Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

2. April 1840: Émile Zola geboren

Horsta Krum, Berlin

 

Er ist ein ganz Großer der französischen Literatur. Wie Molière in seinen Theaterstücken zweihundert Jahre vor ihm, so zeigt er in seinen Romanen die Fratze der Macht- und Geldgierigen, die sich hinter der wohlanständigen Maske von Adligen und Bourgeois verbirgt, hinter der devoten Körperhaltung und dem niedergeschlagenen Blick von Frommen, hinter den großen Gesten und Worten von Opportunisten und Feiglingen. Er legt die heimlich ausgelebten sexuellen Begierden derer offen, die Moral predigen. Er erhascht den scheelen Blick von Neidern, die Lobreden auf die Erfolgreichen halten. Er versetzt sich in ambitionierte, weitsichtige und auch rachsüchtige Ehefrauen, die von ihren Männern unwissend gehalten werden. Er zeichnet auch das hässliche Gesicht und die knochigen Finger von Armen, die sich in die Kleidung weichherziger Menschen krallen und diese, nach Erhalt einer Gabe, womöglich bestehlen.

Und Zola? Für welche seiner Gestalten schlägt sein Herz? Mit wem könnte er sich wohl identifiziert haben? Welche Figuren geben seine Sehnsüchte wieder? Sein Herz schlägt für zwei Jugendliche, fast noch Kinder, in ihrer heimlichen, zärtlich-unbefangenen, spielenden Liebe, die ohne Hintergedanken immer wieder neue Situationen erleben, sich ihren Alltag erzählen, miteinander die Natur entdecken und die Landschaft, die sie stundenlang im Dunkeln durchwandern. Umso heller sind ihre Zukunftsträume: Der Kampf für die Republik wird ihre Träume verwirklichen. Als der Präsident der Republik, Louis Napoleon Bonaparte, und seine konservativen Anhänger Ende 1851 die Republik durch das zweite Kaiserreich ersetzen wollen und die Verteidiger der Republik blutig bekämpfen, kommen auch die beiden jugendlichen Liebenden ums Leben. Ihre Liebe kann in der brutalen Wirklichkeit nicht bestehen, sie stirbt, genau wie die Republik.(1)

Zolas Herz schlägt für die Bergarbeiter, die verzweifeln vor Entkräftung, Hunger, Schmutz, Krankheit und die sich zum Streik hinreißen lassen. Sein Herz schlägt für den Arzt Pascal, der zum Ärger seiner ehrgeizigen Eltern nicht an reichen Patienten interessiert ist, der sich aber auch nicht als Arzt der Armen verausgabt, sondern vor allem wissenschaftliche Studien betreibt, um genetisch begründete Krankheiten zu erforschen.(2) Zola hat die zeitgenössischen Werke gründlich studiert und dann verarbeitet. Diese gelten heute als überholt und ihre Autoren sind vergessen. So sehr Zola von ihnen überzeugt ist, blickt er doch über sie hinaus: »Das Leben macht sich über unsere Theorien lustig.«

Zola war auch journalistisch tätig. Seine politischen Schriften, voll von beißendem Spott und Sarkasmus, brachten ihm die Feindschaft der politisch Regierenden und des Klerus ein. Während des Aufstandes der Kommune war er nicht in Paris, hätte sich den Kommunarden auch nicht angeschlossen. Sie kritisierten, dass die Blätter, für die er schrieb, zu liberal seien. Er selber kritisierte die Kommune als »zu hitzig« und wünschte sich, dass ihre Ziele in einem Neuanfang verwirklicht würden. Gegen ihre Bestrafung wandte er sich mit dem Instrument, das er beherrschte: seiner politischen Feder.(3)

Etwa anderthalb Jahre lang schrieb er Berichte über die Sitzungen der Nationalversammlung. Er, der die Republik glühend gewünscht hatte, musste anhören und ansehen, wie sie sich durch viele ihrer Entscheidungen korrumpierte, den republikanischen Werten spottete. So lehnte sie dringend erforderliche Mehrausgaben für Bildung ab, stimmte aber Subventionen für Pferderennen zu, dem gesellschaftlichen Ereignis der Reichen – eine von vielen Entscheidungen, die Zola sarkastisch kommentierte. »Den Pferden hat man die 100.000 Francs bewilligt, die man den Schülern auf dem Lande verweigerte. Unsere Pferde werden sehr schnell rennen, und unsere Kinder werden nicht lesen können. Es stimmt ja, dass Pferde nicht zur Wahl gehen.« (22. März 1872)

