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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

70 Jahre »Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz«

Dr. Wolfram Adolphi, Potsdam

 

Vor 70 Jahren, am 29. April 1954, wurde in Beijing ein Vertrag unterzeichnet, der auf den ersten Blick eher unspektakulär anmutet: »Vertrag zwischen der Volksrepublik China und der Republik Indien über den Handel und den Verkehr zwischen der Tibet-Region von China und Indien«. Geregelt wurden der Austausch von Handelsvertretun­gen und der Handel von Kaufleuten beider Staaten, des weiteren Pilgerreisen und Pass­bestimmungen. Politisch unmittelbar bedeutsam war die Formulierung »Tibet-Region von China«, weil mit ihr die am 23. Mai 1951 mittels einer »Vereinbarung der Zentralen Volksregierung und der Lokalen Regierung Tibets über Maßnahmen zur friedlichen Befreiung Tibets« vollzogene Wiedereingliederung des seit 1912 de facto unabhängigen, aber in dieser Unabhängigkeit international von niemand anerkannten Tibet in das Staatsgebiet Chinas indischerseits akzeptiert wurde.

Von der Präambel zur Grundsatzmaxime

Das war für die chinesisch-indischen Beziehungen sehr viel, zeugte es doch von der Fähigkeit der beiden noch jungen Regierungen – Indien hatte 1947 seine Unabhängig­keit von der Kolonialmacht Großbritannien erkämpft, die Volksrepublik China war am 1. Oktober 1949 gegründet worden –, ihre bilateralen Verhältnisse in sehr bewegter Zeit neu zu gestalten. Aber noch weit über dieses hinaus machte der Vertrag Furore wegen seiner Präambel. Dort verpflichteten sich beide Seiten, ihre Beziehungen auf folgende Prinzipien zu gründen:

»(1) Gegenseitige Achtung der territorialen Integrität und Souveränität des anderen, (2) Gegenseitiger Nichtangriff, (3) Gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angele­genheiten des anderen, (4) Gleichheit und gegenseitiger Nutzen, und (5) Friedliche Koexistenz.« [1]

Dieser auch als »Pancha Shila« bekannte Grundsatzkomplex »Fünf Prinzipien der friedli­chen Koexistenz« sollte in den kommenden Jahren und Jahrzehnten aufs Ganze gesehen zu einer zentralen Säule des globalen Wirkens der antikolonialen Befreiungs- und Unab­hängigkeitsbewegung werden. Aufs Ganze gesehen – denn im je Einzelnen der vielen beteiligten Staaten gab es ein dramatisches, konfliktreiches Auf und Ab, auch zwischen China und Indien, die 1962 einen die Beziehungen auf Jahrzehnte vergiftenden Grenz­krieg im Hochgebirge gegeneinander führten. Und doch: 60 Jahre nach dem Vertrag von 1954, am 21. Mai 2014, konnte Xi Jinping auf dem Shanghaier Gipfeltreffen der Konferenz über Zusammenarbeit und vertrauensbildende Maßnahmen in Asien (CICA), die 28 Staaten einschließlich Indien miteinander verbindet, erklären, dass China »fest entschlossen« sei, »den Weg der friedlichen Entwicklung zu gehen, eine Öffnungsstrate­gie des gemeinsamen Gewinnens zu verfolgen sowie die freundschaftlichen Beziehun­gen und die Zusammenarbeit mit anderen Ländern auf der Grundlage der Fünf Prinzi­pien der friedlichen Koexistenz zu entwickeln.« [2]

