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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Träumer und Realist

Horsta Krum, Berlin

 

Am 29. Juli 1925 wurde Mikis Theodorakis auf der griechischen Insel Chios geboren

 

Er ist nicht nur Musiker. Er war, er ist auch Kämpfer, immer beides: Musiker und Kämpfer, oder, wie er selbst sagt: Träumer und Realist.

Von 1940 bis 1944 ist Griechenland besetzt, zuerst von italienischen und bulgarischen Truppen, ab 1941 dann auch von der deutschen Wehrmacht. Theodorakis schließt sich dem Widerstand an, wird zweimal verhaftet, kommt frei. Im April 1944 transportiert er mit einem Freund Flugblätter: »Sie haben uns in den Folterkeller gebracht. Mein Freund war als erster dran, sie haben ihn umgebracht während dieser Folterung. Und dann war ich an der Reihe. Dieser Gestapo-Offizier kam zu mir und sagte: ›Deine Papiere.‹ In meinem Größenwahn hatte ich draufgeschrieben: Komponist. Und dieser Gestapo-Mann änderte sich plötzlich: ›Komponist?‹ Ich antwortete: ›Jawohl‹. Und er: ›Kennen Sie Bach?‹ Und ich habe sofort gesagt: ›Beethoven.‹ Und dann hat er ›Brahms‹ gesagt, und ich habe ›Wagner‹ geantwortet. Plötzlich war von Folterung nicht mehr die Rede.« [1]

Ende 1944 zieht sich die Wehrmacht zurück, aber der Kampf geht weiter: gegen die konservativen Griechen, die – mit starker britischer Unterstützung – die alten Verhältnisse wiederherstellen wollen. Theodorakis wird gefangengenommen, in mehreren Lagern festgehalten (1947-49). Mit vielen anderen wird er ein erstes Mal auf die Insel Ikaria gebracht. Wer den Transport überlebt, hat es dort vergleichsweise erträglich, denn eine direkte Bewachung gibt es nicht, das Meer ersetzt den Stacheldraht. Theodorakis schreibt alle neun Beethoven-Sinfonien ab, Note für Note, lässt sich von Mitgefangenen Volkslieder vorsingen. »Das größte Problem war der Liebeskummer« [2], Quelle seiner einzigartig schönen Liebeslieder.

Auf Makronissos, dem »letzten Kreis der Hölle« leidet er wie vor ihm die Opfer der Nazis in deutschen Konzentrationslagern: er muss sein Grab schaufeln, wird grausam gefoltert, ohnmächtig begraben. Sein Gesicht ist so entstellt, dass sein Vater ihn nicht erkennt.

Diese Folterungen zwischen 1947 und 1949 sind die schlimmsten. Sie dienen zur »Niederhaltung der revolutionären Bewegung«; dafür trägt die US-amerikanische Regierung 797 Millionen Dollar bei. [3]

Sein Musikstudium, mehrmals unterbrochen, beendet er 1950 – und wird zum Militärdienst verpflichtet. Um dem zu entgehen, schluckt er Schießpulver, fällt ins Koma und wird in die Abteilung für Geisteskranke eines Militärkrankenhauses gebracht. Danach arbeitet er weiter. Einige Werke dieser Jahre gelten den Kriegsopfern und der nationalen Versöhnung.

Er und seine Frau Myrto, die Medizinerin ist, bekommen ein Stipendium in Paris. Er komponiert, gibt Konzerte. Seine Werke werden auch in anderen Ländern aufgeführt. Während dieser Pariser Zeit erhält er seine erste Auszeichnung: eine Goldmedaille in Moskau. Andere internationale Auszeichnungen folgen.

Als er 1960 nach Athen zurückkehrt, greift er in den Konflikt um die Volksmusik ein, der auch ein politischer Konflikt ist. Unter Einbeziehung älterer und neuerer griechischer Dichtung gelingt ihm eine Synthese zwischen der ländlichen Tradition und den neuen Elementen der städtischen Musik, die Ausdruck von Einsamkeit, von Nicht-Sesshaften und Außenseitern ist. Instrumente der griechischen Volksmusik bindet er in das Orchester westlicher Prägung ein. Während dieser Jahre entsteht die Musik zum Film Alexis Sorbas.

