Der Kapitalismus ist obszön
Horst Schäfer, Berlin
Menschenrechts-Aktivistin Angela Davis 75
Angela Davis hatte gerade ihren 27. Geburtstag hinter Gittern »gefeiert«. Das war 1971. Und ich stand mit einem Blumenstrauß vor dem Gefängnis von Marin County in Kalifornien, um ihr zu gratulieren. Doch die martialisch bewaffneten Sheriffs sagten »No«. Sie wollten keinen Journalisten zu ihr lassen. So konnte ich Angela weder Geburtstagsgrüße überbringen noch die schönste Haftanstalt der USA von innen kennen lernen. Sie war vom US-Stararchitekten Frank Lloyd Wright als Teil eines Verwaltungszentrums nördlich von San Francisco gebaut worden. Doch selbst als bedeutende Architektur geadelt – für Angela blieb es ein Gefängnis und ein höchst gefährlicher Ort. Ihr drohte die Todesstrafe.
Im vergangenen Sommer – 47 Jahre später – traf ich Angela Davis bei einem internationalen Symposium über die immer noch andauernden Auswirkungen der (auch deutschen) Kolonialgeschichte auf die internationale Politik, das in der Akademie der Künste in Berlin stattfand. Mehr als 750 Interessenten im total ausverkauften Auditorium unterbrachen die US-Professorin immer wieder mit stürmischem Applaus.
Sie setzte sich mit dem europäischen und globalen Neokolonialismus auseinander und unterstrich ihr Kernanliegen: Dass der kapitalistische Staat »niemals Gerechtigkeit gewähren kann«, denn er sei in seiner Struktur »habgierig« und die Bedürfnisse der Menschen seien ihm egal. Um den Menschen zu helfen, müsse man über andere Lösungen nachdenken, denn der kapitalistische Staat vertrete »nur eine winzige Minderheit der Menschen«. Das werde besonders deutlich daran, dass nur 8 Milliardäre in der Welt über so viel Reichtum verfügten wie die Hälfte der Menschheit – wie 3,8 Milliarden Menschen. Schon in vielen ihrer Reden hatte sie diese Tatsache immer wieder als »obszön« verurteilt.
Morddrohungen
Zwischen dem Rausschmiss der jungen Professorin der Universität von Los Angeles (UCLA) 1969 – der damalige Gouverneur und spätere Präsident Ronald Reagan hatte sie wegen ihres Kampfes gegen den Rassismus sowie der Mitgliedschaft in der KP der USA gefeuert – und ihrem 75. Geburtstag am 26. Januar 2019 liegen knapp 50 Jahre des ununterbrochenen Kampfes. Er begann mit Todesdrohungen der von Reagan und Nixon aufgehetzten Reaktionäre. »Ich habe damals hunderte von Morddrohungen bekommen und musste rund um die Uhr geschützt werden«, sagte sie. Dem folgte ihre Flucht und die Menschenjagd des FBI auf, so lautete der überall in den USA aushängende Steckbrief, »eine der zehn meistgesuchten Kriminellen«; dann die Verhaftung in New York City und ihre Auslieferung an den Todesstrafen-Bundesstaat Kalifornien. Fast eineinhalb Jahre dauerte der Prozess, mit dem der Staat durch ein juristisches Komplott Angela Davis auf den elektrischen Stuhl oder in die Gaskammer zu bringen versuchte.
Der durch ihren bewundernswerten Widerstand und den ihrer vielen Mitkämpfer in den USA und in vielen Ländern der Welt – darunter besonders auch in der DDR – erreichte und kräftig bejubelte einstimmige Freispruch war zweifelsohne ein großer Erfolg dieses solidarischen Kampfes. Die Frage eines US-Journalisten, ob der Freispruch nicht beweise, dass gegen sie doch ein »fairer Prozess« stattgefunden habe, konterte Angela damals mit der Feststellung: »Fair und gerecht wäre gewesen, wenn es diesen Prozess nie gegeben hätte.«
Auf buchstäblich tausenden von Kundgebungen und Veranstaltungen hat sie seit ihrem Freispruch 1972 ihre Geschichte erzählt und ihre Stimme erhoben gegen Ungerechtigkeit und Rassismus insbesondere in den USA. Ein immer wiederkehrendes Thema in ihren Reden und publizierten Artikeln ist die Einkerkerung von mehr als 2,2 Millionen Menschen, ein großer Teil Afroamerikaner, in den Gefängnissen des Landes – das ist Weltrekord! Die damit verbundene private »Gefängnis-Industrie« mit der verschärften Ausbeutung der Gefangenen findet sie besonders kritikwürdig. Unter Hinweis auf ihre eigenen Erfahrungen setzt sie sich nicht für eine bloße Verbesserung dieses Gefängnissystems ein, sondern für dessen Abschaffung.
