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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Dank an eine Lehrerin zu deren 100. Geburtstag

Gina Pietsch, Berlin

 

Eine Hommage an Gisela May

 

Das war nun der 31. Mai 1924 in Wetzlar, an dem ein DDR-Star geboren wurde. Wir in der DDR hatten nicht viele Stars, solche für die Welt schon gar nicht. Sie war ein Star, für uns und für die Welt. Das hat ihr Können bewirkt, und die Zeit hat es befördert. Ihre Reisen in die große Welt bis in die New Yorker Met, beim Theaterkongreß in Paris, nach Island und Australien, natürlich allen europäischen Ländern fanden eben statt zu Zeiten, in denen man sich für dieses kleine Ländchen DDR interessierte, das Brecht nach dem Ende seines Exils als einziges in der Welt Heimstatt und Arbeitsmöglichkeit gegeben hatte. Brecht also, ein großer Interessenförderer, dem alle, die ihn zu seiner Zeit und danach auf die Bühne brachten, zu danken haben, die May dem Brecht ganz besonders.

Man konnte’s nur anders machen

Bis 1962 gehört sie zum Deutschen Theater, dann wechselt sie ans Berliner Ensemble, das von Helene Weigel geleitet wird. Dreißig Jahre lang, bis 1992, wird sie Mitglied dieses Ensembles bleiben und sagen: Als das BE und ich zusammenstießen, habe ich etliche blaue Flecke abbekommen. Trotz langjähriger Bühnenpraxis mußte ich dort mit dem Lernen fast von vorn beginnen. Das betraf damals für sie ganz neue Spielweisen, die Sprache, die die Fabel nicht illustrieren soll, das Spielen von »Brüchen«, sprich in Kurzform, sehr schnell aus einem Gefühl in ein anderes zu wechseln oder in nüchternen Bericht, Körper­sprache zu beherrschen und groß herauszustellen und und und. Bis sie 1978 erstmals die Rolle spielt, in der sie wohl am bekanntesten wird: die Mutter Courage, vergeht eine Zeit mit massiven Startschwierigkeiten. Das übermächtige Vorbild der Weigel macht ihr das Finden einer eigenen Gestaltung natürlich schwer. Aber nun gilt die Mutter Courage als Höhepunkt ihrer schauspielerischen Entwicklung, und sie spielt sie, solange sie am BE arbeitet. Ihre erste Hauptrolle dort und mir die liebste war die Wirtin des Gasthauses »Zum Kelch«, Frau Kopecka, in Brechts Stück »Schweyk im Zweiten Weltkrieg«. Hanns Eisler, der sie entdeckt hatte, schrieb ihr dafür wunderbare Lieder auf den Leib, und sie sang sie großartig, witzig, verschmitzt, klug, originär. Da ich diese Lieder heute auch alle singe, weiß ich, wie gut sie war. Und leicht lässt sich so mein Stolz erahnen, einige Zeit später ihre Schülerin zu werden. Wie kam das?

Nach Schauspielunterricht, einem Germanistik-, Musik- und Pädagogikstudium hatte ich das Glück, im Jahre 1974 ein Zusatzstudium an der Berliner Hochschule für Musik zu bekommen, wozu – leider nur ein Jahr – Interpretationsunterricht bei Gisela May gehör­te. Sie, damals für mich die größte Brecht-Interpretin, bewirkte, dass meine eigene Beschäftigung mit Brecht durchaus mit Ängsten verbunden war, oder, sagen wir, mit ungeheurem Respekt. Ich hörte oft: Brecht ist so groß und seine Komponisten sind so groß, dass man sich als Interpret völlig zurücknehmen muss. Heute sehe ich das anders und kann mich dabei auf Interpreten wie Ernst Busch beziehen, der am dichtesten bei Brecht und Eisler war, aber durchaus seins hinzugegeben hat, oder auf Ekkehard Schall, den ich am besten kenne. Durch diese beiden bin ich besonders ermutigt worden, und heute sage ich meinen Schülern, es gibt für jeden Song so viele Interpretationsmöglich­keiten wie Menschen, die den Sinn verstehen, das Handwerk beherrschen und sich den Autoren mit Demut nähern. Natürlich fängt das alles mit einer klugen Auswahl an und einer, die die eigenen Fähigkeiten in Rechnung stellt. In der Zeit, als ich die May verehr­te, habe ich ihre Sachen nicht gesungen, um nicht verglichen zu werden. Wenn man die frühen Aufnahmen der May mit den Brecht-Eislerschen »Wiegenliedern für Arbeitermüt­ter« hört, merkt man, dass sie da ›weigelt‹. Nun ja, diese Lieder waren 1930 eben der Weigel auf den Leib geschrieben. Abgesehen von der Hochachtung, die sie damit der Weigel gegenüber äußert, wird klar: Nach dieser unnachahmlichen Brecht-Interpretin kann keine an Helene Weigel vorbei. Jetzt schließe ich mich mal eitlerweise ein und sage: Sie war unerreichbar. Man konnte’s nie besser, nur anders machen. Ich habe zunächst also lieber die Songs gesungen, die ich von Ernst Busch kannte und mich so auch getraut, Leidenschaft in meine Interpretation zu bringen.