1963 kommt der linksgerichtete Politiker Grigoris Lambrakis bei einem Attentat ums Leben. Theodorakis gründet die Lambrakis-Jugend und wird ins Parlament gewählt. Als die Militärjunta im April 1967 durch einen Staatsstreich die Macht ergreift, gemäß dem NATO-Plan Prometheus, ruft Theodorakis zum Widerstand auf und gründet die Untergrund-Organisation Patriotische Front. Zwischen ihr, also denen, die kämpfen, und den Kommunisten, die das Land verlassen haben, gibt es erste Meinungsverschiedenheiten.

Er wird verhaftet, seine Musik verboten, aber seine Lieder werden trotzdem öffentlich gesungen. Nach seiner Verhaftung muss er im Gefängnis zwei Wochen auf Papier und Bleistift warten und schreibt dann die 32 Gedichte »Die Sonne und die Zeit«, während er die Gründe für die Niederlage zu begreifen sucht, verzweifelt an seine Familie denkt und die Schreie der Gefolterten hört. »Indem ich etwas erschuf, machte ich mich zum Herrn über Zeit und Tod.« [4]

Gefängnis, Straflager, Verbannung wechseln. Warum die Verbannung ins Landinnere? Weil er das Meer zu sehr liebt! »Man muss es ihm wegnehmen«, hatte ein General gesagt und seinen Sekretär angewiesen, den Ort auf dem Peloponnes zu suchen, der am weitesten vom Meer entfernt liegt. [5] Unter der Verbannung leidet er auch deshalb besonders, weil seine Frau und seine beiden Kinder, die bei ihm sind, ebenfalls Schikanen ausgesetzt sind. Sie helfen ihm, Briefe, neue Kompositionen hinauszuschmuggeln, Kontakt mit seinen Eltern und Genossen zu halten. Manchmal hat sein selbstbewusstes Auftreten sogar Erfolg: er behält sein Klavier und kann komponieren.

Später, im Straflager erkrankt er schwer, und der französische Politiker Jean-Jacques Servan-Schreiber darf ihn im Flugzeug nach Paris mitnehmen. Eine internationale Kampagne erzwang 1970 seine Freilassung. Die Werke, die er vor 1970 verfasst, Lieder zum Beispiel, die Musik zum Film Z, Anatomie eines politischen Mordes, zeigen auch diesmal seine ungeheure Energie.

Nachdem seine Frau und seine zwei Kinder auf illegalem Wege in Paris eingetroffen sind, gründet Theodorakis dort den Nationalen Widerstandsrat. In vier Jahren ist er mit etwa 500 Konzerten in vielen Ländern unterwegs, um für ein freies Griechenland zu werben. In dieser Zeit trifft er u.a. Salvador Allende und Pablo Neruda und arbeitet an dessen Canto General.

Als die Militärjunta im Juli 1974 gestürzt wird, kehrt er nach Athen zurück. 1972 war er aus der griechischen kommunistischen Partei ausgetreten. Aber er engagiert sich weiter, auch im neuen Parlament. Nach der Befreiung und während der achtziger Jahre wechselt politisches Engagement mit Resignation. »Eine Zeitlang bewahrte ich mir noch meine Illusionen.« [6] Das befreite Griechenland ist nicht das Land, für das er gekämpft hatte und für das viele seiner Freunde gestorben waren. In der Oper Kostas Kariotakis heißt es: »Die Atriden morden nicht mehr. Sie machen Propaganda.« [7]

Theodorakis kehrt wieder nach Paris zurück, konzentriert sich auf die Musik, vor allem auf Sinfonien und Oratorien, die liturgische Gesänge verarbeiten, vollendet den Canto General, schreibt Opern, die vor allem Frauenfiguren der griechischen Mythologie thematisieren.

