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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

75 Jahre Volksrepublik China und 90. Jahrestag des Aufbruchs zum Langen Marsch: Zwei Eckdaten des globalen Wandels

Dr. Wolfram Adolphi, Potsdam

 

Am 1. Oktober feiert die Volksrepublik China den 75. Jahrestag ihrer Gründung. Kein Land, das seine gesellschaftliche Entwicklung mit dem Wort »Sozialismus« verbindet, hat schon einmal einen solchen Jahrestag feiern können. Die Sozialistische Republik Vietnam kommt China mit dem 70. Jahrestag der 1954 endgültig erkämpften Unabhän­gigkeit der Demokratischen Republik Vietnam in Nordvietnam am nächsten. Die Sowjetunion zerfiel, kurz bevor sie Gelegenheit gehabt hätte, 1992 den 75. Jahrestag der Oktoberrevolution von 1917 und den 70. Jahrestag ihrer 1922 ins Werk gesetzten Gründung zu begehen.

Am 24. September 2024 hielt der chinesische Außenminister Wang Yi auf dem Zukunftsgipfel der UNO in New York eine Rede, die auf eindrucksvolle Weise zeigt, was die Welt von diesem seit 75 Jahren bestehenden Staat, der sich den »Sozialismus chi­nesischer Prägung« auf seine Fahnen geschrieben hat, erwarten kann.

Da die Welt vor »beispiellosen Herausforderungen« stehe, müsse dieser Gipfel – so Wang Yi – »die Anstrengungen für Weltfrieden und Entwicklung bündeln« und einen »Plan für die Zukunft der Menschheit« entwickeln. Die »Menschheit« habe »nur einen Planeten Erde«, »wir alle« gehörten »zur gleichen globalen Gemeinschaft«, und daher sei es »lebenswichtig«, dass »wir Sorge tragen für unser gemeinsames Haus« und »zusam­menarbeiten zur Entwicklung eines globalen Regierens.« Den »großen Mächten« komme dabei die Aufgabe zu, als »Propeller der Weltsolidarität« und »Anker des internationalen Friedens zu dienen.«

Wang Yi unterbreitete vier Vorschläge:

Erstens müssten »Frieden und Sicherheit« gewährleistet werden. Niemand bleibe von den Turbulenzen in der Welt unberührt, daher müssten »Solidarität und Zusammenar­beit« das Verhältnis zwischen den Nationen bestimmen. Eine besondere Rolle komme »den Großmächten« zu. Sie vor allem seien aufgefordert, bei Konflikten »auf Dialog« zu setzen »anstatt auf geopolitische Spannungen oder Blockkonfrontationen.«

Zweitens sollten zur Beförderung von »Entwicklung und Wohlstand« alle Länder ihre »Entwicklungsmöglichkeiten miteinander teilen« und durch »win-win-Kooperation« für ein »gemeinsames Gedeihen aller Länder« sorgen. Ausdrücklich ungeeignet sei das Konzept der »kleinen Gärten mit hohen Zäunen, das nur dazu führen könne, die Welt zu spalten.

Drittens gehe es um Fairness und Gerechtigkeit. Alle Länder, »unabhängig von ihrer Größe und Stärke«, seien »gleiche Mitglieder der internationalen Gemeinschaft«. Darum dürfe das »Gesetz des Dschungels« nicht akzeptiert werden, und zu verurteilen seien »Akte des Hegemonismus«, wie sie etwa »einseitige Sanktionen« darstellen. Die »legiti­men Rechte und Interessen der Entwicklungsländer« seien »zu schützen«; es sei »in den internationalen Beziehungen« für »mehr Demokratie« zu sorgen.

Viertens müssten vor dem Hintergrund des »rapiden Fortschritts in der technologischen und industriellen Umgestaltung« – gemeint war insbesondere die Entwicklung künstli­cher Intelligenz (KI) – die Nationen um ein »gerechteres System des globalen Regierens« ringen. China werde die UNO darin unterstützen, als »Hauptkanal im KI-Regieren zu dienen«, und einen »Aktionsplan zum Aufbau von KI-Kapazitäten zum Guten und für alle« unterbreiten.