1895, als die Republik schon seit 24 Jahren bestand, wurde der Offizier Alfred Dreyfus des Landesverrates angeklagt. Das löste eine Flut von antisemitischen Hetzartikeln, Karikaturen usw. aus. Die Verteidigung legte vergeblich Beweise seiner Unschuld vor: Dreyfus wurde verurteilt und deportiert. Schon während des Prozesses hatte Zola mehrere Artikel zugunsten des Angeklagten geschrieben und gegen die antisemitische Hetzartikel. Seine Zeitung Le Figaro gab dem Druck der konservativen Leser nach und nahm keine Artikel von Zola mehr an. Aber die neu gegründete L’Aurore veröffentlichte am 13. Januar 1898 Zolas Brief an den Präsidenten der Republik unter der riesigen Überschrift: »Ich klage an!«

Zunächst schilderte Zola die Etappen des Prozesses, um dann einzelne Personen, meist Militärs, die an der Verurteilung beteiligt waren, namentlich anzuklagen; und dann: »Ich klage die beiden Kriegsgerichte an, dass sie eine abscheuliche Pressekampagne geführt haben, um die öffentliche Meinung irrezuführen und um ihre eigenen Fehler zu verbergen. Ich klage das erste Kriegsgericht an, das Recht verletzt zu haben, indem es einen Angeklagten auf der Grundlage eines geheim gehaltenen Beweisstückes verurteilt hat; und ich klage das zweite Kriegsgericht an, diese Gesetzwidrigkeit auf Befehl gedeckt zu haben und dabei seinerseits das juristische Verbrechen begangen zu haben, einen Schuldigen freizusprechen…« Zola wurde vom Kriegsminister und einigen Privatpersonen angeklagt, zu einer Geldstrafe und Gefängnis verurteilt, ging aber für ein Jahr nach London ins Exil. Sein Brief hatte Erfolg, wenn auch spät: 1908 wurde Dreyfus rehabilitiert.

Zolas Romane gelten als wichtigste Beispiele des naturalistischen Stiles: Die Kinder der Bergarbeiter sieht er an mit dem Auge des Arztes. Akkurat wie Fotografien sind seine Schilderungen von Paris. Landschaften beschreibt er mit den Augen des Malers – kein Wunder: hat er sich doch in ganz jungen Jahren von dem impressionistischen Maler Paul Cézanne in Grafik und Malerei unterrichten lassen. Später ist er auch mit anderen Malern freundschaftlich verbunden, z.B. Edouard Manet und Auguste Renoir. Die Einsamkeit der jungen Witwe und die hilflose Liebe zu ihrer kranken Tochter beschreibt er mit der Sensibilität des Psychoanalytikers.(4) Und die vielen Frauengestalten in seinen Romanen! als hätte er mit ihnen gelebt, als kennte er ihre Seele und ihren Körper genau, ihre Ängste, ihre Traurigkeit, ihr Lieben, ihr Hassen. Da ist Nana(5) mit ihrem unersättlichen Hunger nach Luxus, der eigentlich ein Hunger nach Leben in Freiheit ist. Da sind die Männer, die Nanas Wünsche erfüllen und dabei sich und ihre Familie ruinieren, um Nanas schönen Körper zu genießen. Ihr größtes Erlebnis hat sie beim Pferderennen, wo die Frauen sie mit Neid betrachten und die Männer sich um sie scharen. Als das Pferd, das ihren Namen trägt, gewinnt, gerät sie in Ekstase: Jetzt ist sie über alle anderen, die reichen Bourgeois und die adeligen Damen und Herren, hinausgewachsen.

