Dichterfürst oder Fürstendichter?
Gina Pietsch, Berlin
Johann Wolfgang von Goethe zu seinem 275. Geburtstag am 28. August
Eine Würdigung
Diese Frage hat sich vielleicht schon Beethoven gestellt, der nach einem Treffen in Karlsbad vermutete, dass Goethe die Hofluft wohl mehr behage als einem Dichter ziemt. Aber das kann nicht das einzige sein, das von seinem langen Leben interessiert. Er selbst sagt davon so:
Ich hatte den Vorteil, dass ich zu einer Zeit geboren wurde, wo die größten Weltbegebenheiten an die Tagesordnung kamen und sich durch mein Leben fortsetzten, so daß ich vom Siebenjährigen Krieg, sodann von der Trennung Amerikas von England, ferner von der Französischen Revolution und endlich von der Napoleonischen Zeit bis zum Untergang des Helden und den folgenden Ereignissen lebendiger Zeuge war. Hierdurch bin ich zu ganz anderen Resultaten und Einsichten gekommen, als allen denen möglich sein wird, die sich jene großen Begebenheiten durch Bücher aneignen müssen, die sie nicht verstehen.
So hat er empfunden, und also müssen wir ihn so nehmen. Dass er ein Großteil dieser »Weltbegebenheiten« erlebt hat als Wirklicher Geheimer Rat, Kammerpräsident, Kultusminister, Aufseher beim Wegebau, Hofpoet etc. macht ihn zuweilen kritikwürdig, hat aber, glücklicherweise, seine Dichtung nicht allzu sehr beeinflusst. Er bleibt groß, wird verehrt wie kaum ein anderer, ist berühmt, hat Mode gemacht, in Götz-Ton und Werther-Kluft, wird beneidet, geliebt von Frauen und Männern, umringt von Helfern, aber er fühlt sich einsam. Die Einsamkeit ist selbst geschaffen. Er ist autokratisch, er nervt, er doziert, er kann vieles nicht leiden, Rauchen, Hundegebell, das Klappern des Webstuhls eines Leinewebers, Gespräche über Politik, er verbraucht Menschen, Frauen zumal, er ist ans Befehlen gewöhnt, fühlt sich unverstanden.
Der Dichterkollege Gottfried August Bürger, der Goethe 1789 besuchte, sah ihn so:
Mich drängt’ es in ein Haus zu gehen,
Drin wohnt ein Künstler und Minister.
Den edlen Künstler wollt ich sehn
Und nicht das Alltagsstück Minister.
Doch kalt und steif blieb der Minister
Vor meinem trauten Künstler stehn
Und vor dem hölzernen Minister
Kriegt ich den Künstler nicht zu sehn.
Hol ihn der Kuckuck und sein Küster!
Das Zünglein an der Waage
Versuche, ihn zum geistigen Vorläufer verschiedener sozialer Gesellschaftsordnungen zu machen – Georg Lukács zugunsten des marxistischen Staates, Thomas Mann zugunsten der westlichen Demokratie, laufen schief, weil Goethes politischen Anschauungen nicht gerecht.
Nun, wir können froh sein, dass die Dichtung oft klüger ist als der Dichter. Siehe hier: Da steht ein Mädchen aus dem kleinen Gedicht »Vor Gericht«, steht dort, weil unehelich schwanger, wird aber nicht mehr wahnsinnig wie Gretchen, ist eine Selbsthelferin wie Egmonts Klärchen.
Das Thema der Mutterschaft ohne Ehe so zu behandeln – das hat bis zu diesem Jahr 1776 keiner getan. Man könnte glauben, er hat vorausgesehen, wie seine Christiane sich gefühlt haben muss, bei jedem der fünf unehelichen Kinder, von Goethe also zur Hure gemacht und somit nach dem Gesetz bestrafbar. Goethe kriegts natürlich hin, denn, wie er sagt: In meinem Kreis hab ich wenig, fast gar keine Hindernisse außer mir. Unverständlich wird dann aber, wie derselbe Dichter nur sechs Jahre später als Minister und Geheimer Rat, als wichtigstes Mitglied des den Herzog beratenden Geheimen Consiliums das Zünglein an der Waage wird beim Justizmord an der Kindsmörderin Anna Catharina Höhn aus dem Weimar nahen Tannroda. Carl August ist gegen die Todesstrafe, er will sie abschaffen. Das bedeutet, die Halsgerichtsordnung vom Jahre 1532 außer Kraft zu setzen. Das Consilium muss ihm helfen. Es besteht aus drei Mitgliedern. Der älteste will töten lassen, der zweite laviert, der Jüngste, Goethe, 34 Jahre alt und erklärter Liebling des 27jährigen Herzogs, lässt sich 10 Tage Zeit, dann formuliert er, dass es für das Verbrechen der Kindesmordes rätlicher seyn möge die Todesstrafe beizubehalten. Am selben Tag setzt Carl August nach einem halben Jahr Zögern seine Unterschrift unter das Todesurteil und Anna Catharina Höhn wird am 28. November 1783 geköpft, zu der Zeit, als der nun adlige Minister schrieb edel sei der Mensch, hilfreich und gut.
