Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

LTI: Sprache der Macht – Macht der Sprache

Horsta Krum, Lyon

 

Zum 50. Todestag von Victor Klemperer (1881-1960) am 11. Februar 2010

 

Sprache faszinierte ihn, Sprache war sein Beruf – nicht die gesprochene Sprache, sondern vor allem die literarische und philosophische Sprache Frankreichs des 18. Jahrhunderts. Die vermittelte er seinen Studenten in Dresden und seinen Lesern. Und natürlich vermittelte er auch deren Inhalte, denn Sprache ist ja ein Gefäß mit Inhalten, Sprache ist ein Vehikel, das Inhalte transportiert. Lesen, Schreiben, Vorlesungen an der Technischen Universität – das waren seine täglichen Arbeiten.

Sein Interesse beschränkte sich nicht auf das 18. Jahrhundert. Er las leidenschaftlich gern, und zwar alles, was seine Kenntnisse erweiterte und seine Empfindungen berührte. In seinen Tagebüchern taucht immer wieder das Wort vorlesen auf. Zum Beispiel: Nachdem wir uns in achtzig Tagen durch den sehr bedeutenden und sehr ungleichmäßigen Vierbänder "Krieg und Frieden" durchgearbeitet hatten, las ich in kurzer Zeit den Inflationsroman von Fallada vor: "Wolf unter Wölfen."

"Judenhäuser"

Das Vorlesen gehört zum Alltag des Ehepaares Victor und Eva Klemperer, bedeutet jedesmal das Besondere im Alltäglichen, und die beiden schöpfen Kraft aus dem Vorlesen und den Gesprächen, die sich daraus ergeben.

Die Gesetze der Nazis und dann auch der Krieg schränken nach und nach seine Tätigkeit ein. Victor Klemperer ist Jude. Nach den Gesetzen der Nazis gilt er als "Vierteljude" und seine Frau ist "Arierin"; Victor Klemperer wird also nicht deportiert, aber die antisemitischen Gesetze treffen ihn ebenso.

Die Zahl der Studenten, die seine Lehrveranstaltungen besuchen, nimmt im Laufe der dreißiger Jahre immer weiter ab. Dazu braucht es noch kein Gesetz, die antisemitische Propaganda reicht aus. Schließlich darf er auch offiziell keine Lehrveranstaltungen mehr durchführen und nicht mehr publizieren. Das Geld wird immer knapper; das tägliche Rechnen um den Pfennig zermürbt. Aber er schreibt weiter, liest weiter; und das Vorlesen ist mehr denn je eine Kraftquelle für die Klemperers.

Neben dem Vorlesen gibt es noch eine andere Kraftquelle für das Ehepaar Klemperer: Kleinere Autofahrten in die Umgebung oder auch einmal eine Fahrt nach Berlin lassen sie die täglichen Sorgen und die Angst vor der Zukunft für ein paar Stunden vergessen. Deswegen nehmen sie die Mühe und die Kosten auf sich, ihr altes Auto fahrbereit zu erhalten.

Nach dem Autofahrverbot folgt das Bibliotheksverbot.

Am 3. Dezember 1938 notiert Klemperer: Gestern nachmittag auf der Bibliothek der Ausleihbeamte zeigte ... mir jetzt (nach dem Verbot des Lesesaales ein Jahr zuvor) das gänzliche Verbot der Bibliothek, also die absolute Mattsetzung an.

