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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Der Fall Gurlitt – und wie weiter?

Horsta Krum, Berlin

 

Zu Beginn des Jahres 2012 wurden Steuerfahnder zufällig auf den 79-jährigen Cornelius Gurlitt aufmerksam. Im Februar konfiszierte dann die Staatsanwaltschaft Augsburg in dessen Münchener Wohnung etwa 1.500 Kunstwerke, Ölgemälde, Aquarelle, Grafiken, Druckgrafiken. Cornelius Gurlitt hatte sie von seinem Vater, dem Kunsthändler Hildebrand Gurlitt (1895 bis 1956) geerbt.

Hildebrand Gurlitt kaufte als Direktor des König-Albert-Museums in Zwickau expressionistische Kunstwerke. Einflussreiche Nazis bekämpften ihn als Liebhaber der damaligen Moderne und als Juden, so dass er bereits 1930 entlassen wurde, drei Jahre vor der offiziellen Machtergreifung durch die Nazis und fünf Jahre vor Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze, die Hildebrand Gurlitt zum »Vierteljuden« abstempelten. Zunächst blieb er weiterhin auf dem Gebiet der bildenden Kunst tätig, bis er sich 1934 als Kunsthändler selbständig machte - und zu Ansehen und einem gewissen Reichtum gelangte. In den Niederlanden, in Belgien und Frankreich kaufte er Kunstwerke für deutsche Museen und für das von Hitler geplante Linzer Museum, aber auch für Privatleute wie den Hamburger Zigarettenfabrikanten Hermann F. Reemstma und Propaganda-Minister Joseph Goebbels. Zwischen Sommer 1941 und Sommer 1944 war er insgesamt zehnmal in Paris.

Geschäfte mit »Entartung«

1937 wurden auf Anordnung Hitlers und seines Propaganda-Ministers aus deutschen Museen über 16.000 Kunstwerke der damaligen Moderne entfernt, unter anderen von Franz Marc, August Macke, Paul Klee, Emil Nolde, Ernst Barlach, aber auch ältere Werke von Picasso und van Gogh. Sie alle wurden mit dem Stigma »entartete Kunst« versehen und durften in Deutschland nicht mehr gekauft werden, außer von vier privilegierten Kunsthändlern, zu denen auch Hildebrand Gurlitt gehörte. Aus dem konfiszierten Bestand durften sie Kunst gegen Schweizer Franken oder Dollars kaufen oder gegen ältere Kunstwerke eintauschen.

Eigentlich war es verboten, die Werke der sogenannten »entarteten Kunst« in Deutschland weiterzuverkaufen, es wurde aber von offizieller Seite geduldet. So verkaufte Gurlitt beispielsweise an das Ehepaar Sprengel Gemälde, Aquarelle usw. von Nolde, von Karl Schmidt-Rottluff, die überwiegend aus dem konfiszierten Bestand kamen und den Grundstock des heutigen Sprengel-Museums in Hannover bildeten, das nicht nur eine hervorragende Sammlung vorzuweisen hat, sondern auch einen ausgezeichneten Ruf. Das Bestandsverzeichnis [Sprengel-Museum Hannover, Malerei und Plastik, Bestandsverzeichnis von 2003.] gibt allerdings die Herkunft vieler Bilder recht lückenhaft an. So beginnt beispielsweise die Auskunft über das Gemälde »Vier Badende am Strand« von Schmidt-Rottluff mit der Galerie Curt Valentin New York ohne Jahreszahl.

Wo war es vorher? Verkaufte der Künstler es direkt an die Galerie? Übrigens kommt der Name Gurlitt nicht vor, nur einmal wird die Galerie Gurlitt in Berlin erwähnt; aber dabei kann es sich nur um den Cousin Wolfgang handeln.

