich geht, 1993 (3. Aufl.), S. 404.
[3] S. 455.
[4] S. 14.
[5] Drewermann hat eine sehr anrührende Deutung des »Kleinen Prinzen« Saint-Exupéry geschrieben. Und zu Märchen: »Drei Seiten Märchen können uns erklären, was wir im Unbewussten vor uns haben. Es kommt aber nicht vor in unserer Moraltheologie.« (S. 185).
[6] Der Krieg und das Christentum, S. 189.
[7] Ebd., S. 191.
[8] Ebd.
[9] Drewermann, Jesus von Nazareth, 1996, S. 678.
[10] Der Krieg und das Christentum, S. 214.
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