Dieses Verbot schränkt zunächst vor allem die wissenschaftliche Arbeit von Klemperer ein, nicht das Vorlesen. Unter der Einschränkung des Vorlesens leidet er, leiden beide ab Ende Mai 1940 in zunehmendem Maße: So müssen sie ihr Haus verlassen und erhalten zwei Zimmer in einem der "Judenhäuser" von Dresden, gelegen in der Caspar-David-Friedrich-Straße. Es ist eine hübsche Villa, zu eng, gepfropft voll mit Leuten, die alle das gleiche Schicksal haben. Klemperer trennt sich nicht nur von Möbeln und Hausrat, sondern – schmerzlich genug - auch von Büchern und Zeitschriften. Die furchtbare Enge, das Chaos, die erschwerte Hausarbeit die weiten Einkaufswege, die ständige Verpflichtung, mit den anderen Bewohnern zu kommunizieren. Am 6. Juni 1940 schreibt Klemperer verzweifelt in sein Tagebuch: Keine Sammlung, wenige Zeilen, kein Vorlesen oder Für-mich-Lesen. Immer im Nichtigen beschäftigt, jeden Tag das gleiche Elend, die gleichen Gespräche – dabei ungeheure Siege Deutschlands bei rasender Triumphsprache. Jeder Tag qualvoll.

Am 23. Juni 1941 wird Klemperer für eine Woche inhaftiert, weil er einmal das Verdunklungsgesetz nicht beachtet hat. Die Haftbedingungen sind verhältnismäßig erträglich, da das Gefängnis nicht der Gestapo, sondern "nur" der Polizei untersteht. Aber Klemperer leidet vor allem darunter, daß ihm Brille und Bücher abgenommen wurden.

Seit die beiden Klemperers im "Judenhaus" wohnen, haben sie weniger Kontakt mit Nicht-Juden. Diese kommen nicht, und Klemperers machen kaum Besuche, um ihre (ehemaligen) Freunde nicht zu kompromittieren. Auch Theater- und Kinobesuche sind inzwischen unmöglich geworden. Zu dem Verbot der Omnibusse kommt im März 1942 das Verbot der Straßenbahnen, das Benutzen bestimmter Straßen und Plätze.

Beider Gesundheit ist instabil. Victor hat ein Augenleiden und chronische Herzbeschwerden (Angina pectoris). Ärztliche und medikamentöse Behandlung ist möglich, aber für ihn schwieriger als für sie.

Ich muß zum Arzt. Aber zu wem mit meinem Stern? Der Jude Katz soll unmöglich sein, ein Arier kann mich abweisen oder aus Mitleid annehmen. (6. März 1942)

Wie die Mehrzahl der Deutschen leiden auch Eva und Victor zunehmend unter Hunger, Kälte, Mangel an Kleidung; aber für Juden ist alles, was man zum täglichen Leben braucht, noch viel knapper bemessen als für Nicht-Juden. Fisch beispielsweise ist in jüdischen Haushalten verboten. Wird er bei einer Haussuchung gefunden, so kann das für den Betroffenen Konzentrationslager bedeuten, für ihn und vielleicht sogar für andere Familienmitglieder. Eva, der als "Arierin" mehr Lebensmittel, Kohlen, Kleidung usw. zugeteilt werden, gibt ab, nicht nur ihrem Mann, sondern auch anderen Bewohnern des "Judenhauses". Aber die Lage wird immer verzweifelter. Am 16. März 1942 trägt Klemperer in sein Tagebuch ein: Die Eßnot wird immer qualvoller. Ich benasche das besser versehene Kätchen Sara (sie ißt weniger und erhält vieles von ihrer Mutter), wo etwas offen und angebrochen herumsteht. Ein Löffel Honig, ein Löffel Marmelade, ein Stückchen Zucker oder Brot. Gestern stand ein angeschnittenes dickes Würstchen auf dem Tisch. Ich säbelte einen winzigen Brocken herunter. Bald danach hörte ich, wie Eva (den Kater) aus der Küche vertrieb: Auch er hatte von dem Würstchen stehlen wollen... Und ein paar Tage später: Ich bewahre mein jämmerliches Geheimnis auch vor Eva, die meist mit schmerzendem Fuß, schwerbeladen und doch ergebnislos, gegen zwei Uhr vom Einkaufsweg zurückkommt.