Oft gibt es genauere Angaben erst seit 1949, als der Rat der Stadt Hannover für das Landesmuseum wertvolle Kunstwerke dem Juristen, Unternehmer und Kunstsammler Conrad Doebbeke abkaufte. Viele davon bildeten dann den zweiten Grundstock des Sprengel-Museums. [Doebbeke, überzeugter Nazi, hatte seinen Kunstschatz kurz vor Kriegsende in Depots verschiedener Banken und Museen Westdeutschlands in Sicherheit gebracht. Vermittler dieser Ankäufe war der Direktor der Gemäldegalerie des Landesmuseum Hannover, Ferdinand Stuttmann, der vor 1945 das Kestner-Museum in Hannover geleitet, auch konfisziertes Kulturgut für die Nazi-Behörden taxiert hatte. Er wurde vom Leiter des Oldenburgischen Landesmuseums vor Doebbeke gewarnt. Einzelheiten über Doebbeke und seine Geschäfte in »Die Bilder sind unter uns« (2014) von Stefan Koldehoff.] Welche der Werke von Doebbeke einst »gutgläubig« erworben waren, lässt sich nicht mehr feststellen; aber ein Teil davon ist nachgewiesenermaßen Raubgut.

Der Kunsthändler Gurlitt hatte noch andere Einnahmequellen. Beispielsweise kaufte er, meist unter Preis, Kunstgegenstände und auch wertvolle Einrichtungsgegenstände von Familien, deren physische oder materielle Existenz in Deutschland bedroht war.

Einen Teil seines gesamten Kunstbesitzes aus allen Epochen verkaufte er vor Kriegsende weiter, einen anderen danach - und einen anderen konfiszierte die Staatsanwaltschaft Augsburg im Februar 2012 bei seinem Sohn Cornelius Gurlitt. Aber sie informierte die Öffentlichkeit erst im November 2013, nachdem das Wochenmagazin »Focus« darüber berichtet hatte. Vielleicht wäre ja sonst der spektakuläre Fund gar nicht in das öffentliche Bewusstsein gelangt. Warum denn die Staatsanwaltschaft fast zwei Jahre auf ihrem konfiszierten Schatz saß und es der Öffentlichkeit erst am 5. November 2013 mitteilte, fragte die Süddeutsche Zeitung im November 2014 Jutta Limbach, die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes. »Ich kann darüber nur staunen«, antwortete sie. [Süddeutsche Zeitung vom 20. November 2014.]

Die Süddeutsche Zeitung hatte Jutta Limbach nicht nur als ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes befragt, sondern auch als Vorsitzende der »beratenden Kommission im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter«, die vermittelt zwischen den Nachkommen der verfolgten und beraubten Eigentümer und öffentlichen Sammlungen, die heute solche Kunstwerke besitzen. Die Kommission hat keinerlei rechtliche Befugnisse, sondern versteht sich als moralische Instanz, die Empfehlungen gibt. Seit ihrer Gründung 2003 hat die Kommission neunmal zwischen den Nachkommen der damaligen Eigentümer und den heutigen Besitzern erfolgreich vermittelt. Aber Jutta Limbach ist optimistisch, da die Museen einen »schwierigen Lernprozess durchgemacht« haben. Allerdings, das sagt sie ebenfalls, werden die Chancen, eine Art Rechtsfrieden herzustellen, immer geringer. Auf die Bitte des World Jewish Congress angesprochen, in ihre Kommission auch jüdische Vertreter zu berufen, antwortet sie, dass dies in vergleichbaren englischen und französischen Kommissionen der Fall sei, dass aber hier die Kulturstaatsministerin und politische Gremien über die Zusammensetzung der Kommission entscheiden.

Zugunsten heutiger Besitzer

Von den etwa 1.500 Kunstwerken, die bei Cornelius Gurlitt gefunden wurden, sind etwa ein Drittel »raubkunstverdächtig«. Als der Fall an die Öffentlichkeit gelangte, wurde eine »Taskforce« eingerichtet, die die Herkunft dieser Kunstwerke klären soll. Und auch andere Gremien, etwa die Berliner Forschungsstelle für Entartete Kunst (seit 2003), und Einzelpersonen beschäftigen sich seit Jahren, seit Jahrzehnten mit dem Verbrechen der geraubten und konfiszierten Kunst. Die Erfolgsbilanz, soweit sie an die Öffentlichkeit dringt, ist überall bescheiden und enttäuschend; die Zeit arbeitet zugunsten der heutigen Besitzer.