Der Rückzug auf die Musik dauert nicht. Das Griechenland der achtziger Jahre ist erschüttert von zunehmenden Korruptionsskandalen um die Partei PASOK des Ministerpräsidenten Andreas Papandreou, der ein unabhängiges Griechenland ankündigte, aber von seinen Versprechungen immer mehr abgerückt ist. Theodorakis will nach einer Katharsis (Reinigung) einen Neuanfang und wird, für zwei Jahre, linker Minister ohne Geschäftsbereich – und dies auf Vorschlag des Vorsitzenden der konservativen Oppositionspartei Nea Demokratia. Er gründet die griechisch-türkische Freundschaftsgesellschaft, um alte Wunden der Feindschaft zu heilen; er arbeitet an einer Reform des Erziehungswesens und der Kultur. 1992/93 zieht er sich aus der Politik zurück und bezeichnet seine Regierungsbeteiligung als Irrtum – nicht mehr Berufspolitiker will er sein, will aber Politik machen, denn Politik bedeutet ist für ihn »existentielle Politik«, die er mit der Musik verbindet, denn: »Musik ist unsterblich, Politik nur flüchtig.« [8]

Er übernimmt das Symphonie-Orchester und den Chor des Griechischen Rundfunks und Fernsehens, gibt Konzerte und komponiert, wird schwer krank, arbeitet weiter, aber er komponiert nicht mehr. Aus vielen Ländern kommen Auszeichnungen, Ehrungen, Einladungen. Gegen Krieg und Gewalt engagiert er sich in Wort und Musik. Hier sei nur das Solidaritätskonzert in und für Jugoslawien erwähnt, das im April 1999 vor 50.000 Menschen stattfindet. Theodorakis: »Wir stehen vor dem Eintritt in ein neues Mittelalter. Wir werden an der Seite der Opfer, der Serben sein. Wir wollen, dass unser Gesang heute die Sirenen der Luftangriffe und den Lärm der Raketen übertönt.« [9] Wenige Tage später reicht der berühmteste Rechtsanwalt Griechenlands – auf Bitten Theodorakis' – eine Klage ein beim internationalen Gerichtshof in Den Haag gegen »die Spitzen der Nato und ihre Militärpolitik« – mit dem Ziel, die Bombardierungen Jugoslawiens als Kriegsverbrechen zu verurteilen.

2010 gründet Theodorakis die außerparlamentarische Bewegung SPITHA, die mithelfen soll, Griechenland aus der Umklammerung der EU zu lösen. Er bittet befreundete Ärzte, eine Organisation zu schaffen, die verarmten Griechen kostenlose medizinische Hilfe gibt.

Als im eigenen Land ein Abgeordneter der Goldenen Morgenröte im Juni 2013 den Holocaust leugnet, reagiert er scharf mit einem langen Zeitungsartikel: »... Die Tatsache, dass es einem Abgeordneten allen Ernstes in den Sinn kommen konnte, im Parlament den Holocaust der Nazis an den Juden infrage zu stellen, beschädigt das Ansehen unseres Landes.« Der Mord an den Juden ist »ein Jahrtausend-Albtraum, der dich bereits krank machst, wenn du nur daran denkst, während in deiner Vorstellung diese Opfer – vor allem Kinder – zu Engeln werden und du schließlich nur noch den unweigerlichen Drang verspürst, vor ihnen niederzuknien, sie auf ewig um Vergebung zu bitten ... Die Verbrechen von damals haben meinen Glauben an den Menschen getötet. Und keine Macht der Welt kann mich dazu bringen, das zu vergeben ...« Unter den sechs Millionen ermordeter Juden waren viele aus Thessaloniki.

Nach den Parlamentswahlen zu Beginn diesen Jahres sagt er: »Ich beglückwünsche SYRIZA zu seinem großartigen Wahlsieg.« Er weiß aber auch, »dass wir uns jetzt am Anfang eines leidvollen Weges befinden, also an dem Punkt, an dem die Programme und Versprechen zu Taten und Resultaten führen müssen.« Er wird »jeden Versuch der neuen Regierung unterstützen, der dazu dient, all jenen Ungerechtigkeiten, die es in unserem Lande gibt, ein Ende zu setzen, und der einen Ausweg aus dem Klammergriff der Memoranden zum Ziel hat.«

Woher hat er die Kraft für seine musikalische Lebensleistung gehabt, die vom kleinen, zarten Volkslied, dem Liebeslied und dem Kampflied, über Kammermusik, Oratorien, liturgische Gesänge, Sinfonien, Ballett-und Filmmusik, zu Opern – also über alle Musikgattungen reicht? Woher kam die Kraft für sein politisches Engagement, nach den entsetzlichen Folterungen? Einige Folgen der erlittenen Folterungen sind abgeklungen, andere quälen ihn bis heute.