Nun übrigens ist der Adel in all seinen Werken die eigentlich handelnde Person, nicht der kleine Landadel, versteht sich, oder der verarmte von Weimar. Er schwingt sich auch rasch zu Meinungen auf, die da heißen:
Der Bürger ist ebenso frei wie der Adlige, sobald er sich in den Grenzen hält, die ihm von Gott durch seinen Stand, worin er geboren, angewiesen. Hat einer nur so viel Freiheit, um gesund zu leben und sein Gewerbe zu treiben, so hat er genug, und so viel hat leicht ein jeder.
Das sagt er wider besseren Wissens. Er kennt den Hunger der Apoldaer Strumpfwirker und die Fronlasten der Bauern und nimmt teil am Niederhalten von deren Protesten. Als die Bauern in Ilmenau protestierten, weil ihnen eine vierfach höhere Steuerbelastung aufgezwungen werden soll, befürwortet Goethe energisch die Entsendung von Militär nach Ilmenau. Das zur gleichen Zeit, als er im »Wilhelm Meister« mit der Idee der Aufhebung des feudalen Systems spielte.Nun ja, das ist der Dichter. Im Faust trifft der sich mit dem Staatsmann und sagt:
denn nichts zu ändern hat für sich der Knecht Gewalt
Was soll uns stets vereinen
Ehe er dann in Italien wirklich ganz der wird, der er war, beschäftigt ihn erst einmal dieses platonische heilig sonderbare Verhältnis zur kühlen, erzkonservativen Hofdame Charlotte von Stein. Sie gewöhnt ihm das Fluchen ab, bringt ihm Manieren bei und wird ihm, da verheiratet und Mutter, nie wirklich gefährlich. So vergehen zwölf Jahre und 1700 Briefe. Was soll uns stets vereinen – die Lieb sagte er eben. Ja, schöne Hoffnung, aber von Stein schafft das nicht wirklich, Christiane stirbt vor ihm, Marianne auch und der Heiratsantrag des Greises an die siebzehnjährige Ulrike von Levetzow wird mit einem Korb beantwortet.
Wirft er sich in seine Ministerämter, die nie so richtig Spaß machen. Rekrutenausheben für Amerika geht zwar seinen Gang, aber Sehnsüchte bleiben, immer wieder die nach »dem Land, wo die Zitronen blühn«. Er lässt es in »Wilhelm Meister« Mignon sagen. Aber es ist seine Sehnsucht, die ihn dann, September 1786, wirklich gen Italien treibt, Genitalien, wie man später beziehungsvoll witzelt. Er reist inkognito als Maler, Filippo Miller, tedesco, pittore und es geht ihm blendend.
Schiller, dem es niemals so ging, beschreibt’s so:
Während er in Italien malt, müssen die Voigte und Schmidts für ihn wie die Lasttiere schwitzen. Er verzehrt in Italien fürs Nichtstun eine Besoldung von 1800 Thalern und sie müssen für die Hälfte des Geldes doppelte Lasten tragen.
Er ist, laut Brief an Herder in seinem Leben das erstemal unbedingt glücklich.
Vielleicht, weil er gelernt hat, er ist erstens nicht Minister oder Maler, sondern Dichter und weil er in dieser Stadt Rom die Liebe kennenlernt, so wie die Antike sie kannte, die große erotische, in lebendiger Form mit Namen Faustina, einer Gastwirtstochter, wie man bis vor kurzem annahm. Jetzt hat man herausgekriegt, dass diese Faustina zwei Jahre vor seinem Aufenthalt in Rom starb. Nun gut, wir haben wieder ein Geheimnis und wir haben die »Römischen Elegien«.
Der verlassenen von Stein taten sie nicht wohl aber sie hielt sie für schön.