Auch die Museen, die 1937 auf Anordnung von Hitler und unter der Verantwortung von Goebbels ihre Bestände der sog. »entarteten Kunst« verloren, sehen sich heute großen Schwierigkeiten gegenüber. Ein Gesetz vom 31. Mai 1938 schuf eine scheinbare, nachträgliche Legalisierung. In der sowjetisch besetzten Zone wurde dieses Gesetz bereits im Oktober 1946 für ungültig erklärt. Die westlichen Besatzungsmächte und auch die Bundesrepublik haben diesen Schritt nie getan, so dass heute nicht nur der zeitliche Abstand, sondern auch die juristische Lage eine befriedigende Antwort auf die Frage, welchem Museum welche Kunstwerke gehören, erschwert - und weswegen die Limbach-Kommission und andere auch in diesem Fall nur Empfehlungen und moralische Appelle äußern können.

Jutta Limbach sähe es gern, wenn die damals beraubten Museen ihre Bestände zurückerhielten: »Wenn ›entartete Kunst‹ in dem Wissen gekauft worden ist, dass es sich um aus anderen Museen entwendete Bilder handelt, hätte ich keine Bedenken, das jetzt rückgängig zu machen«; denn »das war doch auch eine Leistung der betroffenen Museen, ihrer jeweiligen Kuratoren und Direktoren, frühzeitig die Wertigkeit dieser modernen - von den Nazis als ›entartet‹ bezeichneten - Kunst zu erkennen.« Und diese Leistung müsse honoriert werden. Ob vielleicht die Bayrische Gemäldegalerie in München nach diesem Interview schon mal vorsichtig beim Sprengel-Museum Hannover wegen Noldes Gemälde »Herbstmeer IX« angefragt hat?

Die Berliner Nationalgalerie verlor 504 Kunstwerke, die Mannheimer Kunsthalle 584, und aus dem Folkwang-Museum Essen waren gar 1.273 Kunstwerke konfisziert worden; darunter jeweils Druckgrafiken, die ja keine Unikate waren; - aber dann immer auch Ölgemälde: für zwei Essener Ölgemälde von Henri Matisse (»Flusslandschaft« und »Drei Frauen am Wasser«) musste der Luzerner Kunsthändler Theodor Fischer 5.100 bzw. 9.100 Schweizer Franken an die »Verwertungskommission« bezahlen, die im Auftrag von Hitler und Goebbels die Preise festlegte. Für »Rote Pferde« von Marc waren es 15.000. Hildebrand Gurlitt suchte sich aus dem Essener Kunstschatz etwa 460 Druckgrafiken aus, u.a. von Nolde, die ihn in der in der Regel 0,2 Schweizer Franken das Stück kostete; aber auch zwei Aquarelle von Marc (»Sitzendes Pferd«, »Drei Pferde«), für die er je 850 Schweizer Franken bezahlte. Von den 16.558 Kunstwerken, die aus allen deutschen Museen von Aachen bis Zwickau konfisziert wurden, kaufte oder tauschte Gurlitt 3.001. Diese Angaben stammen aus der Liste, die Rolf Hetsch, Mitarbeiter im Propaganda-Ministerium, 1941/42 anlegte und die das Victoria and Albert Museum in London vor knapp einem Jahr veröffentlichte.

Der Sohn Cornelius Gurlitt ist im Mai 2014 verstorben und hat den Nachlass dem Berner Kunstmuseum vermacht. Das hat zugestimmt - aber die Taskforce soll weiterhin die etwa 500 Werke der Raubkunst bearbeiten und ist von Kulturstaatsministerin Monika Grütters angewiesen, einmal jährlich über ihr Arbeitsergebnis zu berichten. Außerdem soll um die Jahreswende 2014/15 in Magdeburg das »Zentrum für Kulturgutverluste« gegründet werden.

Auf die Ergebnisse dürfen wir gespannt sein. Wir dürfen auch deshalb gespannt sein, weil die oben erwähnte Liste fast ein Drittel der inventarisierten Werke als vernichtet ausweist, was manche Historiker, zum Beispiel Hans Prolingheuer, stets bezweifelt haben. Nun befindet sich im Gurlitt-Nachlass das als vernichtet registrierte Selbstporträt von Otto Dix, das aus dem Kölner Wallraf-Richartz-Museum konfisziert worden war. Bei wem und wo in aller Welt mag es noch vernichtet geglaubte Kunstwerke geben?

 

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2014-08: Paris ist frei!

2014-07: Der 14. Juli 1789

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