Die Farm verpfändet
Eine interessante Geschichte ist, wie Angela Davis gegen Kaution schließlich freigelassen wurde. Es begann bereits nach ihrer Inhaftierung in New York City. Als die weltberühmte Soul-Sängerin Aretha Franklin von der Verhaftung erfuhr, erklärte sie sich sofort bereit, eine Kaution zu stellen. »Mein Vater meint, ich wisse nicht, was ich tue« erklärte sie in der Presse. »Selbstverständlich habe ich Respekt vor ihm – aber ich stehe zu meinen Überzeugungen. Angela Davis muss freigelassen werden. Mich hatten sie auch schon eingesperrt, weil ich den Frieden in Detroit gestört habe ... Ich weiß, dass man den Frieden stören muss, wenn sie dir keinen Frieden gewähren. Das Gefängnis ist die Hölle. Ich werde versuchen, falls es Gerechtigkeit in unserem Land gibt, sie dort herauszubekommen.«
Die Justizbehörden lehnten die Entlassung von Angela Davis gegen Kaution allerdings zu diesem Zeitpunkt ab. Die geforderten über 100.000 Dollar hatte anderthalb Jahre später der weiße kalifornische Farmer Rodger McAfee zur Verfügung gestellt, der dafür seine Farm verpfändete. »Damals gab es nur ein kleines zeitliches Fenster der Möglichkeiten für Kaution, das gleich vom Obersten Gericht wieder geschlossen wurde«, erklärte Angela später. »Wir konnten Aretha Franklin im entscheidenden Moment nicht erreichen – sie war in der Karibik. Wenn Roger McAfee nicht eingesprungen wäre, hätte ich bis zum Prozessende im Gefängnis bleiben müssen.«
Ikone der Befreiungsbewegung
Jetzt wird Angela Davis 75 Jahre alt. Sie ist mehr denn je aktiv gegen alle Formen des Rassismus, der Ausbeutung von Menschen und der Ungerechtigkeit im Kapitalismus. Amy Goodman, die Moderatorin des US-Fernseh- und Rundfunkmagazins »Democracy Now« nannte sie am 24. Dezember in einer Sondersendung »eine der einflussreichsten Aktivistinnen und Intellektuellen in den Vereinigten Staaten seit mehr als vier Jahrzehnten«. Sie habe »als Ikone der schwarzen Befreiungsbewegung mit ihrer Arbeit zu Themen wie Geschlecht, Rasse, Klasse und Gefängnisse über mehrere Generationen hinweg das kritische Denken und die sozialen Bewegungen beeinflusst«.
Für Angela Davis ist der Kapitalismus rassistisch und die Hauptursache aller Ungerechtigkeiten. Eine ihrer wichtigen Thesen lautet: Man kann den Kampf um die Gleichberechtigung der Frauen oder einer unterdrückten Rasse nicht vom Klassenkampf trennen. Darum nehme selbst unter einem afroamerikanischen Präsidenten die Zahl der unterdrückten Schwarzen »nicht um einen ab – weil das weniger eine Rassenfrage als eine Klassenfrage ist«.
Sie nennt sich immer noch Kommunistin, sie hat nach wie vor ihr wunderbares Lachen, ihren brillanten Intellekt und ihre berühmte und beeindruckende gelockte Afrofrisur – jetzt allerdings in einem dunklen Grauton. Herzlichen Glückwunsch und Umarmungen über den großen Teich, Angela.
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