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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Hitlers fromme Bilderstürmer, Kirche und Kunst unterm Hakenkreuz

Horsta Krum, St. Savin (Frankreich)

 

Eine Studie von Hans Prolingheuer über den Evangelischen Kunstdienst

 

In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entbrannte in der deutschen evangelischen Kirche ein heftiger Streit um moderne Kunst. Ihre Gegner schreckten dabei auch vor Handgreiflichkeiten und Zerstörungen nicht zurück und erfreuten sich dabei der Sympathie eines reichlichen Teiles der Bevölkerung. Die Lübecker Polizei beispielsweise strengte sich nicht an, die Täter zu finden, die 1922 das moderne Kruzifix für das Gefallenen-Ehrenmal am Dom zerstört hatten. Und in derselben Stadt ereifern sich etwas später die Pfarrer gegen Barlachs Skulpturen; einer von ihnen schreibt: "Ich fühle mich davon genau so abgestoßen, wie seinerzeit von dem Kruzifix […]" am Dom. 1928 wurde George Grosz als "Gotteslästerer" angeklagt wegen seiner Graphik "Christus mit der Gasmaske", die die Hauptfigur des Christentums als zeitgenössischen Pazifisten darstellt. "Der Verband evangelischer Arbeiter- und Volksvereine in Groß-Berlin erhebt schärfsten Einspruch gegen die Verhöhnung der Religion durch eine entartete Kunstrichtung." Hochrangige Vertreter des deutschen Protestantismus äußern sich ähnlich und bestellen "Gutachten", die die Justiz beeinflussen sollen – mit Erfolg: Das Leipziger Reichsgericht verurteilt in letzter Instanz George Grosz und seinen Verleger Wieland Herzfelde zu einer hohen Geldstrafe und bestimmt das Kunstwerk zur Vernichtung. Der Aufruf des Verbandes evangelischer Arbeiter- und Volksvereine benutzt gleich zweimal das Wort "entartet", und andere kirchliche und nichtkirchliche Dokumente verbreiten es ebenso. Als die Nazis 1933 an die Macht gelangen, haben sie es leicht, gegen Kunstwerke vorzugehen, die sie als "entartet" bezeichnen; der Boden ist gut vorbereitet.

Die evangelischen Kirchen stellten von Anfang an das Wort in den Mittelpunkt und verbannten bildliche Darstellungen aller Art aus Kirchen, Büchern und Privathäusern. Je nach Land, geschah dies mehr oder weniger konsequent. In Frankreich beispielsweise geschah dies radikal; in Deutschland dagegen rief Martin Luther die Bilderstürmer zurück und setzte ihrer Zerstörungswut ein Ende. Trotzdem sind Wort und Musik die wichtigsten Ausdruckmittel geblieben. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts schuf daher die evangelische Kirche in Deutschland verschiedene Vereine, die der bildenden Kunst im kirchlichen Leben eine größere Bedeutung geben sollten. Der wichtigste dieser Vereine war der "Evangelische Kunstdienst". Er wurde 1928 gegründet und besteht bis heute.

Göring und Goebbels und der Evangelische Kunstdienst

Im Frühjahr 1933 erhält das eben erst entstandene Nazi-Deutschland eine Einladung aus Chicago, sich an der dort geplanten Weltausstellung zu beteiligen, und zwar mit moderner Kirchenkunst. Die Ausstellung soll ein Jahr dauern, und viele tausend Besucher sind zu erwarten. Hitler nimmt die Einladung an, und dem Reichspropagandaminister Goebbels wird die Verantwortung übertragen. Eine Kommission, in der der "Kunstdienst" maßgeblich vertreten ist, schafft es, eine ansehnliche Ausstellung von Kirchengeräten, Zeichnungen, Gemälden und Skulpturen in kurzer Zeit zusammenzustellen. Ernst Barlach und Emil Nolde sind gut vertreten. Sie und einige andere entsprechen zwar nicht dem Partei-Geschmack, besonders nicht dem von Alfred Rosenberg, Nazi-Ideologe und Autor des Buches "Der Mythus des 20. Jahrhunderts". Er bezeichnet Nolde als "Kunstbolschewist" und Barlachs Werk als "entartet". Goebbels und Göring genehmigen die Ausstellung. Als Staatsvertreter fühlen sie sich geschmeichelt, daß Deutschland einen wichtigen Platz in der Weltausstellung einnimmt, und ganz privat sind sie beide große Kunstliebhaber und haben eine besondere Schwäche für die "nordischen Expressionisten".