Bandung 1955: Das Neue scheint auf

Diese jetzt wieder aufgerufene weltweite Wirkung entfalteten die »Fünf Prinzipien« erst­mals auf der Konferenz von Bandung, die vom 18. bis 24. April 1955 in der indonesi­schen Stadt dieses Namens tagte. Eingeladen hatten Burma, Ceylon, Indien, Indonesien und Pakistan, und weitere 24 afro-asiatische Länder waren gekommen. Sie seien hier alle genannt – sowohl, um die Linien zu heutigen Kooperationsstrukturen des »globalen Südens« wie etwa CICA oder BRICS sichtbar zu machen, als auch, um Brüche, Kriege, Zerstörung durch Imperialismus, Neokolonialismus und ungelöste regionale Konflikte ins Bewusstsein zu rufen: Ägypten, Äthiopien, Afghanistan, Volksrepublik China, Ghana (damals Goldküste), Iran, Irak, Japan, Jemen, Jordanien, Kampuchea, Laos, Libanon, Liberia, Libyen, Nepal, Philippinen, Saudi-Arabien, Sudan, Syrien, Thailand, Türkei, Demokratische Republik Vietnam, Süd-Vietnam.

Die Bandung-Konferenz verabschiedete eine »Deklaration über die Förderung des Welt­friedens und der Zusammenarbeit«. Darin hieß es, dass man sich »eingehend mit der Frage des Weltfriedens und der Zusammenarbeit befasst« und »mit tiefer Sorge den augenblicklichen Stand der internationalen Spannung mit der Gefahr eines Atomkrieges geprüft« habe. »Alle Staaten [sollten], besonders über die Vereinten Nationen, zusam­menarbeiten, um eine Verminderung der Rüstungen und die Vernichtung der Atomwaf­fen unter wirksamer internationaler Kontrolle zu erlangen.« Abrüstung und Friedensför­derung würden »dazu beitragen, besonders die Bedürfnisse Asiens und Afrikas zu befriedigen«, denn was sie dringend brauchten, seien »sozialer Fortschritt und bessere Lebensbedingungen in größerer Freiheit.« »Freiheit und Frieden« wiederum seien »von­einander abhängig«. »Alle Völker« müssten »das Recht auf Selbstbestimmung haben«, »Freiheit und Unabhängigkeit« müssten »so schnell wie möglich allen noch abhängigen Ländern gewährt werden«, und »alle Nationen sollten tatsächlich das Recht haben, ihr eigenes politisches und wirtschaftliches System und ihre eigene Lebensweise in Über­einstimmung mit den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen frei zu wählen«.

»Freundschaftliche Zusammenarbeit« sollte weltweit entwickelt werden »auf der Grund­lage folgender Prinzipien«: »1. Achtung vor den fundamentalen Menschenrechten und den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen. 2. Achtung vor der Souveränität und territorialen Integrität aller Nationen. 3. Anerkennung der Gleichheit aller Rassen und der Gleichheit aller Nationen, kleiner und großer. 4. Verzicht auf Inter­vention oder Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes. 5. Achtung vor dem Recht jeder Nation, sich allein oder kollektiv in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen zu verteidigen. 6. (a) Verzicht auf den Gebrauch von Vereinbarungen über kollektive Verteidigung, die den besonderen Interessen einer der Großmächte dienen. (b) Verzicht jedes Landes darauf, auf andere Länder Druck auszuüben. 7. Verzicht auf Aggressionsakte oder -drohungen oder den Gebrauch von Gewalt gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit irgendeines Landes. 8. Regelung aller internationalen Streitfragen durch friedliche Mittel. […] 9. Förderung der gegenseitigen Interessen und Zusammenarbeit. 10. Achtung vor dem Recht und den internationalen Verpflichtungen.« [3]

