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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die Benjamins – eine deutsche Familie (I)

Werner Wüste, Wandlitz

 

Lange schon war es ruhig um den Namen Benjamin auf dem Büchermarkt. Seit den 90er Jahren schien das Thema abgehakt. Da gab es zwei Hilde-Benjamin-Biografien. Die von Marianne Brentzel verfasste, Die Machtfrau, wurde von Mischa Benjamin immerhin einer kritischen Auseinandersetzung für Wert befunden.

Jetzt hat Uwe-Karsten Heye das Thema wiederbelebt. Und erweitert: Die Benjamins. Eine deutsche Familie. Aufbau Verlag 2014. [1]

Lesende haben meist guten Grund, in ihr jeweiliges Buch sich zu vertiefen und in kein anderes, und zwar unverzüglich, ohne sich aufhalten oder ablenken zu lassen; auf eine weitere Motivation oder auf eine Erklärung zum Verständnis gar können sie verzichten. Also auch auf das Vorwort, wenn es denn eines gibt.

Das Vorwort zu Die Benjamins aber, vom Buchautor selbst verfasst, sollte man mit Aufmerksamkeit lesen. Er definiert darin den Anspruch wie auch den Maßstab, den er anzulegen wünscht.

Das Geburtsjahr von Walter Benjamin 1892 und das Todesjahr seiner Schwägerin Hilde 1989 markieren ... ein deutsches Jahrhundert, von einer Blutspur durchzogen, die mit den kolonialen Eroberungen des Hohenzollernclans in Afrika vor 1914 begann und mit dem Massensterben in beiden Weltkriegen vorerst endete. Für beide Kriege gibt es eine unübersehbare Verantwortung der Deutschen ... so die einleitende Feststellung Heyes; die Zeit nach 1945 nennt er den fragilen kalten Frieden, Ausgangspunkt für die Teilung der Welt in Ost und West, für den Beginn des Krieg(es) der Worte statt der Waffen. Die DDR wurde zum Hort alles Bösen bestimmt. So sollten die Mordtaten der Nazis vergessen gemacht, jedenfalls an die zweite Stelle gerückt werden. Im Westen Deutschlands sorgten die in ihren Ämtern verbliebenen Funktionseliten der Nazis für den gleichen antibolschewistischen Gestus, der zuvor zwölf Jahre lang eingeübt worden war. Aber jeder verurteilte Nazi-Täter wurde unbesehen zum Opfer des »Unrechtssystems« DDR und Hilde Benjamins.

Heye vergleicht und stellt gegenüber. Erinnert Vorgänge und Fakten. Das KPD-Verbot und die Verfolgung ihrer Mitglieder zum Beispiel wie demgegenüber die Tatsache, dass noch 1959 die Hälfte der leitenden Beamten des BKA ... ehemalige SS-Männer oder Angehörige der Sondereinheiten der Polizei waren, beteiligt an Massenmorden hinter den Linien in Rußland.

So macht er bewusst, das Leben und Tun der Benjamins wie auch ihr Schicksal tatsächlich nur im Zusammenhang mit den politischen Verhältnissen in Deutschland erklärt und verstanden werden können, dass sie und dieses Jahrhundert unauflösbar verbunden sind.

Mischas Sohn und Hildes Enkel Grischa bestätigt im Jahr 2000 auf seine Art und aus seiner Perspektive: Wir waren ja auch immer eine zutiefst politische Familie – im besten Sinne des Wortes.

Uwe-Karsten Heye schlägt den Bogen ins Heute und beschreibt gleichzeitig seine Motivation: Erneut wird Rechtsextremismus entweder unterschätzt oder verharmlost. Das hat Tradition und ist den Deutschen nie gut bekommen. Die Neigung, das vereinigte Land weiter in Ost und West aufzuteilen und jeweils mit dem Finger in die andere Richtung zu deuten und nur dort den braunen Unrat zu identifizieren, hat mit dazu beigetragen, die äußere Teilung durch die innere Trennung im vereinten Deutschland zu ersetzen. Auch deshalb dieses Buch.

Anspruch und Maßstab. Es wird für Uwe-Karsten Heye nicht selbstverständlich gewesen sein, seinen Standort zu definieren, wie er es, aus meiner Sicht überzeugend, tut. Sein Buch, so scheint mir, markiert auch seinen Weg. Von dem Redenschreiber Willy Brandts, dem Regierungssprecher Gerhard Schröders jedenfalls war diese Erzählung der Benjamins, eingebettet in kritische Betrachtung der Vorgänge in der Gesellschaft, in den Gesellschaften Ost und West, so nicht unbedingt zu erwarten. Mit umso mehr Achtung habe ich das Buch, nachdem ich mir diesen Zugang erschlossen hatte, gelesen. Achtung bedeutet ja nicht unbedingt Übereinstimmung, Zustimmung zu allem. Seine Benjamin-Geschichte jedenfalls hebt sich deutlich und erfreulich von den Hilde-Benjamin-Biografien der Autorinnen Marianne Brentzel und Andrea Feth ab.