China werde – so Wang Yi zum Schluss seiner Rede – »Hand in Hand mit Ländern rund um die Welt« an der Errichtung einer »Gemeinschaft mit gemeinsamer Zukunft für die Menschheit« und der »Schaffung eines friedlichen und besseren Morgens« arbeiten. [1]

Programm mit Zukunft und Herkommen

Was für ein Programm! Es hat in der Welt dieser Tage nicht seinesgleichen. So kümmert sich – wird der Welt mitgeteilt – ein Staat um seine und der Welt Zukunft, der allen Grund hat, seine 75 Jahre als wichtige Etappe auf dem Weg heraus aus kolonialer Unterdrückung und Ausbeutung hin zur Wiedererlangung eines gleichberechtigten Plat­zes auf der Welt zu feiern. Und so äußert sich – kann der aufgeschlossene Mensch in der Grundierung dieses Programms erkennen – ein Staat, der diese 75 Jahre fest einge­bettet sieht in die viel längere chinesische Geschichte insgesamt wie auch in deren viel längeres Verquicktsein mit der Geschichte der Welt.

Was ist gemeint mit dem Wort von der Grundierung? China ist an den beiden Kriegen, die gerade das Potential haben, zum Weltkrieg zu eskalieren – am Krieg um die Ukraine und am Krieg in Nahost – nicht beteiligt, so wie es schon seit 45 Jahren an Kriegen nicht beteiligt ist. Das ist eine höchst bedeutungsvolle Qualität, und diese nutzend, bie­tet es, um eben die drohende Eskalation zu verhindern und den Weg für friedliche Streitbeilegung zu ebnen, unentwegt Vermittlung und Verhandlung an.

Und dies nicht aus einer kurzfristigen Interessenlage oder kleinlich-taktischen Erwä­gung heraus, sondern aus einer langen Tradition. Kürzlich war hier in den »Mitteilungen« Gelegenheit, sich des 70. Jahrestages der Proklamation der »Fünf Prinzipien der Friedli­chen Koexistenz« im Jahre 1954 zu erinnern. [2] Die Nachbarländer VR China und Indien hatten einen bilateralen Vertrag unterzeichnet, in dessen Präambel sie diese »Fünf Prin­zipien« verankerten: »(1) gegenseitige Achtung der territorialen Integrität und Souverä­nität des anderen, (2) gegenseitiger Nichtangriff, (3) Gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen, (4) Gleichheit und gegenseitiger Nutzen, und (5) Friedliche Koexistenz.« [3] Ein Jahr darauf, im April 1955, wurden diese Prinzipien auf der Bandung-Konferenz zur Grundlage der Bewegung der Blockfreien – schon damals von dem Bestreben getragen, der allgegenwärtigen Blockbildung eine Auffrischung jenes Menschheitlichen, universell Konzipierten entgegenzusetzen, das in der UNO-Charta von 1945 bereits angelegt war, aber den Blockinteressen zum Opfer zu fallen drohte.

Noch weiter zurück reicht die Idee vom globalen Regieren, von der »Global Governance«. Schon Ende des 19. Jahrhunderts finden wir bei dem chinesischen Refor­mer Kang Youwei die Idee vom »Großen Reich der Einen Welt«, die dem US-amerikani­schen Schwergewicht in der Chinaforschung John King Fairbank zufolge »kosmopoli­tisch war und die ganze Menschheit im Rahmen einer neuen sozialen und kulturellen Ordnung vereinigen sollte.« [4] Auch der kaum weniger namhafte Jonathan D. Spence wür­digte Kang Youwei als einen Mann, der »in seinen visionärsten Abhandlungen […] über die Möglichkeiten einer geeinten Weltregierung [spekulierte]« – einer Organisation, »die allen nationalistischen Feindseligkeiten ein Ende bereiten würde« –, und auch »über den Entwurf eines umfassenden Wohlfahrtsstaates, der die Menschen von der Geburt bis zum Tod beschützen und ernähren sollte.« [5]

Wiedererstehung und Kipppunkt

Natürlich hieße es Eulen nach Athen tragen, hier ein weiteres Mal das Lied vom sensa­tionellen Aufstieg Chinas seit dem Jahre 1978, dem Beginn der mit dem Namen Deng Xiaoping verbundenen Reformen, zu singen. Das ist nun hinlänglich bekannt, das pfei­fen die Spatzen von den Dächern. Aber weil das allseits Bekannte in der Welt so gegen­sätzliche Reaktionen auslöst, soll es hier einmal unter anderen Blickwinkeln betrachtet werden, wozu die gleichzeitige Behandlung der Jahrestage von Volksrepubliksgründung und Aufbruch zum Langen Marsch gute Gelegenheit bietet.

