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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Der zornige alte Mann

Horsta Krum, Berlin

 

Mit 93 Jahren hat der Franzose Stéphane Hessel vor kurzem eine kleine Broschüre veröffentlicht mit dem Titel "Empört Euch" (Indignez-vous). Dieser "Franzose" ist 1917 in Berlin geboren. Seine Eltern (der Vater ist Jude) lassen sich 1924 in Paris nieder; 1937 erhält Stéphane die französische Staatsbürgerschaft. 1941 schließt er sich de Gaulle in London an, kehrt später heimlich nach Frankreich zurück, um die Landung der Alliierten mit vorzubereiten. Im Juli 1944 verhaftet ihn die Gestapo. Er überlebt Buchenwald und Dora, weil er perfekt zweisprachig ist und weil er dann, am Abend vor der Vollstreckung des Todesurteils, seine Identität mit der eines an Typhus verstorbenen Kameraden vertauscht.

Ab 1946 gehört er zur französischen Delegation bei den Vereinten Nationen und ist an der Erklärung der Menschenrechte beteiligt.

Zeit seines Lebens bleibt Hessel dem Programm treu, das der Nationalrat des Freien Frankreich unter Leitung von Jean Moulin ausgearbeitet hat. Dieses Programm sieht eine umfassende soziale Sicherheit für alle vor, die Verstaatlichung der Energieträger und -produzenten, der großen Banken und Versicherungen. Die gerechte Aufteilung der Reichtümer, die die arbeitenden Menschen schaffen, soll Vorrang haben vor der Macht des Geldes. Das Wohl einzelner ist dem Allgemeinwohl unterzuordnen. Für die Presse fordert die Résistance "Unabhängigkeit vom Staat, von der Macht des Geldes und ausländischen Einflüssen" und beruft sich auf ethische Grundsätze und Freiheit der Presse.

"Die ganze Grundlage der Errungenschaften der Résistance ist heute in Frage gestellt", beispielsweise wird gesagt, der Staat könne die von der Résistance erkämpften Bürgerrechte nicht mehr finanzieren. "Aber wie kann es heute an Geld fehlen, um diese Errungenschaften aufrechtzuerhalten und weiterzuführen, wo doch die Produktion von Reichtümern enorm gestiegen ist seit der Befreiung ...? Doch nur deshalb, weil die Macht des Geldes, die die Résistance so sehr bekämpft hat, nie so groß gewesen ist wie heute, nie so frech und egoistisch aufgetreten ist, und das in Gestalt ihrer eigenen Diener bis in die höchsten Ebenen des Staates. Die inzwischen privatisierten Banken sorgen sich zuallererst um ihre Dividenden und um die hohen Gehälter ihrer leitenden Mitarbeiter, nicht aber um das Allgemeinwohl. Noch nie war die Kluft zwischen den Ärmsten und den Reichsten so groß, und noch nie wurden wir so sehr zum Konkurrenzkampf und zur Jagd nach Geld angestachelt."

Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, die Intellektuellen und die Gesellschaft als Ganze ruft er auf, "sich nicht beeindrucken zu lassen von der gegenwärtigen internationalen Diktatur der Finanzmärkte, die Frieden und Demokratie bedrohen".

Stéphane Hessel bezeichnet sich als "glühenden Schüler" von Hegel. Allerdings: die historische Tat, die Hegel vom Kopf auf die Füße stellt, negiert er – leider! Sonst hätte er wohl "die Entkolonialisierung, das Ende der Apartheid, den Zerfall des sowjetischen Imperiums, den Fall der Berliner Mauer" nicht gleichermaßen als "wichtige Fortschritte seit 1948" gewertet, um dann, etwas betroffen, Rückschritte während des ersten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert festzustellen, die er George Bush anlastet, dem 11. September 2001 und "den katastrophalen Konsequenzen", die die USA daraus gezogen haben.

Meist reiht Hessel Phänomene aneinander und ruft dann, etwas irrational, zur Hoffnung für das eben begonnene Jahrzehnt auf, zum Beispiel daß Obama und die Europäische Union "sich auf fundamentale Werte stützen" und zu einer "konstruktiven Phase" kommen. "Man muß hoffen, man darf die Hoffnung nicht aufgeben." Afghanistan erwähnt er gar nicht – wohl aber geht er behutsamer als die marktbeherrschenden Medien mit dem Begriff "Terrorismus" um und lehnt Krieg als Mittel zur Konfliktlösung ab.

Der Wert dieser kleinen Schrift liegt sicherlich in der Art, wie jemand, der eine hohe Autorität genießt, die deprimierende Entwicklung in allen Bereichen öffentlichen Lebens beim Namen nennt, Proteste, Streiks unterstützt. "Unser Zorn gegen Unrecht ist immer noch intakt."

Wie kommt es, daß Hessel eine so große Aufmerksamkeit findet?

Durch die Geschichte Frankreichs ziehen sich Protestbewegungen wie ein roter Faden: Katharer, die "Armen von Lyon" (Waldenser), Protestanten (Hugenotten), Französische Revolution, Résistance u.a.

Aber Frankreich ist nicht Deutschland.

Alle hier verwendeten Zitate wurden von der Rezensentin aus dem Französischen übersetzt. Die im Oktober 2010 erschienenen Streitschrift "Indignez-vous!" kommt unter dem Titel "Empört euch!" ab Mitte Februar 2011 im Ullstein-Verlag auf Deutsch heraus, und sie kann bereits jetzt im Buchhandel bestellt werden.

 

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