Und etwas später: jetzt ist Eva zeitweilig am Ende ihrer Nerven. Das ergebnislose Herumjagen nach Lebensmitteln zerstört sie geradezu... Der erste Tag wahrhaft grausamen Hungers. Ein winziger Rest Kartoffeln, so schwarz und stinkend, daß er den Magen umdreht, ein winziger Rest Brot. Auch für Eva nichts aufzutreiben, da ihr Marken fehlen.

Noch zweimal (September 1942 und Dezember 1943) müssen die Klemperers in andere "Judenhäuser" umziehen und sich mit schlechteren Wohnbedingungen abfinden.

Am 14. Februar 1942 wird Victor Klemperer zum ersten Mal zu einer Arbeit verpflichtet: 20 Tage lang muß er Schnee räumen, normalerweise zehn Sunden am Tag, zuzüglich je eine Stunde An- und Rückmarsch. ... viel Anstrengung, Kälte und Hunger. Ich hatte mich sehr auf den halben Sonnabend und den ganzen Sonntag gefreut. Müdigkeit zerschlägt Pläne und Stimmung. (22. Februar 1942) Diese Arbeit im Freien, bei Minus-Temperaturen bis 16 Grad und eisigem Wind, verschlimmert Klemperers Herzleiden.

Angst, Solidarität, und Hoffnung

Aus Furcht vor Haussuchungen, die in den "Judenhäusern" gang und gäbe sind, versteckt Eva ab Ende 1941die Manuskripte ihres Mannes bei einer Freundin, und Victor schreibt, wenn überhaupt, unter Angst.

Seit April 1943 wird er zu Zwangsarbeit in Fabriken herangezogen. Nach über vierzehn Monaten notiert er am 24. Juni 1944: Nun hat die Fabrikarbeit, die mich ein Stück Gesundheit und soviel vergeudete Zeit gekostet hat, wirklich ein Ende. Noch bin ich zu müde, um mich wirklich zu freuen ... Ob mich Katz (der Arzt) wirklich für einen Todeskandidaten hält, oder ob er wirkliche Freundschaft und besondere Verehrung für mich hegt? Wenn ich freilich gegen weiteren Sklavendienst die Gesundheit meiner Augen eintauschen könnte, ich würde diesen Tausch sofort machen.

Klemperer leidet unter den Aggressionen und Demütigungen des Antisemitismus, nicht nur des Antisemitismus, wie er in Zeitungen steht und aus den Lautsprechern tönt, sondern mehr noch leidet er unter dem, was er persönlich erlebt: daß Menschen vor ihm ausspucken, ihm den Tod wünschen, daß er Schikanen und Mißhandlungen rechtlos ausgeliefert ist. Aber er erlebt auch, daß Nicht-Juden ihm Mut zusprechen, ihm bei der Arbeit helfen, ihm etwas zu essen geben usw. Ohne eine eindeutige Antwort zu finden, fragt er sich immer wieder und diskutiert mit anderen, wie tief der Antisemitismus bei den deutschen Nicht-Juden verwurzelt ist.

Und dann die Angst, die ständige Angst, die zunächst um den Verlust materieller Güter kreist, die nach 1933 ständig wächst und zur Todesangst wird. Eine harmlose Bemerkung am Arbeitsplatz, die Nichtbeachtung des Ausgehverbotes, auch nur um eine Viertelstunde, die nur teilweise Verdeckung des gelben Sterns durch einen Schal usw., das und noch viel mehr genügt, um "abgeholt" zu werden, um ins KZ zu kommen. Klemperer erlebt, wie um ihn herum immer mehr Menschen, vor allem Juden, verschwinden, wie die Angehörigen in Angst, Panik oder stumpfer Trauer zurückbleiben.