Der »Aufstieg« Chinas wird – so erklärt uns Hauke Neddermann in seinem schönen Artikel »Zur Gegenwart der Geschichte« in der Beilage »Volksrepublik China« der »jun­gen Welt« vom 25. September 2024 – in der chinesischen Selbstdarstellung selten als solcher bezeichnet. Nicht von »Aufstieg« (jueqi) ist da die Rede, sondern von »Wiederer­stehung« (fuxing), mithin – so Neddermann – vom »Ende eines Ausnahmezustandes«. Während »ein ›Aufstieg‹ bloß in etablierte internationale Ordnungsmuster hineinführen würde«, scheine »im chinesischen Selbstbild des ‚Wiedererstehens‘ eine störrische Nichtunterwerfung auf, ein ›Nie wieder‹ des einst« – vom 19. Jahrhundert bis zum Zwei­ten Weltkrieg – »Entmachteten, als Wille und Anspruch, die künftige Ordnung der Welt entscheidend mitzugestalten.« [6]

Nun hat es die Ökonomie mit sich gebracht – und allen Marx-Ignoranten zum Trotz ist es immer wieder die Ökonomie, aber natürlich nicht »an sich«, sondern in ihrer konkre­ten gesellschaftlichen Gestaltung –, dass diese »Wiedererstehung« eine entscheidende Rolle dabei spielt, dass der Anteil des globalen Südens an der Summe der Brutto­inlandsprodukte (BIP) der Welt so groß geworden ist, dass die Menschheit an einem Kipppunkt steht. Die Kurve des globalen Südens geht nach oben, die des Westens nach unten; gerade – will sagen: in einem Zeitkorridor von ein bis zwei Jahrzehnten – treffen sie sich. China ist mit seinem BIP fast auf dem Niveau der USA angelangt und wird seriösen Prognosen zufolge im Jahre 2030 mit rund 26 Billionen US-Dollar an den USA mit rund 23 Billionen vorbeigezogen sein. Im Jahre 2050 wird eine Relation von 50 Billi­onen zu 34 Billionen US-Dollar zugunsten Chinas erwartet. Zugleich wächst auch das Gewicht weiterer bedeutender sogenannter Schwellenländer gegenüber den Industrie­staaten des Westens. Indien wird schon 2030 mit 7,8 Billionen US-Dollar Japan mit 5,4 Billionen, Deutschland mit 4,3 Billionen und Großbritannien mit 3,5 Billionen US-Dollar überholt haben, und nimmt man den globalen Süden als Ganzes, so zeichnet sich für 2030 ein Verhältnis von rund 42 Billionen zu rund 38 Billionen US-Dollar und 2050 sogar von über 100 Billionen zu rund 60 Billionen US-Dollar zu seinen Gunsten ab. [7]

Die chinesische Führung wird nicht müde zu betonen, dass ihre Anstrengungen zur Steigerung von Wirtschaftskraft und Wohlstand der Bevölkerung nicht gegen irgendje­mand gerichtet sind, sondern einzig darauf, ein Niveau zu erreichen, wie es im Westen herrscht und als völlig normal gilt. Damit aber ist der Westen in Gestalt seiner einzelnen staatlich organisierten Machtblöcke und seines sowohl durch multi- und transnationale Konzerne als auch durch multinationale politische und militärische Organisationen for­mierten Gesamtmachtblocks vor eine ihm bisher nicht bekannte Herausforderung gestellt: Er muss sich in einer Welt arrangieren, in der sich der bisher von ihm unter­drückte und ausgebeutete Teil der Menschheit auf eine ihn – den Westen – einschrän­kende Weise emanzipiert und seinen eigenen Anteil an den Lebensgrundlagen der gesamten Menschheit mit wachsender Kraft einfordert.

Kontinuität von Dünkel und Feindseligkeit

Die bisherige Antwort des Westens auf diesen globalen Wandel, der im Verständnis der chinesischen Führung mit der wirklichen Zeitenwende des Endes der Ost-West-Blockkon­frontation 1989/90 begonnen hat, besteht in Krieg, geopolitischer Konflikteskalation und Beschwörung einer »Systemrivalität«. Das ist ein anderes Wort für Blockkonfronta­tion, und die das wollen, gehen nicht von einer Menschheit als Ganzes aus, sondern von einer gespaltenen Menschheit, einer Menschheit, in der sich »das Gute« hier und »das Böse« da unversöhnlich gegenüberstehen. Das ist – Wang Yi hat es diplomatisch zurück­haltend, aber deutlich zum Ausdruck gebracht – das Gegenteil von Global Governance.