Eckermann übrigens war derjenige, der uns verriet, dass Goethe noch andre Gedichte geschrieben habe, die die Welt unsittlich zu nennen pflegt, gemeint ist »Das Tagebuch«, in dem der Dichter das Scheitern eines intimen Aktes bei einem Dienstmädchen durch plötzliche Impotenz erzählt. Erst durch die Erinnerung an seine Liebste daheim meldet sich Der da, sein Iste und erigiert. Gibt es ein schöneres Liebesgedicht für die Frau, die vier Jahre vorher seine Frau wurde, Christiane Vulpius.
Die »Weimaraner« nennen sie seine Hure, seine dicke Hälfte, die verletzte von Stein sein dummes Verhältnis, die freche Bettina von Arnim, die vom Meister unbedingt ein Kind wollte, damit es ein Halbgott würde, beschimpft sie als eine toll gewordene Blutwurst. Nur für Mutter Goethe ist Christiane ein herrliches, unverdorbenes Gottesgeschöpf. Er bekennt sich zu ihr, die ein Kind von ihm erwartet, das Pfuiteufelchen, wie sie es nennen, bekennt sich zur freien Liebe, eine ungeheure Provokation für Weimar, wo jeder Betuchte Maitressen haben kann, sie aber nicht ins Haus holt. Das lässt ihn sein Carl dann auch bezahlen. Es kostet ihn für drei Jahre das Haus am Frauenplan. Er zieht vor die Tore der Stadt, hält dort mit ihr seine Schlampampstündchen.
Im Sinne der Subordination
Es ist die Zeit der Annäherung an Schiller. Dieser hatte lange um ihn geworben. Was dann draus geworden ist, nennen manche Freundschaft, andere einen Kampf, der beide zum Gipfel der Kunst führt. Der Biograf, Richard Friedenthal, beschreibt das Verhältnis beider so: Es ist kein »Hand in Hand« geworden, eher fast eine Art Waffenstillstand zwischen zwei großen Mächten, die sich aufs höchste respektieren.
In der Zeit, als dann die Kinder auf den Straßen sangen es kommen die Franzosen, um zu prügeln die Großen, war das freilich anders.Der geadelte Goethe, dessen Jahresgehalt sich gut auf das Zehnfache der Jenenser Professoren belief, gehörte zu den Großen, Schiller und Fichte nicht, Herder auch nicht. Ihnen allen war diese Revolution einmal Hoffnung. Goethe treibt sie ihnen aus. Die Mittel sind unterschiedlich. Seinen ehemaligen Lehrer Herder lehrt er jetzt folgendes: Ich nehme jetzt die Grundsätze meines gnädigsten Herrn an, er gibt mir zu essen, es ist daher meine Schuldigkeit, daß ich seiner Meinung bin. So hatte Carl August wieder einmal recht, wenn er meinte: der deutsche Mann ist mit dem Sinne der Subordination geboren.
Goethe als Kultusminister nimmt prompt die erwünschte Einschüchterung der Jenenser Professoren Schiller und Fichte vor. Es geht um die neue Gretchenfrage »Wie hältst Du’s mit der Revolution«, also der Französischen. Goethe hasst und begeifert sie von Anfang an – nachzulesen in ziemlich albernen Possen. Im »Bürgergeneral« und den »Aufgeregten« wird’s den Franzosen so richtig gegeben. Obwohl an der Seite seines Herzogs teilgenommen an der Schlacht von Valmy gegen die Revolution, hat er davon nichts verstanden oder verstehen wollen. Gegen Pressefreiheit und Emanzipation der Juden ist er sowieso.
Und heute? Carl August gehört als milder Landesvater und großzügiger Mäzen wieder zum Hintergrund der Weimarer Klassik. So konnte man guten Gewissens die »Wilhelm-Pieck-Straße« aus DDR-Zeiten wieder in »Carl-August-Straße« umtaufen und die »Goethe-Schiller-Gruft« wieder in »Fürstengruft«. Goethe wäre das sicher recht gewesen.
Ich habe alles aufgenommen, was ich nur hörte und beobachtete. Meine Worte haben sich genährt von Tausenden der verschiedenen Wesen, Toren und Weisen, hellen Köpfen und Narren. Mein Werk ist das eines Kollektivwesens und es trägt den Namen Goethe.
(Abb. - nur in der Printversion -: Goethe-Skulptur an der von der DDR wiederaufgebauten und am 13. Februar 1985 neu eröffneten Semperoper in Dresden)
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