Der »Fall Weiß«
Dr. Wolfgang Biedermann, Berlin
Am 3. April 1939 begannen im Oberkommando der Wehrmacht (OKW) die Planungen für die einheitliche Kriegsvorbereitung der Wehrmacht 1939/40. Der »Fall Weiß« ordnete dann die Mobilisierung der faschistischen Wehrmacht für den Angriff auf Polen ab dem 1. September 1939 an. Der Plan hatte die überraschende Zerschlagung der polnischen Streitkräfte zum Ziel, um »eine den Bedürfnissen der Landesverteidigung entsprechende Lage im Osten zu schaffen.« Daneben waren die »polnischen Wirtschaftsanlagen«, besonders im polnisch-oberschlesischen und Teschener Industriegebiet, »möglichst unversehrt in die Hand zu bekommen«, um sie in die deutsche Kriegswirtschaft einzugliedern. Die äußerst mobile Wehrmacht, bestehend aus vielen motorisierten Einheiten nebst Panzer- und Luftwaffenverbänden, nahm Touren auf.
lm »Fall Weiß« war die Unvermeidbarkeit von militärischer Gewalt die tatsächliche Option, im Gegensatz zur Weisung »Grün« vom 18. Juni 1938. Keitel, Chefplaner im OKW, äußerte sich in einem Verhör während des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses, dass Deutschland militärisch nicht befähigt war, erfolgreich einen Angriff gegen die Tschechoslowakische Republik (ČSR) zu führen. Für »ein Durchstoßen der Grenzbefestigungen [...] fehlten uns die Angriffsmittel.« [1]
Zu den Grenzbefestigungen zählte auch das modern und gut ausgerüstete tschechische Heer. Das Diktat von München (30. September 1938) besiegelte schließlich das Schicksal des südöstlichen Nachbarn. Seitens der involvierten Mächte (Deutschland, England, Frankreich, ltalien) galt es einen kriegerischen Konflikt unbedingt zu vermeiden. Bereits drei Wochen später, die Tinte unter dem völkerrechtlich dubiosen Dokument war kaum getrocknet, wies Hitler an, die restliche Tschechoslowakei zu besetzen.
Mit der Errichtung des »Protektorats Böhmen und Mähren« (März 1939) verschwand nach dem »Anschluss« Österreichs (»Fall Otto«) ein weiterer souveräner Staat von der politischen Landkarte Europas. Goebbels' Propagandamaschinerie kolportierte, Russland hege Aggressionsabsichten gegenüber dem nach Frieden strebenden Deutschen Reich und benütze die ČSR als Flugzeugmutterschiff.
Die Beseitigung der ČSR rief allenfalls verbale Empörung in den westlichen Demokratien hervor. Hatten doch Deutschland und England im Kontext des Münchner Abkommens sich gegenseitig versichert, nie wieder gegeneinander Krieg zu führen!
München war zudem ein schwerer Schlag gegen die Bemühungen zur Schaffung eines Systems der kollektiven Sicherheit seitens der UdSSR. Die Sowjetunion hatte Beistandsverträge mit der ČSR und Frankreich. Nun jedoch drohte ihr die völlige Isolierung. Eine Tendenz, die den langfristig geplanten Expansionskurs der Hitlerregierung in Richtung Osten bestätigte und beförderte.
In diesem Zeitraum (1938/39) unternahm die deutsche Rüstungsindustrie verstärkte Anstrengungen. Mitte 1938 erblickte der sogenannte Schnellplan, der die Erhöhung der Sprengstoff-, Pulver- und Kampfstofferzeugung forderte, das Licht der Welt. Es hatte sich herausgestellt, dass die produzierte Militärtechnik (Artillerie, Feuerwaffen etc.) der tatsächlichen Verfügbarkeit von Pulver und Sprengstoff davongeeilt und somit ein großer Mangel an Munition abzusehen war. Die Vorgaben (Plansoll) des Heereswaffenamtes waren indessen utopischer Natur und wurden wohl erst Jahre später (1943) erreicht. Bis zum Kriegsbeginn konnte die Produktion jedoch auf 6.500 Tonnen monatlich gesteigert werden. Das entsprach lediglich einem Anteil von 35 Prozent des vorgegeben Zieles.
