Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Prof. Dr. Ingeborg Rapoport (2. September 1912 – 23. März 2017)

Horst Schäfer, Berlin

 

Liebe Angehörige, liebe Freunde, Kolleginnen und Kollegen von Ingeborg Rapoport, ihre Schülerinnen und Schüler, von denen sie oft sprach, liebe Genossen der Basisgruppe der LINKEN, der sie bis zum Schluss angehörte.

Wir verabschieden uns heute von einer Humanistin, einem Menschen mit großer Empathie, insbesondere mit beeindruckender sozialer Einfühlsamkeit. Das wird nicht nur auf auf jeder Seite ihres Buches »Meine ersten drei Leben« deutlich. Man konnte auch selbst erleben, mit welcher Anteilnahme sie über Kinder und Enkel erzählte oder über die Briefträgerin, über wildfremde Menschen, die an ihre Tür klopften und etwas verkaufen wollten.

Ingeborg Rapoport war gütig und selbstlos – zwei leider etwas aus der Mode gekommene Eigenschaften – und sie war immer besorgt: ob es sich nun um die vielen kleinen und großen Kümmernisse handelte in Familie und Umfeld, oder aber um den zunehmend fragilen Weltfrieden. Unvergessen, wie ein Enkel-Chor an ihrem 100. Geburtstag diesen Wesenszug der geliebten IMO auf den Punkt brachte und sang: She worries, she worries, the worries all the time … Ingeborg Rapoport war ein Menschenfreund.

Daran konnten auch die Erfahrungen mit Faschismus, Armut und Ungerechtigkeit in den USA, ihrem Fluchtland, später mit den McCarthy-Verfolgungen, dann mit der ungeheuren Zerstörung, die sie im Nachkriegseuropa vorfand, nichts ändern. Im Gegenteil: Ihr wurde früh klar, dass es nicht reicht, ein guter Arzt und Wissenschaftler zu sein.

Diese Erfahrungen verfestigten ihre Ansicht, eine Alternative zum Kapitalismus müsse her, und die könne nur Sozialismus heißen. Sie teilte die Sicht des 1914 ermordeten französischen Sozialisten Jean Jaurès: Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen. Für die bedeutende Neonatologin der DDR war es folgerichtig: Krieg und Faschismus konnte man nur bekämpfen, wenn man auch den Kapitalismus bekämpfte. Das hat sie ein langes, langes Leben getan.

Es ist unmöglich, diesem Leben in wenigen Minuten auch nur annähernd gerecht zu werden. Einem Leben, dass sich vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, das faschistische Deutschland, über die USA erstreckte – von Roosevelts Kooperationspolitik mit der Sowjetunion bis zum Kalten Krieg und zur McCarthy-Verfolgung – und das dann in der DDR für fast 4 Jahrzehnte den für sie wichtigsten und befriedigendsten Lebensabschnitt hatte.

Bis, ja bis ihr die DDR 1989 abhanden kam. Wer begreifen möchte, wie bedeutend der sozialistische deutsche Staat für Inge Rapoport war, sollte die Reaktion auf den Verlust der DDR – ihrer DDR, an deren Aufbau und Gedeihen sie so maßgeblich beteiligt war – nachlesen. »Nun lebe ich wieder im alten Deutschland«, beklagt sie in ihrem Buch. »Im Gegensatz zu den vielen Menschen, die hier meinen, einen flotteren Gang in den Fortschritt zu erleben, habe ich das Gefühl, aus dem 3. in den Rückwärtsgang geschaltet zu haben. Nach wie vor glaube ich, dass der Sozialismus die bisher höchste Stufe aller Gesellschaftsordnungen ist. Wie der Felsblock dem Sisyphos ist er uns den Berg hinab gerollt, und wie viel Mühen wird es kosten, ihn erneut hinaufzuschieben!«

Ein besonderes Ärgernis war für sie der Versuch, aus der DDR einen Unrechtsstaat zu fabrizieren. Sie schloss sich der Kommunistischen Plattform in der PDS und späteren LINKEN an, auch, um solchen Vorstellungen selbst in ihrer eigenen Partei besser entgegentreten zu können. Dazu schrieb Ingeborg Rapoport: »Man benutzt dieses Prädikat Unrechtsstaat wie ein Pfeilgift, zur Lähmung des freien Menschengeistes, damit ja niemand den Kopf hebt, sich umsieht und herausfindet, was gut und menschenwürdig an der DDR war, damit man nicht ausspäht nach einem besseren Weg.«

Trotz auch kritischer Sicht auf die DDR lautete das unumstößliche Fazit über ihr drittes Leben: »Keine Nörgelei an der DDR oder Anklage Außenstehender wird mich je ... dieses Glücksgefühl einer schöpferischen Gemeinschaft … vergessen lassen.«

Falls es hier jemanden geben sollte, der das Buch »Meine ersten drei Leben« nicht gelesen und nicht schon mehrfach verschenkt hat: Es ist eine wunderbare, spannende Lektüre, 400 Seiten voller Geschichten und Geschichte. (Dieser Werbeblock muss auch bei Ingeborg Rapoports Abschied möglich sein …) Nicht nur ihr Buch – auch jedes Zusammentreffen mit ihr machte deutlich, dass sie ein umfassend gebildeter Mensch war, der insbesondere in den letzten Jahrzehnten durch Hunderte von Hörbüchern tief in die Weltliteratur eintauchte und ihre Umgebung immer daran teilhaben ließ.