Was mir an ihr gefällt: Dass sie sagt: Für mich besteht die Hauptaufgabe des Schauspie­lers darin, den Zuschauern von der Bühne her zu Erkenntnissen über seine Umwelt zu verhelfen und dabei ihren Verstand und ihr Gefühl gleichermaßen anzusprechen und ihnen das Vergnügen am Denken, am Weiterdenken zu vermitteln. Heute leider sehr unmoderne Worte. Für mich freilich ermutigende.

Übrigens – kein Schauspieler fängt so an, sie, wie alle anderen, hat als erstes angetrie­ben der unbezähmbare Drang, andere Menschen nachzuahmen, wie die Klassenclowns eben. Das wird freilich erst mal gebraucht, reicht aber nicht, denn sie will einen Beruf ergreifen, in dem man Produzierender, Handwerkszeug und Produkt in einem ist. Das begann im Elternhaus. Die Mutter, Käte May, ist Schauspielerin und Kommunistin. Fer­dinand May, der Vater, Schriftsteller, Sozialdemokrat und Kriegsgegner, nach 1945 Kabarett-Chef, später Chefdramaturg der Leipziger Bühnen. Eine umfassende musische Bildung mit Klavierunterricht scheint selbstverständlich. Ihren Klavierlehrer Alfred Schmidt-Sas hat sie nicht lange. Er wird später in Plötzensee hingerichtet.

Von 1940 bis 1942 an der Theaterschule in Leipzig wird das Lernen zielgerichteter auf ihren von den Eltern unterstützten Berufswunsch. Sie hat das Glück, bei wichtigen Leh­rern und bewunderten Kollegen zu lernen, genannt seien mindestens die große Max Reinhardt-Schauspielerin Lucie Höflich. Das war in Schwerin, ihrer fünften Theaterstation 1947 nach Dresden, Danzig, Görlitz, und Leipzig. 1951 holt sie Wolfgang Langhoff nach Berlin, ans Deutsche Theater, an dem sie 11 Jahre spielt, von ihm mit den unterschied­lichsten Rollen beauftragt und mit ihm als Bürgen angeregt, Mitglied der SED zu werden.

Große Anreger und anhaltende Lerneffekte

Als Schauspielerin hat sie niemand »entdeckt«, als Sängerin ausgerechnet Eisler. Die Legende geht so: Sie ist in einen Brecht-Weill-Abend eingesprungen, Eisler hört sie und rät ihr, weiter zu singen. Beneidenswert, solch einen Anreger zu bekommen. Bei ihr, Gisela May selber, hatte ich im Unterricht neben vielem Anderen etwas für die Bühne Wichtiges gelernt – Konsequenz. Die Geschichte hat was Kurioses. Ich arbeitete bei ihr ein Lied, das ich heute noch singe, Franz Josef Degenhardts große »Ballade vom Bau­ernführer Joss Fritz oder Legende von der revolutionären Geduld und Zähigkeit und vom richtigen Zeitpunkt«. Joss Fritz wird hier geschildert als der Musterkonspirateur des Bauernkriegs, wie Engels ihn nennt, der selbst seine Sinnlichkeit einsetzt für die Kämp­fe gegen die Fürsten. Er nutzt die schönen Bundschuhfeste zum Agitieren, verkneift sich aber auch nicht, beim Tanz den Mädels an die »Punze« zu fassen. So der alt­deutsch ausgeschmückte Text. Mir war das Wort irgendwie peinlich und ich verschluck­te es deshalb fast beim Singen. Das ließ die May nicht durchgehen. Also, wenn Sie schon solche Wörter in den Mund nehmen, dann bitte richtig. Und wie recht sie hatte. Ich erinnere mich oft an diese Kritik, wenn ich unterrichte, 20 Jahre an der Busch, an der Filmuniversität Babelsberg und immer noch als Leiterin von Chansonkursen an der Volkshochschule Berlin-Lichtenberg. Hier lerne ich selber weiter. Das Lernen hört ja nicht auf, wenn man daran interessiert ist.

Auch mein Lernen bei der May hörte nicht auf nach diesem bloß einem Jahr und hörte auch nicht auf, nachdem diese Westintendanz nach dem Fall der Mauer sie nach 30 Jahren Zugehörigkeit zum Berliner Ensemble auf unverschämte Weise einfach entlassen hatte. Sie macht weiter im Fernsehen als Mutter von Evelyn Hamann in der Serie »Adel­heid und ihre Mörder«, womit ich wenig anfangen konnte. Am 2. Dezember 2016 starb Gisela May 92-jährig in Berlin. Ich bin trotzdem sicher, dass ihr immenses Arbeitspen­sum zu DDR-Zeiten, an Theatern, ihre Auftritte als Chanson- und Songinterpretin und kabarettistische Abende mit Alfred Müller, ihre 25 Schallplattenproduktionen und 30 Fernsehproduktionen, ihre Kinofilme, all diese Riesenleistungen nicht vergessen wer­den können, für mich jedenfalls erzeugten sie neue Lerneffekte. Ich habe keine ihrer Rollen und keine ihrer Konzerte, keine ihrer Schallplatten verpasst. Ich kenne jede ihrer Nuancen und kann sie heute hören ohne Angst vor Plagiat. Früher hab ich meine gro­ßen Lehrer manchmal als Last empfunden, weil, man nabelt sich schwer von ihnen ab. Heute ist es nur noch Glück, das ich empfinde. Danke Gisela. 

 

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