Die Kontinuität solchen menschheitsspaltenden Denkens ist viel größer, als das seine Protagonistinnen und Protagonisten wahrhaben wollen. Zumal in Deutschland – und nur von dem soll hier, weil der Platz zu mehr nicht ausreicht, die Rede sein.

Allgemein bekannt sind, was Deutschland und China betrifft, die von chauvinistisch-dumpfem Dünkel triefenden Worte Kaiser Wilhelms II. bei der Verabschiedung der deut­schen Truppen zur Niederschlagung des chinesischen Boxeraufstandes in Bremerhaven am 27. Juli 1900: »Kommt ihr vor den Feind, so wird er geschlagen. Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht. Wer euch in die Hände fällt, sei in eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutschlands in China in einer solchen Weise bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.« [8] Im schon erwähnten Artikel von Hauke Neddermann sind Feldpostbriefe von deutschen Soldaten zitiert, die zeigen, dass des Kaisers aggressive Parolen verdammt ernst genommen worden sind. »Liebe Mutter, am 26. August haben wir 400 Chinesen erschossen. […] Erst haben sie ihre Löcher graben müssen, und dann wurden sie erschossen. Es war graulich anzusehen, aber uns macht es Vergnügen.« [9]

Der Weg von dort zur nazi-faschistischen Sicht auf China war nicht weit. Schaut man in die deutsche bürgerliche Presse Anfang der 1930er Jahre, ist von der revolutionären Bewegung in China vor allem in einer Mischung aus grober Abfälligkeit und lügenhafter Schreckgespenstmalerei zu lesen. Unkenntnis, Dämonisierung und zugleich ein klares Erkennen des fundamentalen und globalen Gegensatzes zwischen dem Eigenen und dem, was die Kommunisten wollten, gingen Hand in Hand. [10]

Der Lange Marsch im Klassenblick

Und so auch beim Langen Marsch, dem legendär gewordenen, vor 90 Jahren, am 16. Oktober 1934, begonnenen Ausbruch der von der KPCh – der Gongchandang – geführ­ten chinesischen Roten Armee aus der Umklammerung der zu ihrer Vernichtung ange­tretenen, weit überlegenen Truppen der Guomindang.

Der Marsch selbst ist oft beschrieben worden. [11] Aber was war in Deutschland – oder in deutscher Sprache im antifaschistischen Exil – darüber zu lesen?

Am 16. April 1935 – da war der Lange Marsch ein halbes Jahr im Gange – schrieb die in Mannheim erscheinende Zeitung Hakenkreuzbanner. Das nationalsozialistische Kampf­blatt Nordwestbadens unter der Überschrift »Kommunistenkrieg in Fernost« von erneu­ten »schweren Kämpfen zwischen den Regierungstruppen Tschiang-Kai-Tscheks [Jiang Jieshis] und dem Kommunistenstaat in der Provinz Kiangsi [Jiangxi]«, der »an Ausdeh­nung größer als das Deutsche Reich« sei und »mehr als 50 Millionen Einwohner« zähle. Das war sachlich falsch: Das zentrale Sowjetgebiet im Grenzgebiet der Provinzen Jiangxi und Fujian, das im Übrigen nur etwa 60.000 Quadratkilometer groß war und eine Bevölkerung von 4 bis 5 Millionen Menschen zählte, [12] war ja eben – wie oben ausgeführt – im Oktober 1934 aufgegeben worden. Die »schweren Kämpfe« ereigneten sich daher mit den auf dem Marsch befindlichen Truppen westlich von Jiangxi, in den Provinzen Hunan und Guizhou, auch nordwestlich, in der Provinz Sichuan.