Diese Ausstellung ist der Anfang einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen dem Staat, besonders Göring und Goebbels, und dem "Kunstdienst", besonders seinem Vorsitzenden Gotthold Schneider. Die Rückmeldungen aus Chicago sind so positiv, daß Goebbels im September desselben Jahres das "Reichsamt für kirchliche Kunst in der deutschen Evangelischen Kirche" schafft, in dem der Kunstdienst den Vorsitz übernimmt. Einige Monate später wird es in die "Reichskulturkammer" eingegliedert und erhält als neuen Namen "Evangelische Reichsgemeinschaft christlicher Kunst". Für die katholische Kirche wird eine entsprechende Institution geschaffen. Schneider erhält seine Beförderung als "Kunstreferent bei der Reichsregierung" und verfügt über bedeutende staatliche Mittel, mit denen er großzügige Subventionen für kirchliche Projekte verteilt, z.B. Innenausstattungen für Kirchen und neue Kirchenbauten. Ein typisches, heute noch erhaltenes Bauwerk, ist die Martin-Luther-Gedächtniskirche in Berlin-Mariendorf: massive Architektur, germanische und soldatische Gestalten, Vermischung christlicher und Nazi-Symbole. Einige mußten auf Betreiben der Freunde Rosenbergs wieder entfernt werden, aber der Charakter des Bauwerkes blieb erhalten.

1934 erhält der Kunstdienst das Schloß Berlin-Niederschönhausen zu seiner Verfügung. Er benutzt es für Ausstellungen, Konzerte, Empfänge.

1936, aus Anlaß der Olympiade, beruft sich der Kunstdienst auf seine positiven Erfahrungen in Chicago und stellt mit staatlicher Genehmigung eine Ausstellung evangelischer Kirchenkunst zusammen. Nolde und Barlach sind nicht vertreten, aber niemand in der Kirche protestiert.

Die Kirchenkunst wird später aus der "Reichskunstkammer" ausgegliedert, der "Evangelische Kunstdienst" entsteht wieder neu, formell unabhängig; aber das gute Verhältnis zu Goebbels und Göring bleibt.

1937, also nach der Olympiade und somit mit weniger Rücksicht auf das Ausland, wird ein großer Teil der modernen Kunst als "entartet", "bolschewistisch", "jüdisch" systematisch verunglimpft, u.a. durch Hitler selbst. Etwa 17.000 Kunstwerke werden konfisziert, und zwar nicht nur (fast) zeitgenössische, sondern auch Cézanne, van Gogh, Munch, Braque, Matisse, Chagall, … Der Kunstdienst hilft auf seine Weise mit, indem er eine Ausstellung von Kirchenkunst zeigt, die genau der offiziellen Linie entspricht.

Rosenberg und andere hätten gern die beschlagnahmten Kunstwerke öffentlich verbrannt, wie einst 1933 die Bücher. Aber Anfragen aus dem Ausland und Geldmangel durch Kriegsvorbereitungen bewegen Hitler, den Vorschlag von Göring anzunehmen, nämlich die bekanntesten Kunstwerke an das Ausland zu verkaufen, gegen US-Dollar und Schweizer Franken.