Die Verbindung der Deklaration mit den »Fünf Prinzipien« ist augenfällig, die gemeinsa­me Teilnahme der beiden großen, durch ein sozialistisches Entwicklungskonzept hier und ein kapitalistisches da geprägten Länder China und Indien war von großem Gewicht. Das »sozialistische Lager« war außer durch China auch durch die Demokrati­sche Republik Vietnam präsent. »Für die VR China« – so schrieben die Verfasser der in der DDR am Beginn der Nach-Mao-Epoche erarbeiteten Chronik »Die Volksrepublik China 1949-1979« im Jahre 1980 – war »Bandung ein wichtiges Ereignis bei der Anbah­nung, Entwicklung und beim Ausbau ihrer politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu den afrikanischen und asiatischen Ländern«. Die »internationale Autorität« des Lan­des habe sich »beträchtlich« gefestigt. Chinas »Eintreten für die Durchsetzung der Prin­zipien den friedlichen Koexistenz, den Kampf gegen den Kolonialismus, für die Einlei­tung konkreter Schritte zur Festigung des Friedens, für Abrüstung und für ein Verbot der Herstellung, Erprobung und Anwendung von Massenvernichtungswaffen« habe in der Abschlussdeklaration seinen Niederschlag gefunden. »Gleichzeitig« aber sei Ban­dung »für die nationalistischen Kräfte in der chinesischen Führung« auch »zum Aus­gangspunkt für die Entfaltung einer Politik« geworden, die »auf die Bildung eines Blocks der Länder der ‚dritten Welt‘ unter Führung Chinas« ziele. [4] Mit dieser Wertung hatten die Autoren die 1960er und 1970er Jahre im Blick. Für den chinesischen Auftritt in Ban­dung hatten sie einen weiteren Eintrag in ihrer »Chronik« parat: Zhou Enlai habe auf der Konferenz erklärt, dass sein Land »keinen Krieg mit den USA wolle und bereit sei, Ver­handlungen zu führen, um die Frage der Minderung der Spannungen im Fernen Osten und besonders im Gebiet von Taiwan zu beraten«. [5]

Um Bandung herum: Der Westen bildet Blöcke

Das unerhört Neue der Bandung-Konferenz – dieser großen Wortmeldung des »globalen Südens« – erhellt aus dem Kontext vieler anderer, den Systemkonflikt zwischen Sozialismus und Kapitalismus spiegelnden internationalen Konferenzen und Verträge dieser Zeit. Am 27. Juli 1953 wurde das Waffenstillstandsabkommen von Panmunjom, mit dem der 1950 begonnene Koreakrieg beendet wurde, von den Chefdelegierten der koreanisch-chinesischen und der US-amerikanischen Seite unterzeichnet. [6] Auf diesen Friedensakt reagierten die USA nur wenig später, am 1. Oktober 1953, mit dem Abschluss eines Militärpakts mit Südkorea. [7-12] Vom 15. Januar bis 28. Februar 1954 tagte die Berliner Konferenz der Außenminister der UdSSR, der USA, Großbritanniens und Frankreichs, bei der es außer um die deutsche Frage, den österreichischen Staatsvertrag und die europäische Sicherheit auch um die Einberufung einer Außenministerkonferenz der genannten Staaten unter Teilnahme der VR China ging. [7-12] Diese fand dann als Genfer Außenministerkonferenz über Korea und Indochina vom 26. April bis 21. Juli 1954 statt. Die Verhandlungen über Korea blieben ohne Ergebnis; die über Indochina waren bestimmt durch die militärischen Siege der vietnamesischen Befreiungsbewegung (Kapitulation der Festung Dien Bien Phu am 7. Mai 1954) und die wachsende Stärke der Opposition in Frankreich selbst, die die französische Regierung zwangen, den Indochinakrieg gegen Vietnam, Laos und Kampuchea einzustellen und ihre Kolonialbesitzungen in Indochina aufzugeben. [7-12]