Nach der Nacht des 13. Februar, der schrecklichen Bombennacht auf Dresden, entfernt Eva den Stern vom Mantel ihres Mannes. Entkräftet und in Panik, fliehen sie aus Dresden, finden sich mit anderen Flüchtenden zusammen, in Eisenbahnwaggons, auf Landstraßen, in Notunterkünften. Zwischendurch nehmen Freunde auf dem Lande sie auf, die manchmal gar nicht wissen, in welche Gefahr sie sich damit begeben, in welcher Gefahr vor allem Victor und Eva schweben, denn die Gestapo ist immer noch da, jagt und ermordet desertierte Soldaten, unbotmäßige Zivilisten und vor allem Juden. Eva wägt die Risiken ab und macht schließlich aus ihnen das arische Ehepaar Kleinpeter. Victor, zwischen Hoffnung, Verzweiflung und Todesangst hin- und hergerissen, hat sich schon lange der Initiative Evas anvertraut. In bayerischen Dörfern finden sie Aufnahme oder stoßen manchmal auf feindliche Zurückweisung, bis Klemperer schließlich, aufatmend, am 28. April 1945 notiert: Auch hat – unglaublichste Sache, aber wahre! – der Bürgermeister das über dem Wappen im Giebel des Amtshauses angebrachte Hakenkreuz entfernen lassen! Diese Notiz steht in Klammern, so als könnte er’s noch gar nicht recht glauben. Und so schreibt er denn auch erst am nächsten Tag: Für hier ist der Krieg fraglos vorüber. "Für hier", auch das ist tastend, vorsichtig formuliert, denn jahrelang schwankte er zwischen Hoffnung auf Ende des Krieges und Verzweiflung. Aber dann, am 3 Mai stellt er fest: der Krieg lag hinter uns, während wir ihn noch vor uns glaubten.

Macht, Sprache und Bewußtsein

Er hat die zwölf Jahre Nazi-Herrschaft überlebt. Davon waren die viereinhalb Jahre als "Sternträger" Victor Israel Klemperer besonders schwer. Daß er überlebt hat, verdankt er weitgehend seiner Frau Eva – und das verdankt er seiner Arbeit an der LTI, der LINGUA TERTII IMPERII, der Sprache des Dritten Reiches. Oft war es gar keine Arbeit im gewohnten Sinn, sondern nur ein bewußtes Hinhören, eine Notiz auf einem kleinen, rar gewordenen Stück Papier.

Zuerst hat ihn diese Sprache so angewidert, daß er weghörte und die Zeitungsartikel schnell aus der Hand legte. Aber dann erwachte sein Interesse als Wissenschaftler: er hörte hin, er las, er notierte, er analysierte einzelne Wörter, Ausdrücke, Satzteile und Sätze. Und wenn er zu müde, zu kraftlos zur eigentlichen Arbeit war, schrieb er nur auf mit der Bemerkung: für LTI prüfen.

Dieser Name entstand als parodierende Spielerei zuerst, ... für all die Elendsjahre eine Notwehr, als ein an mich selbst gerichteter SOS-Notwurf... ein schön gelehrtes Signum, wie ja das Dritte Reich von Zeit zu Zeit den volltönenden Fremdausdruck liebte.

Er vergleicht die LTI mit einer Balancierstange, ohne die er in den tödlichen Abgrund der Verzweiflung, der physischen und psychischen Schwäche gestürzt wäre und die ihm half, seine innere Freiheit zu bewahren.

Als Grundeigenschaft der LTI notiert Klemperer die Armut, sie ist bettelarm sowohl im Inhaltlichen wie auch in der Form. An Inhalten verbreitet sie die Größe und Stärke Deutschlands und die Minderwertigkeit alles dessen, was nicht deutsch ist. Auch die deutschen Juden, ungeachtet der Verdienste, die sie auf wissenschaftlichem, auf militärischem usw. Gebiet erwarben, gelten als nicht-deutsch. "Jüdisch" ist keine Religionszugehörigkeit mehr, sondern wird als Rasse definiert. Für alle Juden, für viele Ausländer, besonders für Slawen, gebraucht die LTI immer wieder den Ausdruck Untermenschen; den gab es zwar schon vorher, aber er wurde selten gebraucht. Auch in der Form ist die LTI arm und eintönig, eintönig im wörtlichen Sinne: der eine Ton, in dem Goebbels oder andere sie vortrugen, war marktschreierisch, aufpeitschend, aggressive Anrede; zwischen gesprochener und geschriebener Sprache bestand kein Unterschied. Nicht belegbare Behauptungen, Halbwahrheiten, Unwahrheiten werden ständig wiederholt, in kurzen Sätzen gehämmert. [Das Wort "Unrechtsstaat" ist durch regelmäßigen, fast mechanischen Sprachgebrauch in den herrschenden Medien immer deutlicher zum Beiwort für die DDR geworden; das wird sich bis zum 3. Oktober noch verstärken.]