Goebbels erinnert sich an die gute Zusammenarbeit mit dem Kunstdienst und bittet ihn, bei dem Verkauf zu helfen. Der Kunstdienst, unter Leitung von Schneider, willigt ein. Und so werden von den 17.000 konfiszierten Kunstwerken etwa 7.000 ausgewählt und in das Schloß Niederschönhausen gebracht, über das der Kunstdienst immer noch verfügt. Günter Ranft, freier Mitarbeiter des Kunstdienstes und Freund von Schneider, wird vom Staat besoldeter Vermittler zwischen den Verantwortlichen des Staates und der Verkaufsaktion des Kunstdienstes. Für den freundlichen Empfang der Gäste stellt Schneider eine junge, charmante Dame ein, Gertrud Werneburg. Sie ist Mitglied der "Bekennenden Kirche", einer evangelische Minderheitskirche, die den Ausschluß der Juden innerhalb der Kirche nicht mitträgt und sich gegen bestimmte von den Nazis propagierte Ideale und gegen Gleichschaltungsmaßnahmen wehrt. Überdies ist der Vetter von G. Werneburg Rechtsanwalt und hat Pastor Martin Niemöller gegen die Anklage des Hochverrats verteidigt. Aber Schneider und Werneburg einigen sich, daß Niemöller kein politischer Fall sei und der Verkauf der Kunstwerke eine gute Sache – um so mehr, als sich aus der "Bekennenden Kirche" keine Stimme für die verunglimpften Künstler erhoben hat.

Rauben, verkaufen oder verbrennen?

Der Verkaufsaktion steht also nichts mehr im Wege. Der Verfasser des Buches, Hans Prolingheuer, hat G. Werneburg später mehrmals aufgesucht. Sie erinnert sich: "Ich habe angefangen mit diesen 175 Ölbildern, aus denen allmählich 6.000 wurden. 7.000! Unentwegt kam (der Möbelwagen der Firma) Knauer angefahren und brachte neue Bilder. Und dann kamen Aquarelle und die ganzen ‚Brücke’-Leute, von Franz Mark bis Christian Rohlfs, von Ernst Ludwig bis Otto Dix. Und nun kam unentwegt irgendein Kunsthändler. Und die ganzen Leute waren nun unentwegt da und suchten sich Bilder aus. Ich hatte zwei große Räume, da hatte ich die Bilder alle angeschichtet. An die 60 Rohlfs alleine […] Es eine schöne Tätigkeit." (S. 133)

Erheben sich Fragen oder Zweifel, so verweisen die Verantwortlichen des Kunstdienstes auf das Gesetz vom 31. März 1938, von Hitler und Goebbels unterzeichnet, das die geraubten Kunstwerke zum "Staatseigentum" erklärt.

Die bekanntesten und teuersten Werke sind das Selbstportrait von van Gogh und die beiden Harlekine von Picasso. Sie sind mit Rahmen je auf einer Staffelei als Blickfang ausgestellt. Die anderen stapeln sich in den Regalen, mit oder ohne Rahmen. Die Skulpturen von Matisse, Barlach, Lehmbruck u.a. drängen sich in den Fluren. In der ersten Zeit beschwert sich G. Werneburg bei Schneider über bestimmte Besucher, die weder fragen noch bezahlen, sondern skrupellos Kunstwerke mitnehmen. Schneider erklärt ihr, daß es sich um Geschenke handele, und diese Besucher seien eigens zu diesem Zweck eingeladen, mehrheitlich von ihm selber. Am meisten bedienen sich aber die "Chefs", Goebbels und Göring. G. Werneburg ist schockiert, daß diese und and andere Nazis die Schönheit dieser ausdruckskräftigen Kunst preisen, dieselbe Kunst aber öffentlich verdammen. Wenn aber ein Künstler kommt, Nolde zum Beispiel, und um Herausgabe eines seiner Werke bittet oder es wenigstens sehen möchte, muß er jedesmal unverrichteter Dinge weggehen. Nur die Witwe von Lehmbruck darf, nach vielen Briefen an Goebbels, die geraubten Werke ihres Mannes aus Niederschönhausen abholen.

Rosenberg und seine Freunde verfügen immer noch über einen gewissen Einfluß und drängen Goebbels, die noch nicht verkauften Kunstwerke (etwa 12.000) zu verbrennen. Das Depot in der Köpenicker Straße werde dringend als Getreidespeicher gebraucht. Goebbels will Zeit gewinnen und noch so viel Werke wie möglich zu verkaufen. So gibt es ab Februar 1939, neben den festgelegten Preisen, jede Menge "Sonderangebote". Goebbels, Ranft und Schneider sind sich einig, die Werke für wenig Geld zu verkaufen oder sie zu verschenken, statt sie zu verbrennen. "[…] geradezu verschenkt, weil die eben Dollar haben wollten. Die haben sich dann gesagt: Na, Dollar? Wenn wir vier Dollar geben, kriegen wir eben auch ein Bild! Da haben sich die Leute also bereichert – ich kann Ihnen sagen." (S. 173)