Wiederum nur kurze Zeit später – am 8. September 1954 – schlossen die USA, Großbri­tannien, Frankreich, Australien, Neuseeland, Pakistan, die Philippinnen und Thailand den Südostasien-Pakt (SEATO). [7-12]Am 3. Oktober 1954 endete die Londoner Neun-Mächte-Konferenz, mit der die Einbeziehung der Bundesrepublik Deutschland und Itali­ens in das westliche Militärpaktsystem vorangetrieben wurde. [7-12] Vom 19. bis 23. Okto­ber 1954 wurden die dem gleichen Ziel dienenden Pariser Verträge schlussverhandelt und unterzeichnet. [7-12] Auf der anderen Seite verabschiedete am 2. Dezember 1954 in Moskau eine Konferenz von Vertretern der UdSSR, Polens, der Tschechoslowakischen Republik, der DDR, Ungarns, Rumäniens, Bulgariens und Albaniens sowie eines Beob­achters der Volksrepublik China eine Deklaration, in der es u. a. hieß: »Eine wirkliche Sicherheit in Europa kann nur dann gewährleistet sein, wenn an Stelle abgeschlossener militärischer Gruppierungen der einen europäischen Staaten gegen die anderen euro­päischen Staaten ein System der kollektiven Sicherheit in Europa geschaffen wird.« [13] Diese Idee fand in Europa 20 Jahre später mit der Konferenz von Helsinki 1975 eine Verwirklichung (jedoch nicht gegen die Militärblöcke, sondern mit ihnen), von der der Machtblock des Westens heute aber nichts mehr wissen will. Und ebenfalls am 2. Dezember 1954 unterzeichneten die USA und die Guomindangregierung von Taiwan, die sich als einzig legitime Regierung ganz Chinas betrachtete und Chinas UNO-Sitz in­nehatte, einen »Vertrag über gemeinsame Verteidigung«. [14-15] Am 24. Februar 1955 schlossen die Türkei und der Irak ein Abkommen, das durch den Beitritt Großbritan­niens, Pakistans und Irans zur Mittelöstlichen Paktorganisation METO wurde. [14-15]

Im Blick auf diese Zeit der Blockkonfrontation wird deutlich, warum »Zeitenwende« für die chinesische Führung nicht – wie die NATO das meint – für den russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 steht, sondern für den 1989/90 mit dem Ende der Sowjetunion und der Militärorganisation des Warschauer Vertrages eingeläuteten Wandel, von dem sie trotz der westlichen Beschwörung einer neuen Blockkonfrontation hartnäckig hofft, dass er einer der Überwindung der Blöcke hin zu Frieden, Entwicklung und Multipolarisierung des internationalen Systems sein möge. In diesem Sinne stehen die Äußerungen Xi Jinpings auf dem 20. Parteitag der KPCh im Oktober 2022, wonach China für »echten Multilateralismus« eintrete, »jeder Form von Unilateralismus, Protektio-nismus und Tyrannei« entgegenwirke, »die Herausbildung neuartiger internationaler Beziehungen« fördere und sich »aktiv an der Reform und Ausgestaltung des Global Governance Systems« beteilige [16], in der Tradition von Bandung. Ja: Es gibt solche langen Bögen in der Weltpolitik.

21. März 2024

 

Anmerkungen:

[1] Zit. nach: Handbuch der Verträge 1871-1964, hgg. v. Helmuth Stoecker unter Mitarbeit von Adolf Rüger, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin (DDR) 1968, S. 558.

[2] Xi Jinping, Ein neuer Ansatz für die asiatische Sicherheitskooperation. Rede auf dem 4. CICA-Gipfeltreffen in Shanghai, 21. Mai 2014, in: Ders., China regieren, Verlag für fremdsprachige Literatur, Beijing 2014, S. 434-442, hier: S. 441.

[3] Zit. nach: Handbuch der Verträge, a. a. O., S. 594.

[4] Die Volksrepublik China 1949-1979. Eine kommentierte Chronik, zusammengestellt von Jürgen Hafemann, Bernd Jordan, Rainar Mielke, bearbeitet von Roland Felber und Bernd Kaufmann, Dietz Verlag Berlin (DDR) 1980, S. 66.

[5] Ebenda, S. 67.

[6] Vgl. Handbuch der Verträge, a. a. O., S. 541-545.

[7-12] Vgl. ebenda, S. 547 f., 548-551, 559-565, 567-569, 569-573 bzw. 574-586.

[13] Vgl. ebenda, S. 586-588; Zitat S. 587.

[14-15] Vgl. ebenda, S. 588 bzw. 590-592.

[16] http://de.china-embassy.gov.cn/det/zt/20parteitag/202210/t20221026_10792297.htm (Aufruf 21.03.2024).

 

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