Woher nimmt er, schwerkrank, auch heute noch die Energie, sich und anderen Mut zu machen? Sich politisch so eindeutig zu engagieren? Noch 2012 nimmt er, im Rollstuhl, an einer Demonstration gegen die Austeritätspolitik teil; Tränengas dringt in seine Bronchien und in seine kranke Lunge ein. Woher nimmt er die Kraft, auch weiterhin an und mit der Musik zu arbeiten? Seine Musik kann man nicht mit Worten beschreiben, auch nicht nur hören, sondern man erlebt sie. Denn in ihr ist enthalten, was ihn, den Menschen Mikis Theodorakis, geprägt hat: die Einsamkeit der Inseln; das unendliche Blau des Himmels; der betörende Duft der Kräuter; die intensiven Farben der Blüten; die Stimmen aus dem Schatten von mehr als tausendjährigen Bäumen; die abgründigen Sagen und Mythen, überhaupt der unerschöpfliche Reichtum der Kultur; der Jahrhunderte alte Drang nach Freiheit; die Grausamkeit mancher alten Riten; das Meer, Spiegel des unbeschreiblichen Lichtes, das es nur in Griechenland gibt; die Falten im braungebrannten Gesicht derer, die die Erde bearbeiten; die Solidarität derer, die ihn so oft vor dem Tode retteten; die Trauer über die, die nicht überlebten; aber auch die Freude zu feiern, zu tanzen und die Segnungen dieses Landes mit anderen zu teilen: Wer dieses Land kennt, kennt auch seine Gastfreundschaft. All das, durchdrungen von Leidenschaft und Pathos, hat ihn und seine Musik geprägt. Von dem, was er in seiner Oper Kostas Kariotakis den Dichter schließlich sagen lässt, ist er auch heute noch überzeugt: »Das Lied wird immer wiedergeboren.«

P.S.: 1981 fand in Berlin (DDR) die Uraufführung des Canto General statt. Es sollte mich wundern, wenn Verantwortliche von heute, Regierungspolitiker gar, zu einem solchen Groß-Ereignis den Mut hätten im Jahre 2015!

Lieder von Mikis Theodorakis in der Bearbeitung für Gesang und Klavier von Sebastian Schwab, Texte Ina Kutulas, interpretiert von Johanna Krumin, Sopran, und Markus Zugehör, Klavier. Die CD echowand ist seit 29. Mai 2015 im Handel erhältlich. © SCHOTT MUSIC GmbH & Co. KG, Koproduziert mit BR Klassik, optische und konzeptionelle Betreuung: Jens Rötzsch, © Fotos booklet, trailer, cover: Jens Rötzsch, www.echowand.com.

 

Anmerkungen:

[1] www.youtube.com/watch?v=aq0liWqOPOY, Trailer zu CD Echowand.

[2] Roger Willemsen, Gute Tage, 2006, S. 167. Auf Ikaria erlebt Theodorakis die erste Trennung von seiner späteren Frau Myrto.

[3] Guy Wagner, Mikis Theodorakis, 1995 S. 61.

[4] Mikis Theodorakis, Mein Leben für die Freiheit, 1972, S. 92.

[5] a.a.O., 167.

[6] Mikis Theodorakis, Die Wege des Erzengels I, 1987, S. 260.

[7] a.a.O., S. 261.

[8] Willemsen, S. 161.

[9] Zitate und Informationen, die nicht aus den oben erwähnten Quellen stammen, habe ich der ausführlichen Chronologie von Guy Wagner und Asteris Koutoulas entnommen, die im Netz unter: www.mikis-theodorakis.net zu finden ist.

 

Mehr von Horsta Krum in den »Mitteilungen«: 

2015-04: 2. April 1840: Émile Zola geboren

2015-01: Der Fall Gurlitt – und wie weiter?

2014-08: Paris ist frei!