Es werden auch Kunstwerke aus Niederschönhausen und der Köpenicker Straße in die Schweiz gebracht und dort gegen klassische Meister eingetauscht. Während des Krieges wird sich Hitler laut rühmen, Meisterwerke der Malkunst gegen wertloses Zeug erhalten zu haben. Wohin auch immer die Kunstwerke von Niederschönhausen aus verbracht werden – der Abtransport geschieht so schnell, daß G. Werneburg den Überblick verliert und keine Listen mehr führen kann.

Dies alles geschieht unter der Leitung von Schneider, engagierter evangelischer Christ und Leiter des Evangelischen Kunstdienstes. Auch wenn nicht alle Mitarbeiter des Kunstdienstes alle Einzelheiten der Verkaufsaktion kennen, so wissen sie doch insgesamt Bescheid. Außerdem ist Schneider an ein Gremium gebunden, dem Mitglieder des Kunstdienstes und Persönlichkeiten von außen angehören. Dieses Gremium vertraut ihm blind.

Zu den beiden Freunden Schneider und Ranft gesellt sich 1938/39 ein dritter, Berhard A. Boehmer. Er ist der wichtigste und reichste Kunsthändler in Deutschland, der engste Freund von Barlach und sein Sekretär. Er sorgt dafür, daß Barlach bis zu seinem Tode 1938 in Ruhe arbeiten kann. Er sichert sich das Wohlwollen aller Beteiligten von Goebbels bis Werneburg durch großzügige Geschenke. Aufgrund seines immensen Reichtums und seiner guten Verbindungen zum Ausland kann er viele vom Kunstdienst angebotene Werke gegen Dollars und Schweizer Franken aufkaufen.

Ende Februar/Anfang März kann Goebbels Rosenberg und seine Freunde nicht länger hinhalten: G. Werneburg wird beauftragt, die noch im Depot verbliebenen Werke zu registrieren. Wochen später erreicht sie die Nachricht, daß diese Werke Mitte März auf dem Hof des Depots verbrannt worden seien. Hat Goebbels diese Nachricht in Umlauf gesetzt, um seine politischen Gegner zu täuschen? Für diese Möglichkeit spricht, daß es weder eine Datumsangabe noch Augenzeugenberichte, noch Fotos gibt und daß später eine Reihe der zur Vernichtung bestimmten Kunstwerke im Ausland wieder aufgetaucht sind.

Martin Bormann hilft

Schneider zählt zu seinen Freunden auch den immer eleganten Otto Abetz, Kunstliebhaber, Kunstexperte und mit einer Französin verheiratet. Abetz kennt Frankreich und die französische Kultur, ist seit 1935 Referent der "Dienststelle Ribbentrop im Auswärtigen Amt" für Frankreich, Belgien, Italien und die Schweiz. 1940 ernennt Hitler ihn zum Bevollmächtigten des Auswärtigen Amtes beim Militärbefehlshaber in Frankreich und zum Botschafter bei der Vichy-Regierung. Mehrere deutsche Ausstellungen in Frankreich, die Abetz überwacht, werden von Schneider und dem Kunstdienst ausgeführt. Abetz lädt großzügig nach Paris ein und teilt Geschenke aus, u.a. an G. Werneburg, an die drei Freunde Schneider, Ranft und Boehmer, besonders aber an Schneider. Er verfügt über großzügige Geschenke, denn auch in Frankreich beginnt das Reich mit seinem Kunstraub: Kunstwerke aller Gattungen und aller Epochen, besonders solche in Privatbesitz, d.h. vor allem in Besitz jüdischer Familien, werden unter Leitung von Abetz aufgespürt und konfisziert.