Aber richtig war die dann von der Zeitung getroffene Einschätzung, wonach die Kämpfe der Guomindang gegen die Kommunisten »nicht nur lokale Bedeutung« hätten, sondern »die politische Gestaltung des asiatischen Kontinents« insgesamt beeinflussten, indem sie sich »letzten Endes nicht nur gegen bestimmte rote Machthaber in Fukien [Fujian] oder Kiangsi [Jiangxi] [richteten], sondern gegen die Hammer- und Sichelstandarte als solche.« In der »unwegsamen Landschaft südlich von Jangtsetiang« – das klingt, als ob es um eine Stadt ginge, gemeint war aber der Fluss Yangzijiang – habe sich »eine provi­sorische rote Zentralregierung« gebildet, »die sich allmählich mit Hilfe Moskaus zu einer Art von Sowjetrepublik entfaltete«. »Chef dieses Staats« sei der »General Mao Chu-Teh« geworden, »ein noch junger Zögling der Moskauer Propaganda-Universität für den fernen Osten und, wie es heißt, ein Freund und persönlicher Schützling Stalins«. »Chuh-Teh« habe sich »dank einer ihm von Stalin geschenkten Radiostation in direkter Verbindung mit Moskau befunden« und »von dort seine Instruktionen« erhalten. Durch seine Armee sei »der Brandherd der Unruhe tiefer ins Innere Asiens getragen« worden, und »hätte Japan nicht eingegriffen und den bolschewistischen Vorstoß im Norden, in der Mand­schurei, zurückgeschlagen«, so wäre »Marschall Tschiang-Kai-Tschek [Jiang Jieshi] heute kaum in der Lage gewesen, einen Vernichtungskampf gegen den Kommunistenstaat in Kiangsi [Jiangxi] zu eröffnen.« In diesem Kampf seien mittlerweile »viele Hunderte der Roten […] getötet« worden, darunter »auch der rote Generalissimus Chu-Teh«. [13]

Wie soll man das Lügen- und Halbwahrheitengespinst entwirren? Es gab keinen »Mao Chu-Teh«, sondern Mao Tse-tung (Mao Zedong) und Chu Teh (Zhu De), keiner von beiden war »Zögling der Moskauer Propaganda-Universität« oder »Freund und persönlicher Schützling Stalins«, und keiner von beiden ist 1935 getötet worden. Aber das Feindbild stimmte. Und der »Vernichtungskampf«, den sich Jiang Jieshi und die Guomindang auf die Fahnen geschrieben hatten und der hier offen als solcher benannt und gepriesen wurde: Er kostete in der Summe Hunderttausende das Leben und endete doch in der Niederlage.

Die Kommunisten schlugen sich bis nach Yan’an in den Lößbergen der Provinz Shaanxi durch, errichteten im Grenzgebiet der Provinzen Shaanxi, Ningxia und Gansu ihr neues »Sondergebiet« und entwickelten es zum politischen, militärischen und geistig-kulturel­len Zentrum des anti-japanischen Befreiungskriegs wie auch zur Keimzelle der späteren Volksrepublik.

Einer, der die welthistorische Bedeutung dieser Entwicklungen erahnte, war der deut­sche Kommunist Heinz Grzyb alias Asiaticus, der in der im antifaschistischen Exil in Prag und Zürich erscheinenden »Neuen Weltbühne« am 13. Juni 1935 unter der Über­schrift »Die Roten in Szechuan« (Sichuan) darüber schrieb, dass es »den Roten« unter schweren Kämpfen »gelungen« sei »den Jangtse (Yangzi) zu überqueren.« Diese Leis­tung sei, kommentierte er, »gigantisch«, die »gestellte Aufgabe« sei »strategisch glän­zend gelöst« worden, die Kämpfe »todesmutig durchgeführt«, ja, »in den Annalen der revolutionären Kämpfe« finde sich »kein ähnlich tapferer Feldzug«. Optimistisch sagte er voraus, dass »diese rote Armee, die von Chu Te [Zhu De] kommandiert und von Mao Tse-Tung [Mao Zedong], dem Vorsitzenden der chinesischen Sowjetregierung, geführt wird, der anderen roten Armee entgegen [eile], die [unter Führung von Zhang Guotao] vom Nordwesten Szechuans (Sichuans) nach dem Süden strebt«, und obwohl ganz sicher »noch schwere Kämpfe« bevorstünden, seien doch »in diesem Augenblick« die »Fundamente für den großen, epochemachenden Neubau Chinas gelegt« worden. [14]

