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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Zwanzig Jahre danach

Horsta Krum, Lyon (Frankreich)

 

Was auf allen Fernsehkanälen und auch im Kino läuft, was in den großen, vielgelesenen Zeitungen gedruckt wird, was, von der Werbetrommel begleitet, auf dem Buchmarkt erscheint, hat zum Ziel, die DDR zu diffamieren und das neue, wieder groß gewordene Deutschland unangreifbar zu machen. Wir beobachten diesen Prozeß seit Jahren; und jetzt, wo wir uns im zwanzigsten Jubeljahr des 9. November 1989 befinden und auf das Jubeljahr des 3. Oktober 1990 zugehen, kommen Veröffentlichungen und öffentliche Veranstaltungen wie eine Dampfwalze daher, die alles Anders-Lautende platt machen will. Die Dampfwalze rollt sogar bis in beliebte Krimiserien!

Aber sie kann nicht alles plattmachen. Da gibt es beispielsweise das im Mai dieses Jahres erschienene Buch von Daniela Dahn "Wehe dem Sieger!" oder auch andere Bücher. Da gibt es kleinere Printmedien und Veranstaltungen ... – und da gab es am 12. Juni dieses Jahres an einer der Lyoner Universitäten einen Studientag zum Thema "Leben in Ost-Deutschland zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer". Eingeladen hatte Anne-Marie Pailhès (Paris); teilgenommen haben Deutsche, die seit längerer Zeit in Frankreich leben, und "richtige" Franzosen, unter anderem Studierende.

Referiert haben Franzosen und Deutsche, so der Wirtschaftswissenschaftler Jörg Roesler (Berlin). In Ostdeutschland schrumpften die wirtschaftlichen Aktivitäten nach 1989 genauso stark wie im Dreißigjährigen Krieg, nämlich auf etwa ein Drittel, hieß eine seiner Feststellungen, die er an vielen Beispielen belegte.

Wolfgang Weiß (Greifswald) stellte die demographische Entwicklung vor, wobei mich eine Einzelheit besonders erstaunt hat: deutlich mehr junge Frauen als junge Männer verlassen Ostdeutschland – ein weltweit einmaliges Phänomen – so daß in machen Regionen Ost-Deutschlands ein Männerüberschuß bis zu einem Drittel besteht. [Ein Vergleich: Einige afrikanische Länder erleiden seit kurzem einen Verlust an jungen, oft ganz jungen Frauen und Mädchen, die an Aids sterben. Ihre Zahl übersteigt die der an Aids sterbenden jungen Männer. – H.K.] Als möglichen Grund dieser statistischen Feststellung gab der Autor an, daß die Mütter und Großmütter der jetzigen jungen Frauen-Generation ein starkes Selbstbewußtsein vermittelt und den Wunsch nach Gleichstellung und Unabhängigkeit geweckt haben. Allerdings ist die Tragweite dieser Entwicklung noch nicht wirklich untersucht.

Von den französischen Beiträgen sei der von Elisa Goudin genannt: "Ist die Breitenkultur der ehemaligen DDR in der westdeutschen Soziokultur aufgegangen?" Die Autorin suchte in offiziellen Kultur-Statistiken und -Analysen, die seit etwa 2004 erschienen sind, und fand keine Angaben, die auf Theorie und Praxis der DDR-Kultur schließen lassen, "so als hätte es in der DDR keine eigenständige Kultur gegeben". Als sie dann vor Ort nachforschte, stellte sie einen wichtigen Unterschied von heute fest: ostdeutsche Kommunen und Länder geben deutlich mehr Geld aus für Kinder- und Jugendkultur, auch noch im Jahre 2007/08.

Der Beitrag von Elisa Goudin ist, abgesehen von den Forschungsergebnissen, auch insofern bemerkenswert, als die Autorin die DDR nicht aus eigener Erfahrung kennt.

Die meisten Forschungsergebnisse, die in Lyon vorgetragen wurden, sind den Leserinnen und Lesern der "Mitteilungen" höchstwahrscheinlich bekannt; deswegen will dieser kurze Bericht über den Lyoner Studientag keine umfassende Darstellung sein. Dann müßten beispielsweise der Vortrag von Daniela Dahn, ihre Einwürfe, konkreten Ergänzungen usw. gerechterweise einen großen Raum einnehmen. Ausgehend von ihren Beiträgen diskutierten die Anwesenden zum Beispiel über die These "Ohne Arbeit keine Freiheit" oder die Frage "Wieviel Unrecht braucht es, damit ein Staat ‚Unrechtsstaat’ genannt werden kann?"

Dieser kurze Bericht will zeigen, daß es in Frankreich (und auch hoffentlich anderswo) Bemühungen gibt, der DDR und ihrem Erbe gerecht zu werden. Und sicherlich ist und bleibt diese Veranstaltung nicht die einzige in Frankreich. Sie ist ein Beitrag zu einer gerechten Geschichtsschreibung.

 

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