Bis Ende 1941 setzt der Kunstdienst seine Verkaufsaktion noch fort. 2.979 Kunstwerke sind noch vorhanden. Insgesamt hat sie Devisen im Werte von 516.397 RM erbracht, zuzüglich 165.000 RM aus Görings Verkäufen. Der Kunstdienst muß das Schloß in Niederschönhausen räumen, aber Goebbels bietet ihm ein neues Domizil in Güstrow, ganz in der Nähe von Boehmers Wohnhaus und dem ehemaligen Atelier Barlachs. Hier entstehen das neue Domizil des Kunstdienstes, staatliche Ausstellungs- und Wohn- und Nebengebäude und eine Sommerresidenz für Goebbels; kurz: Ein Kunstdorf, "Kunstmeile" genannt.

Der Kunstdienst richtet sich denn auch häuslich ein mit all seinem Material, seinen Archiven, seinem Personal und mit einer ansehnlichen Kunstsammlung. Die meisten dieser Kunstwerke sind Raubgut, einige waren Geschenke, von wem auch immer.

Als Berlin 1943 bombardiert wird, läßt Boehmer, dank seiner Devisen und seiner guten Beziehungen, die letzten 3.000 Kunstwerke nach Güstrow kommen, die im Keller des Propagandaministeriums eingelagert waren: zwei große Lastzüge!

Rosenberg und seine Freunde greifen noch einmal Schneider und den Kunstdienst an. Aber einen wirklichen Beweis fehlender Nazi-Gesinnung finden sie nicht. Außerdem braucht Goebbels den Kunstdienst als Aushängeschild gegenüber dem Ausland. Sonst wäre zum Beispiel die große Ausstellung über das deutsche Kunsthandwerk in Bern (Herbst 1943) nicht zustande gekommen.

Wegen des Krieges hat der Vorstand des Kunstdienstes einige Mitglieder verloren; Ranft zum Beispiel, der mit Schneider in Konflikt stand, wurde Soldat, wahrscheinlich auf Betreiben Schneiders. Zwei neue Mitglieder werden auf Vorschlag von Schneider bestimmt: Abetz und Tino Schmidt, ehemaliger Geschäftsführer der Reichskulturkammer und jetzigen Leiter der Unterabteilung für kulturelle Betreuung bei der Organisation Todt. Als der Krieg nach Deutschland zurückkehrt und erste Zerstörungen anrichtet, schlägt der Kunstdienst vor, die unbeweglichen Kunstwerke zu fotografieren. Hitler und Goebbels setzen diese Idee sofort um und beauftragen 300 Fotografen, 1.200 bis 1.500 Bauwerke aufzunehmen. Im Herbst 1944 ist diese Aktion beendet; die Hälfte der in Kisten verpackten Glasplatten wird in der Neuen Reichskanzlei untergebracht, die andere im Haus des Kunstdienstes in Güstrow.

Im Laufe des Jahres 1944 bereiten die Kunstexperten ihre Zukunft vor: Boehmer läßt sich bei Salzwedel ein Haus bauen, in das er einen Teil der in seinem Besitz befindlichen Kunstwerke transportiert. Schneider, Abetz und Schmidt nutzen ihre guten Beziehungen und erhalten von Hitlers Sekretär Martin Bormann Mitte März 1945 zwei Lastkraftwagen, um die Abbildungen der unbeweglichen Bauwerke in Südwestdeutschland in Sicherheit zu bringen. Als die Lastwagen Güstrow verlassen, bleiben allerdings die meisten Kisten mit den Fotoplatten zurück; die Fracht besteht hauptsächlich aus Werken der bildenden Kunst, Akten und Archiven des Kunstdienstes. Trotz der Wirren der letzten Kriegswochen gelangen die Lastwagen an ihr Ziel. Schneider, Abetz und Schmidt haben verschiedene Verstecke vorbereitet, zum Beispiel bei dem Erzbischof von Freiburg, Gröber. 1937 hatte Schneider mit ihm zusammengearbeitet anläßlich der Weltausstellung in Paris. Und Gröber gibt weitere Empfehlungen, für Konstanz beispielsweise, wo das Ehepaar Schmidt mit einem Teil der Kunstschätze untertaucht und nach dem Krieg gut vom Kunsthandel leben kann.