Und noch ein zweiter deutscher Kommunist soll zum Langen Marsch zitiert sein: Otto Braun. Der hatte – als einer von ganz wenigen Ausländern – als Militärberater an die­sem Marsch teilgenommen, lebte später in der DDR und schrieb in seinen »Chinesi­schen Aufzeichnungen«, die er – veröffentlicht in der Zeit der chinesischen Kulturrevo­lution und des chinesisch-sowjetischen Konflikts – ausdrücklich »als Waffe […] im Kampf gegen den Maoismus« [15] verstanden wissen wollte: Der Marsch habe – obwohl »in seinem Verlauf der primitive Bauern- und Soldatenkommunismus, wie ihn Mao Tse-tung predigte, neue Nahrung« erhalten habe und »der nicht weniger heldenmütig und mit noch größeren Opfern geführte Kampf der chinesischen Arbeiterklasse in den Groß­städten und Industriezentren […] dahinter völlig zurück[getreten]« sei – »politisch be­trachtet dennoch einen Sieg der chinesischen Roten Armee« bedeutet. Sie hätte »einer ungeheuren Übermacht feindlicher Truppen getrotzt«, deren »befestigte Stellungen und Einkreisungen durchbrochen, sie Dutzende Male geschlagen und Hunderte Male aus­manövriert«. Es seien »10.000 Kilometer zurückgelegt, 12 Provinzen durchquert« und »18 Gebirgszüge überwunden« worden, »von denen fünf mit ewigem Eis und Schnee bedeckt waren«, und man habe »24 breite Flüsse überschritten«. Das sei »eine bleiben­de Leistung, die von großer Tapferkeit, der zähen Ausdauer und dem revolutionären Elan aller Kämpfer der chinesischen Roten Armee« zeuge. [16]

75 Jahre VR China, 90. Jahrestag des Beginns des Langen Marsches, 103 Jahre KPCh (Gongchandang) – das alles ist Hintergrund für eine chinesische Weltpolitik, der mit Ignoranz, Dünkel und »systemischer« Feindseligkeit zu begegnen so kurzsichtig wie selbstzerstörerisch ist.

26. September 2024

 

Anmerkungen:

[1] Internet: CGTN (China Global Television Network), 24. Sept. 2024, 2:47 PM: Wang Yi calls on major countries to be ‘propellers’ of world unity. (Aufruf 25.09.2024, Übersetzung ins Deutsche W. A.)

[2] Adolphi, Wolfram: 70 Jahre »Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz«, in: Mitteilungen der Kommunistischen Plattform, Berlin, Nr. 4/2024.

[3] Zit. nach: Handbuch der Verträge 1871-1964, hgg. v. Helmuth Stoecker unter Mitarbeit von Adolf Rüger, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin (DDR) 1968, S. 558.

[4] Fairbank, John King, Geschichte des modernen China 1800-1985, aus dem Amerikanischen v. W. Theimer, München 1989, S. 143.

[5] Spence, Jonathan D., Chinas Weg in die Moderne, aus dem Amerikanischen v. Gerda Kurz u. Siglinde Summerer, München 1995, S. 320.

[6] www.jungewelt.de/beilage/art/484332.

[7] Zahlen nach https://de.statista.com (Aufruf 16.09.2024).

[8] Hier zitiert nach Wikipedia, Eintrag »Boxeraufstand« (Aufruf 16.09.2024).

[9] www.jungewelt.de/beilage/art/484332.

[10] Vgl. dazu die von mir verfasste Artikelserie »Wie Mao in deutsche Köpfe kam«, Teil I-XX, in: www.das-blaettchen.de, Nr. 15/2023 – Nr. 13/2024.

[11] Siehe etwa meinen quellenreichen Eintrag »Langer Marsch« im Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus (HKWM), Band 8/I, Hamburg 2012, http://inkrit.de/neuinkrit/index.php/de/publikationen/hkwm.

[12] Vgl. Braun, Otto, Chinesische Aufzeichnungen (1932-1939), Berlin (DDR) 1976, S. 25.

[13] Die Zitate nach: Adolphi, Wolfram, Wie Mao in deutsche Köpfe kam (IV), in: www.das-blaettchen.de, Nr. 18/2023.

[14] Die Zitate nach: Ders., Wie Mao in deutsche Köpfe kam (V), in: a. a. O., Nr. 19/2023. – Zu Heinz Grzyb alias Asiaticus, der im November 1941 an der Seite chinesischer Partisanen im Kampf gegen die japanischen Aggressionstruppen zu Tode kam, Ausführliches auf meiner Website https://asiaticus.de.

[15] Braun, Otto, Chinesische Aufzeichnungen, a. a. O., S. 367.

[16] Ebenda, S. 201.

 

Mehr von Wolfram Adolphi in den »Mitteilungen«: 

2024-04: 70 Jahre »Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz«

2023-09: Wer den Atomkrieg nicht will, muss alle Kriege stoppen

2023-06: Xi Jinping wird 70