Synthetischer Treibstoff
Bereits der Erste Weltkrieg deutete die militärische Motorisierung zu Lande und zur Luft an. Völlig neue Waffengattungen – Tanks, Kampfflugzeuge – waren im Entstehen begriffen. Der Rohstoff Erdöl und dessen Verfügbarkeit wurden somit zu einem wesentlichen Faktor der Kriegführung.
Deutschland ging (notgedrungen) einen anderen und sehr kostenintensiven Weg, der die vorhandene große Rohstoffbasis Kohle nutzte. Diese chemisch-technische Entwicklung verband sich mit dem Begriff der Synthese.
Die erste großtechnische Anlage zur synthetischen Treibstofferzeugung basierte auf einem in der IG Farben AG entwickelten Verfahren, der katalytischen Hochdrucksynthese. Die Ammoniakwerk Merseburg GmbH (Leuna), zu 100 Prozent im Eigentum der IG, produzierte ab 1927 synthetisches Benzin. Die Kohlehydrierung (Benzinsynthese) hatte neben dem hohen monetären lnvestitionsaufwand anfänglich mit einer sehr geringen Rentabilität zu kämpfen. Während der schweren Wirtschaftsdepression (1929 – 1932) war sogar von der Stilllegung der Produktionsanlage die Rede.
Im Spätsommer 1933, parallel zur politischen Konsolidierung der Hitlerdiktatur, begannen erste große koordinierte Planungen zur umfassenden Aufrüstung. Die Würfel zum Aufbau einer Treibstoffwirtschaft fielen zugunsten der Kohlehydrierung.
Der damalige Leiter der Sparte I des IG Farben Konzerns, Krauch, hatte in einer Denkschrift (Sommer 1933) an Görings Reichsluftfahrtministerium versichert, dass das Verfahren (katalytische Hochdrucksynthese) auch die qualitativ besonderen Treib- und Schmierstoffe für den Flugzeugmotor liefern könne. Entsprechende Versuche seien bereits bei der Deutschen Lufthansa im Gange. Ende 1933 schlossen das Reichswirtschaftsministerium und die IG Farben (Leuna) den Benzingarantievertrag ab, der zum 1. Juli1934 in Kraft trat. Entscheidend war, dass die Benzinsynthese auf hiesigen Ressourcen (Kohle, Wasser, Luft) basierte und somit adäquate Mengen des Imports von Mineralölen substituierte. Die Fragen der Wirtschaftlichkeit (Kosten) spielten eine absolut untergeordnete Rolle.
Der Vierjahresplan
Am 26. Februar 1935 verfügte die Reichsregierung die Bildung der Luftwaffe, kurz darauf, im März, folgte das Gesetz über den Aufbau der Wehrmacht – der Übergang zur offenen Rüstung vollzog sich. Hitler forderte in einer Denkschrift (Sommer 1936), dass die Wehrmacht und die Wirtschaft in vier Jahren einsatz- resp. kriegsfähig sein müssen, denn die Auseinandersetzung mit Russland, mit dem Bolschewismus, sei unausweichlich. Der Generalbevollmächtigte für den ersten Vierjahresplan (1936 – 1939), Göring, benutzte hier bereits das Vokabular vom totalen Krieg. Es begann die Phase einer intensiven, umfangreichen militärischen Kriegsvorbereitung.