Benommen haben wir uns nicht wie Kirche

Mit Hilfe des Botschaftsfahrers – Goldhändler und einstmals "rechte Hand" von Abetz in Paris – vergraben Abetz und Schneider die Devisen des Geheimfonds der Pariser Botschaft und Gold. Abetz wird als Kriegsverbrecher gesucht wegen seiner Mitwirkung an der Ausbeutung Frankreichs, am Kunstraub, an der Verschleppung von Franzosen zur Zwangsarbeit nach Deutschland und der Deportation von französischen und ausländischen Juden.

Am 2. Juli 1942 hatte er nach Berlin telegrafiert: "Gegen die Abtransportierung von 40.000 Juden aus Frankreich […] bestehen seitens der Botschaft grundsätzlich keine Bedenken. Bei der Durchführung sollten jedoch folgende Erwägungen in Betracht gezogen werden. Die Botschaft hat bei allen gegen die Juden ergriffenen Maßnahmen ständig den Standpunkt vertreten, daß diese in einer Form durchgeführt werden sollten, die das in der letzten Zeit angewachsene antisemitische Gefühl ständig weiter erhöht. Ähnlich wie in Deutschland seinerzeit […], ist auch in Frankreich festzustellen, daß das Ansteigen des Antisemitismus […] auf die Zuwanderung von Juden fremder Staatsangehörigkeit in den letzten Jahren zurückzuführen ist. Es wird deshalb psychologisch […] wirksam sein, wenn die Evakuierungsmaßnahmen zunächst einmal derartige fremdländische Juden erfassen […] Mit einem solchen Vorgehen würde keineswegs dem französischen Juden eine privilegierte Stellung eingeräumt, da er im Zuge der Freimachung der europäischen Länder vom Judentum auf alle Fälle ebenfalls verschwinden muß." (S. 241)

Schneider überredet den Chefarzt einer Augenklinik des Roten Kreuzes, "jemanden unterzubringen". Abetz kann also sein Gesicht hinter einer großen dunklen Brille ver­stecken, aber seine Eitelkeit wird ihm zum Verhängnis: seine elegante Kleidung verrät ihn. So wird er im Oktober 1945 von der französischen Militärpolizei verhaftet. Vom ersten Hafttage an arbeitet er an einer Denkschrift, die seine Unschuld beweisen soll: seine Verdienste um die deutsch-französische Freundschaft, sein Kampf gegen den Bolschewismus. Er wird 1949 zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, aber schon 1954 "begnadigt". Einflußreiche Freunde haben sich für ihn eingesetzt, alte Freunde aus der Nazi-Zeit, die in der Bundesrepublik eine neue Karriere begonnen haben, beispielsweise der ehemalige Mitarbeiter von Abetz, Ernst Achenbach, der 1948 mit Theodor Heuss zusammen die FDP gründet. 1958 kommt Abetz ums Leben, bei einem "Unfall", der nie aufgeklärt wurde.

Schneider lebt sicher in einem Schwarzwalddorf, wo er bald alte und neue Freunde empfängt, u.a. Prinz Ludwig von Hessen und Theodor Heuss, 1949 zum Bundespräsidenten gewählt und einst freier Mitarbeiter des Kunstdienstes. Schneider gründet das viel beachtete und gepriesene Kunstunternehmen "Institut für Neue technische Form", das u.a. Ausstellungen durchführt; eine ist die ständige Musterschau in der Alten Synagoge in Essen. Die Mitarbeiter des Evangelischen Kunstdienstes und alle, die sich an seiner Tätigkeit bereichert haben, betrachten die geraubten Kunstwerke als ihr Eigentum. Der Evangelische Kunstdienst nimmt seine Tätigkeit nach 1945 langsam wieder auf, zum Teil mit den ehemaligen Mitarbeitern. Gedanken über seine Tätigkeit während der Nazi-Zeit sind nicht dokumentiert. Nur Gertrud Werneburg sagt ein halbes Jahrhundert danach: "Benommen haben wir uns nicht wie Kirche."

Die Studie "Hitlers fromme Bilderstürmer, Kirche und Kunst unterm Hakenkreuz" von Hans Prolingheuer ist erschienen im Dittrich-Verlag, Berlin 2001, ISBN 978-3920862330, 416 S., 25 €.

 

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