Es gibt ja inzwischen Bücher und Filme über Hundertjährige, die aus dem Fenster steigen oder ihre Rechnung nicht bezahlen. Aber die 102-Jährige, die eine von den Nazis verbotene Doktorprüfung mit einem magna cum laude nachholt, wird einmalig bleiben.

Und nicht nur das. Sie meisterte es souverän, den Journalisten aus aller Welt, den Fernseh- und Filmcrews, die ihr damals tage- und wochenlang buchstäblich die Tür einrannten, Rede und Antwort zu stehen – und das oft über Stunden und bis an die Grenzen ihrer Erschöpfung. Um diese Zeit ranken sich auch viele kleine Geschichten, von denen ich hier eine erzählen möchte:

In einem längeren Artikel beschreibt eine Berliner Zeitung Ingeborg Rapoports Lebensumstände – dass sie fast blind ist, sich schlecht bewegen kann und trotzdem noch ganz allein in ihrem Haus wohnt. Inge unterbricht mich an dieser Stelle beim Vorlesen und meint trocken: »Die hätten ja gleich schreiben können, dass meine Terrassentür Tag und Nacht offen steht  ...« 

Ich werde Inge auch als jemanden vermissen, der bis kurz vor seinem Tode darauf bestand, über alle politischen Ereignisse zu diskutieren. Das war insbesondere angesichts der heutigen gefährlichen Weltlage und der deutlicher werdenden unauflöslichen Widersprüche des kapitalistischen Systems für mich immer ein Gewinn.

Gerade in letzter Zeit ging es oft um die zunehmende Gefahr durch rechtsradikale und faschistische Tendenzen in Deutschland und der Welt und darum, ob zum Beispiel der Nato-Aufmarsch gegen Russland oder Erdogans Politik zu einem Krieg führen könnten. Oft konnte ich die großen Sorgen, die sie quälten, mindern ...

Aber ich frage mich, was hätte ich ihr jetzt antworten sollen: Nach dem Einsatz von US-Raketen gegen Syrien, den 34 Prozent Stimmen für Le Pen, dem Aufmarsch gegen Nord-Korea, dem Abwurf der »Mutter aller Bomben« auf Afghanistan. Allein die Bezeichnung »Mother Of All Bombs« hätte die Kriegsgegnerin fassungslos gemacht und ihr großen körperlichen Schmerz bereitet.

Wenige Wochen vor ihrem Tode erzählte sie mir, am liebsten hätte sie noch den Film Der junge Marx gesehen, und, angeregt von Berichten über den Film, wollte sie den vor genau 150 Jahren erschienenen ersten Band des Kapitals lesen und ließ ihn sich auf CD besorgen. Ihr erster Kommentar war: »Das ist ja ganz einfach – ich schäme mich, dass ich es bisher nicht gelesen habe ...«.

Aber nicht nur Marx interessierte sie noch am Ende ihres Lebens. Auch die Traktate von Spinoza standen auf ihrer Wunschliste – und Heines Geschichte des Christentums in Deutschland.

Schon mit matter Stimme meine sie dann zu mir: »Ich hatte ein langes und schönes Leben«. Helmut Sakowski lässt einen der Haupthelden in seinem 1976 im DDR-Fernsehen ausgestrahlten Mehrteiler Daniel Druskat sagen: »Was wäre das Leben ohne den Tod? Es verlöre seine Einmaligkeit, seine Kostbarkeit ...  Der Tod hat einen Sinn, wenn das Leben einen Sinn hatte.«

Liebe Inge: Dein Leben war lang und schön. Und es hatte einen Sinn. Wir werden Dich sehr vermissen. Tschüss, liebe Freundin und Genossin ... Und danke auch für den allerletzten Satz Deines Buches, für die Worte, die etwas traurig aber optimistisch zugleich sind, dem ungeborenen Urenkel Joshua gelten, aber auch ein Vermächtnis von Ingeborg Rapoport an künftige Generationen sind:

»Wähle Dir den richtigen Zeitpunkt für die Gestaltung einer glücklicheren und besseren Gesellschaft, reihe Dich ein in den Kreis hochgemuter Menschen und schaffe mit ihnen gemeinsam, was uns noch nicht gelungen ist ...«

Rede zur Beisetzung am 12. Mai 2017 auf dem Friedhof Pankow 3. Das Gebinde der KPF trug die Aufschrift »In Trauer und Dankbarkeit – Kommunistische Plattform der Partei DIE LINKE«.

 

Mehr von Horst Schäfer in den »Mitteilungen«: 

2012-06: »Gefahr für wundervolles Regierungssystem«

2011-04: Bye-Bye Wheelus?

2011-04: Operation Schweinebucht: Vor 50 Jahren landeten die USA in Kuba