Auf den Gebieten des großen Mangels wie der Metalle, des Kautschuks, der Treibstoffe, der Nahrungsmittel- und Fettversorgung gingen die Bestrebungen dahin, die inländische Erzeugung so zu steigern, dass sie eine relativ zufriedenstellende Selbstversorgung im Kriegsfalle sicherte. Zudem sollten die hierdurch eingesparten Devisen mehrheitlich für den Import des weiter anwachsenden Bedarfs an Erz, Kautschuk, Mineralöl und Lebensmitteln verwandt werden. Fürsorglich galt es ferner, entsprechend große Mengen an Vorräten anzulegen.
Die beabsichtigte Steigerung der Produktion hatte die extensive Erweiterung ihrer Fertigungsstätten zur Voraussetzung. Das in der IG entwickelte Verfahren zur Mineralölerzeugung aus Kohle oder deren Teeren übernahmen viele andere Unternehmen (Lizenznehmer), die teilweise nur zum Zwecke der Benzinerzeugung gegründet worden waren (BRABAG). Es entstanden ab 1937 neben Leuna weitere Hydrieranlagen: Böhlen, Magdeburg, Scholven, Zeitz, Wehlheim und Gelsenberg. Die Produktion von synthetischem Kraftstoff [2] steigerte sich im Vierjahresplanzeitraum um rund 35 Prozent von 460.O00 auf 1.321.000 Tonnen pro Jahr. Der extensive Ausbau der synthetischen Benzinzeugung korrelierte mit der voranschreitenden Motorisierung. Ferner verlangte die Entwicklung der Motortechnik ein entsprechend klopffestes Benzin. ln Gapel (Havelland) und Frose (Salzlandkreis) begann die Erzeugung von hochgiftigem Tetraethylblei als Zusatzkomponente für Benzin, um dessen Oktanzahl (Klopffestigkeit) zu erhöhen. Das Verfahren stammte aus den USA.
Eine nennenswerte Erzeugung von synthetischen Schmierstoffen existierte bis 1939 nicht. Die Schmierölproduktion basierte hauptsächlich auf importiertem Erdöl oder Halbfabrikaten. Die eingeführte Schmierölmenge für Flugmotoren z.B. belief sich 1937 auf 10.O00 Tonnen und 1938 auf 21.000 Tonnen. Mit Kriegsbeginn trat die Verwendung deutschen Erdöls zur Schmierstoffproduktion in den Vordergrund.
Alles in allem: Die Abhängigkeit von lmporten blieb dennoch unverändert hoch. Es galt die unumstößliche Tatsache, dass eine längere Kriegsführung von Seiten der Wehrmacht nicht möglich war. Für die Treibstoffsituation Ende 1939 vermerkte rückblickend der Chef des Wehrwirtschaftsamtes, Thomas, »dass wir nur für einige Monate in den wichtigsten Kraftstoffen noch eine ausreichende Deckung hatten«.
All dessen ungeachtet wähnten sich das OKW und dessen oberster Befehlshaber, Hitler, aufgrund des erreichten rüstungstechnischen Vorsprunges in der Lage, einen kurzen und intensiven Feldzug in der Manier des »Blitzkrieges« zu führen. Die schnelle Niederwerfung des überraschten Gegners sollte unumstößliche Tatsachen schaffen. Die Hasardspieler setzten alles auf diese Karte und warfen die Brandfackel, die den Weltkrieg in Europa entfachte. Am 3. September 1939 erklärten England und Frankreich, entsprechend den Beistandserklärungen gegenüber Polen, Deutschland den Krieg. lm Westen blieb es jedoch im Wesentlichen ruhig.
Anmerkungen:
[1] ln diesem Kontext sei auf den spanischen Bürgerkrieg (1936 – 1939) verwiesen. Die Wehrmacht testete dort unverhohlen ihre neuen Waffen, um sie dann umgehend zu verbessern.
[2] Einschließlich Fischer-Tropsch-Verfahren, das qualitativ guten Dieselkraftstoff lieferte.
Mehr von Wolfgang Biedermann in den »Mitteilungen«:
2016-10: Der Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg − ein Gericht der Völker
2015-03: Immanuel Kants Idee »Zum ewigen Frieden«