Der knappe Stil der LTI soll Solidität, Klarheit, Zuverlässigkeit vermitteln, Vertrauen schaffen und Fragen und Zweifel gar nicht erst aufkommen lassen. Daran erinnerte mich eine Anzeige, die für die Offizierskarriere bei der Bundeswehr wirbt: entschieden gut – gut entschieden, ein raffiniertes, kurzes Wortspiel, das von der allgemeinen, objektiv klingenden Aussage, daß die Bundeswehr gut sei, sogar entschieden gut (wer hat das eigentlich entschieden?) ohne Umschweife zum einzelnen jungen Menschen gelangt, der sich als Individuum bereits für die Bundeswehr entschieden hat, und das sei eine gute Entscheidung. Hier wird mit den beiden positiv besetzen Wörtern gut und entschieden gespielt, und der symmetrische Aufbau zu beiden Seiten des Bindestrichs verstärkt den Eindruck von Solidität, Zuverlässigkeit, Fraglosigkeit.

Ein Grund für den Erfolg der einst westdeutschen und nun groß-deutschen BILD-Zeitung ist sicherlich in der LTI zu suchen: Wir sind Papst hieß es zur Wahl von Ratzinger. Alle wissen, daß das nicht stimmt; trotzdem wurde auch diese Ausgabe der Zeitung gekauft und hat das Selbstbewußtsein vieler Deutscher gehoben. Das taten ja auch andere Medien, wenn auch nicht auf so plumpe Weise.

Häufige Superlative sind ein weiteres Merkmal der LTI, Superlative in ihrer grammatischen Form wie Völkischer Beobachter baut größtes Verlagshaus der Welt oder die größte Schlacht aller Zeiten; oder Superlative die sich in Zahlen ausdrücken wie Tausendjähriges Reich, oder in Wörtern wie total, zahllos, unvorstellbar ... oder der Gebrauch des Wortes Welt (die Welt hört auf den Führer) Zum Thema "Superlativ" finden sich auch in der BILD-Zeitung immer wieder Beispiele. Wir sind Papst könnte ebenfalls der Rubrik "Superlative" zugeordnet werden.

Übrigens benutzt auch die moderne Werbung reichlich Superlative, zum Beispiel Redefreiheit ohne Grenzen für ein Mobil-Telefon. Gleich zweimal sollen wir uns über unsere Freiheit freuen: das sagt uns das Wort Freiheit und dann noch einmal ohne Grenzen. Und die Ossis sollen natürlich auch für die Reisefreiheit dankbar sein und für die Freiheit überhaupt.

Weiterhin stellt Klemperer religiöse Züge der LTI fest, sowohl in ihrer Anfangsphase, als die Nazis noch eine gewisse Rücksicht auf die Kirchen nahmen, und in der Endphase, als viele Deutsche, auch überzeugte Nazis, zweifelten und verzweifelt waren. Von der neuen Wunderwaffe war die Rede, vom deutschen Wunder der Kriegführung, und Hitler selbst sprach vom lieben Gott als Person. Die Bildzeitung vom 24. Dezember 2009 erwähnt zwar nicht den lieben Gott, macht aber auf mit Heute gibt’s nur gute Nachrichten – wobei (wie Christen wissen) "Gute Nachricht" die wörtliche Übersetzung von "Evangelium" ist; und moderne Bibelübersetzungen tragen manchmal den Titel "Gute Nachricht". Wie einst die fromm gewordenen Nazis, redet die Bild-Zeitung auch vom Wunder: Experte sagt Job-Wunder für 2010 voraus. Und damit die ständige Sehnsucht nach Deutschlands Größe auch 2010 Nahrung bekommt, gibt es noch eine gute Nachricht: Schumi plant 3 Jahre Formel 1 bei Mercedes. Und, wie damals, fehlt der Krieg auch heute nicht, von ihm handelt sogar die erste gute Nachricht: Afghanistan-Soldaten grüßen in BILD ihre Familien.