Und dann die ganz andere Welt, die Welt der Bergarbeiter. Zola ist monatelang mit ihnen zusammen, bevor er seinen »Germinal«(6) schreibt. Um die Einzelheiten der Bergbauanlage, der Arbeitsinstrumente usw. zu verstehen, ist man auf Fußnoten angewiesen, wie bei einem Sachbuch; es ist nämlich unter anderem auch ein Sachbuch! Die Diskussionen der Bergarbeiter, die schließlich zum Streik führen, gibt Zola wieder – in Kenntnis von Marx und der russischen Anarchisten. Die historischen Ereignisse, in die er seine Figuren hineinstellt, sind nicht nur Kulisse, sondern lebendige Wirklichkeit. Dieser Roman gilt in der Literaturkritik als das Spitzenwerk des Realismus. Aber damit, denke ich, wird man diesem Buch und dem Gesamtwerk Zolas nicht gerecht. Realismus, historischer, sozialer oder politischer Roman, auch die Neu-Entdeckung der Natur in der Romantik, ihrer Betonung des Individuums und seiner Konflikte, all das ist anwendbar auf Zolas Werk – und doch trifft es nicht: Zola ist mehr, mehr auch als die Summe der einzelnen Etiketten hergibt. Übrigens ist »Germinal« so in Groß- und Unterkapitel gegliedert, dass es sich durchaus wie ein Drama in Akten und Szenen liest und deshalb auch ohne Schwierigkeit als Theaterstück aufgeführt worden ist – Molière ist präsent!

Die Verantwortlichen der Bergbauanlage meinen, sie seien mit der Konstruktion von Häusern und der Verteilung von (minderwertiger) Kohle usw. ihrem sozialen Gewissen mehr als nötig gefolgt, wobei die eigentlich Verantwortlichen nie auftauchen, nur ihre ausführenden Organe vor Ort. Der Berufsalltag der alten und jungen Männer, der Frauen und Kinder, die im Bergwerk arbeiten, ist mühsam, schmutzig und gefährlich; einen privaten Alltag kennen sie kaum; ihre Leben ist von Armut, Hunger, Krankheit gezeichnet. Sie rechnen, wieviel ein Kind kostet, bis es im Bergwerk arbeiten und wieviel es dann zum Unterhalt der Familie beitragen kann. Die Eltern halten ihre heranwachsenden Kinder möglichst lange von der Heirat ab. Ein krankes Kind ist eine finanzielle Katastrophe, kann aber vielleicht noch im Hause für die Mutter und die kleinen Geschwister arbeiten. Das Leben dieser Menschen ist freudlos und trostlos wie ihre Umgebung. »… Plötzliches Tauwetter hatte eingesetzt und Himmel und Erde in dieselbe dumpfe Farbe getaucht, die Mauern mit einem klebrig-feuchten, fahlen Grün überzogen, die Straßen mit einer Dreckschicht belegt, wie sie typisch ist für Kohle-Abbau-Gebiete, schwarz von schmierigem Ruß, so fest und klebrig, dass die Holzschuhe stecken bleiben…«. Und diese Umgebung ist so trostlos wie der Ausgang des Streiks, der Konflikte, Tod, Zerstörung zum Ergebnis hat. So endet das Buch trostlos im Germinal, dem Monat April. Aber der bereitet unmerklich neues Leben vor: Es »wachsen Menschen heran, eine schwarze, rächende, eine ganze Armee, die langsam in den Furchen keimt, die größer wird und heranwächst zur Ernte des zukünftigen Jahrhunderts. Dieser Keim wird bald die Erde erschüttern.«

Zola stirbt im Oktober 1902 an Rauchvergiftung in Paris. Es wurde nie geklärt, ob es ein Unfall war oder Mord. Unter der Menschenmenge, die dem Sarg folgt, ist auch eine Gruppe von Bergarbeitern. Sie rufen immer wieder »Germinal«.

 

Anmerkungen:

(1) »La Fortune des Rougon« (Das Glück der Familie Rougon), 1871

(2) »Le Docteur Pascal« (Doktor Pascal), 1890-93

(3) Zola hat die Kommune in seinem Roman »Le débâcle« (Der Zusammenbruch) von 1901 thematisiert

(4) »Une page d’amour« (Ein Blatt Liebe), 1878

(5) »Nana«, 1880

(6) »Germinal«, 1885-87

 

Mehr von Horsta Krum in den »Mitteilungen«: 

2015-01: Der Fall Gurlitt – und wie weiter?

2014-08: Paris ist frei!

2014-07: Der 14. Juli 1789