Heye erzählt die Schicksale der Benjamins einerseits einzeln, separiert, wenn man so will, andererseits aber immer wieder in Bezügen aufeinander; gelegentliche Wiederholungen waren so kaum vermeidbar.

Er beginnt mit den Geschwistern Walter, Georg und Dora. Es ist mir wichtig, sagt er, sie aus dem Schatten zu holen, den der berühmte Bruder (Walter) wirft. Daher ist sie die Erste, über die ich erzählen will.

Es folgen Hilde Benjamin, Frau von Georg, und Michael, beider Sohn.

Hilde und Mischa habe ich gut gekannt. Mit Mischa war ich lebenslang befreundet. Erinnere ich mich meiner Kindheit, ist mir, als seien sie beide, Hilde und Mischa, immer dagewesen. Wie eine Selbstverständlichkeit.

Über Georg habe ich gearbeitet. Der Akademie für ärztliche Fortbildung der DDR hatte ich einen Dokumentarfilm vorgeschlagen und konnte ihn realisieren.

Fast wie von selbst ergibt sich daraus, dass ich die Berichte Heyes über die Drei besonders aufmerksam, vielleicht auch besonders kritisch las.

Meine Achtung für die mentale Leistung Heyes kann mich allerdings nicht hindern, etwas verärgert seine gewisse Großzügigkeit im Umgang mit Fakten anzumerken. Bereits im Prolog eine solche Ungenauigkeit: Heye mag es für unwichtig gehalten haben, dass die Familie, bevor der Vater Emil Benjamin 1912 im Grunewald eine Villa erwarb, in der Kurfürstenstraße im alten Berliner Westen lebte. Bei Heye kommt diese Wohnung gar nicht vor. Aber zwischen der Kurfürstenstraße und dem Grunewald sind wohl doch erhebliche Unterschiede. Jedenfalls im heute so genannten ranking. Also ist Walter auch nicht der Sproß aus der Delbrückstraße im vornehmen Grunewald, der zwischen 1908 und 1910 regelmäßig den Berliner Zoo besucht.

Bei Gershom Scholem, auf den Heye sich wiederholt bezieht, lese ich: 1912 erwarb der Vater als teilweise Anlage seines Vermögens das große, recht elegante Mietshaus – keineswegs eine Villa, wie manchmal fälschlich erzählt wird – in der Delbrückstraße 23 im Grunewald, von dem er nur den geräumigen ersten Stock (mit Wintergarten) bewohnte. ... Als ich 1946 in Berlin war, standen nur noch ein paar Mauerreste. (Bulletin 61 LBI, Sholem, Ahnen und Verwandte Walter Benjamins).

Korrigieren muss ich auch, dass Georg Benjamin außer während der Kriegsjahre immer in Berlin zu finden war. 1920 studierte er zwei Semester in Marburg, wo er sich bald einer sogenannten Sozialen Arbeitsgemeinschaft (SAG) anschloss, wie Hilde Benjamin in der Biografie ihres Mannes erzählt, und bereits nach Rückkehr aus Marburg und nicht erst nach Beendigung des Studiums verließ er die Villa der Eltern und zog zuerst in die Fruchtstraße, (für Nicht-Berliner: das war tiefster Berliner Osten! – Hilde Benjamin: ... charakteristische Proletarierstraße) und erst dann, 1921, in das Ledigenheim am Brunnenplatz im Wedding; und das, um dort die Arbeit an seiner Dissertation Über Ledigenheime zu beginnen, die er im November 1922 verteidigte.

Hilde Benjamin wird später über Georg schreiben: Nachdem er ... den Schritt aus den Grenzen seiner Herkunft heraus getan hatte, ging er nun mit aller ihm eigenen Konsequenz diesen Weg weiter.

Er setzte um in Tat, was er für richtig erkannt hatte.

Es erweist sich nun allerdings als ein deutlicher Nachteil der von Heye gewählten Erzählstruktur: Sie erschwert den komplexen Blick auf ein Leben wie das Georg Benjamins. Dessen innere Logik, die Folgerichtigkeit seines Verlaufs, die Konsequenz der Entscheidungen kann Heye so nur sehr bedingt erkennbar machen.

55 Jahre nach Georgs Ermordung schrieb ich im »Pankower Spiegel« 14/97:

Als 17jähriger bekennt er »grenzenlose Liebe zur Wahrheit«. Sie ist ihm Anspruch an die Gesellschaft und Forderung an sich selbst ... Hohe Ideale will er mit Tatkraft verbunden sehen. Für soziale Tätigkeit hält er sich befähigt. So ist ihm sein Arzt-Sein auch eher das eines Sozialarbeiters. Und so muss er schließlich für sich die sozialistische Idee als einzige ihm entsprechende Haltung und Lebensaufgabe finden. Es entspricht seiner Konsequenz, seinem Wesen und seinem Charakter: Sich selbst treu zu bleiben.