Klemperer stellte fest, daß sich die Menschen damals die LTI nicht so sehr über bewußtes Denken und Fühlen angeeignet haben, sondern daß sie die LTI unbewußt und mechanisch übernahmen (auch Juden, und das tat ihm besonders weh) und daß die LTI deshalb noch lange lebendig sein werde. Ein Beispiel aus den 80er Jahren ist mir noch gegenwärtig. Damals war ich in leitender Position innerhalb der evangelischen Kirche in Berlin West. Ein Gespräch mit Verantwortlichen der jüdischen Gemeinde stand auf dem Programm. Das Gespräch verlief auf beiden Seiten freundlich; dann sagte ein Amtsträger der ev. Kirche etwas, das ebenfalls freundlich gemeint war, etwa, daß es doch in dieser Stadt heutzutage zwischen Juden und Deutschen keine Schwierigkeiten mehr gäbe. Darauf meldete sich einer unserer Gesprächspartner: "Aber, wir sind doch auch Deutsche." Ich seh ihn noch vor mir, den kleinen, unscheinbaren Mann, den ältesten von uns allen. Ich schämte mich, und ich mußte an Klemperer denken. Wie recht er doch hatte, auch 40 Jahre nach dem offiziellen Ende der Nazizeit. Wie sehr er doch bis heute recht behalten hat!

Klemperers Erkenntnis, daß sich die LTI vor allem über das Unbewußte festgesetzt hat, ist längst Allgemeingut geworden, beispielsweise in der NLP, der neuro-linguistischen Programmierung, in der humanistischen Hypnose nach Erickson. Werbefachleute machen sich diese Erkenntnis zunutze (Sie sind erst dann ein guter Verkäufer, wenn Sie einem Eskimo einen Kühlschrank verkaufen), ebenso Journalisten (siehe BILD-Zeitung, Leseempfehlung: Die verlorene Ehre der Katharina Blum von Heinrich Böll), und in therapeutischen Berufen kann sie lebenserhaltend sein.

*

Regelmäßig notiert Klemperer Witze, die erzählt werden. Er notiert sie, wohl wissend, daß es ihn das Leben kosten kann. Einer der Witze, die er unter dem Datum des 9. Mai 1944 festhält, sagt etwas aus über die Macht der Sprache des Dritten Reiches: Caesar, Friedrich der Große und Napoleon im olympischen Gespräch; Caesar: Wenn ich die Tanks gehabt hätte, ganz Germanien hätte ich erobert! Fridericus: wenn ich die Flieger gehabt hätte, ganz Europa hätte ich erobert! Napoleon: Wenn ich Goebbels gehabt hätte, man wüßte heute noch nicht, daß ich die Schlacht bei Leipzig verloren habe!

Victor Klemperer: LTI, Leipzig, 1975 (erschienen 1947). – Victor Klemperer: Tagebücher

1933 bis 1945, 8 Bände, Aufbau-Verlag Berlin 1998, herausgegeben von Walter Nowojski.

 

Mehr von Horsta Krum in den »Mitteilungen«: 

2009-07: Zwanzig Jahre danach

2008-10: Hitlers fromme Bilderstürmer, Kirche und Kunst unterm Hakenkreuz

2008-01: Begleiterscheinungen der neuen Gesellschaft