Auch Georg Benjamins wissenschaftlich-publizistische Tätigkeit hätte aus meiner Sicht verdient, ausführlicher und konkreter beschrieben zu werden; wie sie seine Arzttätigkeit ergänzte, wie sie seiner politischen und sozialen Arbeit Richtung und Inhalt gab, wie sie schließlich auch noch heute, beziehungsweise heute wieder, grundlegende Kritik der Klassenmedizin ist.

Heye zitiert aus einem Brief Dora Benjamins an Walter vom Februar 1935: Aus Berlin habe ich regelmäßig ganz gute Nachrichten. Dora teilt mit, dass eine Freundin auf ihren Wunsch hin sehr schöne Bilder von Georg gemacht hat. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit sind hier die bekannten Fotos von Charlotte Joel [2] gemeint. Sie vermutlich war die Freundin, über die (siehe Mitteilungen 10/2012, S. 34) Sabine Krusen berichtet:

Im April 1943 wurden jüdische Menschen aus dem Lager Neuendorf ... in das Sammellager Große Hamburger Straße gebracht und am 19. April 1943 mit dem sogenannten 37. Transport in Richtung Auschwitz geschickt. »Von 681 an diesem Tag aus Berlin Deportierten überlebten nur 26. Charlotte Joel gehört zu den 280 Personen, deren Schicksal ungeklärt ist.«

Also Dora. Es ist nicht einfach der Anstand, die Höflichkeit, das Bedürfnis nach Vollständigkeit gar, die alle zusammen Uwe-Karsten Heye veranlassten, so ausführlich und einfühlsam über Dodo, wie sie in der Familie genannt wurde, zu erzählen. Beeindruckend ist Heyes Hochachtung, wenn nicht Verehrung für Dora Benjamin. Der Leser hat keine Mühe wie auch keinen Grund, sie nicht einfach zu akzeptieren und zu übernehmen.

Zitat: Wer in der Dissertation von Dora Benjamin blättert, erkennt, wie fortschrittlich sie vor gut 85 Jahren bereits dachte. Vielleicht wäre es hilfreich, mancher Frontfrau konservativer Familienpolitik heute, im Jahre 2014, eine Kopie zu schicken, immerhin scheint es, man hat noch einen langen Weg vor sich, um auch nur in die Nähe von Dora Benjamins Forschungsergebnissen zu gelangen.

Ohne Hilde Benjamin, Dodos lebenslanger Freundin, wäre Heyes Feststellung vermutlich nicht möglich gewesen. Sie suchte und fand, lange nach Doras Tod, im Archiv der Universität Greifswald das Original ihrer Dissertation Über die soziale Lage der Berliner Konfektionsarbeiterinnen mit besonderer Berücksichtigung der Kinderaufzucht.

Die Untersuchungsgegenstände der Forschungen von Dora und Georg sind erkennbar identisch oder liegen doch nahe beieinander.

Auch das sei schon an dieser Stelle vermerkt: Ohne Hilde Benjamin wären auch jene 22 Gedichte von Gertrud Kolmar, Georgs Cousine, aus dem Jahre 1933 verschollen geblieben, die in die kleine Sammlung Das Wort der Stummen, 1978 herausgegeben von Uwe Berger, Aufnahme fanden. Hilde schrieb:

Sie gab sie mir, ein Päckchen Manuskriptblätter: Nimm! Ich nahm sie als Vermächtnis, ungelesen. Ich wagte mich an sie so wenig, wie an die Briefe und Papiere meines Mannes. Mit ihnen waren sie verpackt, versteckt und verwahrt. So verwahrt, wie das Erleben dieser Jahre zunächst tief versank und ich nicht daran zu rühren wagte.

Dora ging, wie ihr Bruder Walter, 1933 nach Frankreich ins Exil. Sie arbeitete u.a. als Haushaltshilfe und Putzfrau. Bis sie an der Bechterewschen Krankheit zu leiden begann.

Heye verfolgt Doras Weg bis zu ihrem Entkommen in die Schweiz, lässt uns teilnehmen an den Lebensgefahren wie an den rettenden Zufällen, auch an ihrer Hoffnung, nach dem Krieg in den USA wissenschaftliche und praktische Arbeit leisten zu können. 1943 erkrankte sie an Brustkrebs.

Heye: Die Lebenserwartung nach Einschätzung der Ärzte betrug höchsten ein bis drei Jahre. Ich finde keine Äußerung von ihr oder ihren Freunden, wie sie mit dieser Nachricht fertig wurde. Sicher ist allerdings, daß sie sich erneut in die Arbeit vergrub.

Heye verbirgt seine Trauer nicht. Dora Benjamin starb 1946 im Schweizer Exil.

(Fortsetzung folgt)

 

Anmerkungen:

[1] ISBN 9783351035624, 361 Seiten, 22,90 Euro.

[2] Siehe »Dr. Georg Benjamin mit seinem Sohn Michael«, Foto in Mitteilungen, Heft 8/2012, S. 32.

 

Mehr von Werner Wüste in den »Mitteilungen«: 

2012-06: Vor achtzig Jahren: Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?

2011-09: Pablo – der Tschort

2011-07: Zum Achtzigsten