150 Jahre »Manifest der Kommunistischen Partei«
Ellen Brombacher, Berlin
Anlässlich des 150. Jahrestages des Erscheinens des Kommunistischen Manifests im Februar/März 1848 fand – ebenfalls im Februar und organisiert durch die DKP – eine Veranstaltung im Großen Saal der damals noch nicht abgerissenen ehemaligen SED-Parteihochschule Karl Marx statt, auf der als Vertreterin der Kommunistischen Plattform der PDS auch Genossin Ellen Brombacher ein Referat hielt. Inzwischen ist ein Vierteljahrhundert vergangen. Wir dokumentieren - in der Printausgabe gekürzt [1] - diese 1998 gehaltene Rede. (Red.)
Am 1. Mai 1890 schrieb Friedrich Engels angesichts der Erfolge des europäischen und amerikanischen Proletariats im Vorwort zur deutschen Ausgabe des Kommunistischen Manifests: »Stände nur Marx noch neben mir, dies mit eigenen Augen zu sehen!«
Wer von uns hätte 100 Jahre später, zum 1. Mai 1990, wohl ähnliches sagen mögen? Der erste sozialistische Versuch auf deutschem Boden war faktisch schon abgebrochen. Ab 1. Juli regierte auch auf dem Alex wieder die Deutsche Bank. Noch existierte die Sowjetunion. Doch sie war in jeder Hinsicht heruntergekommen. Von der Elbe bis Wladiwostok brach jene Welt zusammen, die mit dem Oktober 1917 ihren hoffnungsvollen Anfang genommen hatte.
In Europa zumindest war der sozialistische Versuch des 20. Jahrhunderts gescheitert. Hatten jene recht behalten, mit denen Marx und Engels im Kommunistischen Manifest polemisierten? »Man hat eingewendet«, so schrieben sie, »mit der Aufhebung des Privateigentums werde alle Tätigkeit aufhören und eine allgemeine Faulheit einreißen. Hiernach«, so weiter, »müsste die bürgerliche Gesellschaft längst an der Trägheit zugrunde gegangen sein; denn die in ihr arbeiten, erwerben nicht, und die in ihr erwerben, arbeiten nicht. Das ganze Bedenken läuft auf die Tautologie hinaus, dass es keine Lohnarbeit mehr gibt, sobald es kein Kapital mehr gibt.«
Nicht minder scharf als diese Logik erwiesen sich die Schwierigkeiten, einer vollkommen neuen, sozialistischen Arbeitsmoral ins Leben zu verhelfen. Lenin ahnte wohl die ganze Tragweite dessen, als er 1920 in »Von der Zerstörung einer jahrhundertealten Ordnung zur Schaffung einer neuen« formulierte: »Eine neue Arbeitsdisziplin, neue Formen der gesellschaftlichen Bindung zwischen den Menschen, neue Formen und Methoden der Heranziehung der Menschen zur Arbeit schaffen – das ist eine Aufgabe von vielen Jahren und Jahrzehnten.« Selbst Jahrzehnte haben sich als ein historisch kurzer Zeitraum erwiesen. Jeder andere Formationswechsel hatte seine ökonomische Vorbereitung im Schoße der alten politischen Ordnung gefunden. Nunmehr begann die Ausgestaltung der neuen ökonomischen Verhältnisse erst nach der Ergreifung der politischen Macht. Alles war Neuland. Über Nacht entfielen wesentlich jene Ausbeutungsmechanismen, die in der bisherigen Menschheitsgeschichte Produktivität befördert hatten. Plötzlich, nach fünftausend Jahren sich abwechselnder Ausbeutungsformen, musste die Gewohnheit erzeugt werden, für das Gemeinwohl zu arbeiten. Ein unglaublicher Anspruch, ein weltgeschichtliches Experiment. Und dies ohne jede Ruhe. Das internationale Kapital bekämpfte den ersten nachhaltigen Versuch, den Profitmechanismus außer Kraft zu setzen, mit allen erdenklichen Mitteln. Diese Umstände beförderten auch eine exzessiv machtorientierte Ordnung, wie sie sich unter Stalin entwickeln konnte und jene unverzeihlichen Exzesse einschloss, die ihre grausame Eigendynamik entwickelten und die die kommunistische Bewegung bis in die Gegenwart hinein diskreditieren.
Unser Versuch, zu einem umfassenderen Begriff menschlichen Reichtums zu kommen, blieb in Anfängen stecken. Die Entfremdung, wie sie schon Marx erkannt hatte, in ihrer tiefen Vielschichtigkeit zu überwinden, gelang uns nicht. Der Streit, in welchem Maße es Volkseigentum gab, inwieweit also den Arbeitern die Produktionsmittel gehört hatten, wie hoch ihr Mitbestimmungsrecht zu bewerten war, er ist noch lange nicht beendet.
Dass aber die Werktätigen sich subjektiv zunehmend weniger als Eigentümer der Produktionsmittel empfanden und verhielten, darüber erscheint Streit müßig. Unsere Gestaltungsarbeit vollzog sich in einer feindlich gesonnenen Umwelt, die keine Alternative wollte, die stärker war und stärker blieb. Wir waren nicht frei, denn wir konnten nicht autonom sein. Kein System kann ohne Anpassung existieren. Ist es jedoch zu schwach, sich in diesem Prozess durch Selbsterneuerung – bei Bewahrung der Integrität der Gesamtstruktur – in seinem Wesen zu erhalten, so bricht es an der Anpassung ebenso zusammen wie am Nichtwandel. Perestroika und Antiperestroika – diese Antipoden waren sich in ihrem tiefsten Innern viel ähnlicher als ihre konsequentesten Exponenten es je werden wahrhaben wollen.
Der Zusammenbruch jeglichen Systems wird durch ein Kompendium von Faktoren bewirkt. Welche konkreten Momente letztlich die Katastrophe auslösen, das ist schon so gut wie unerheblich. Der sozialistische Versuch des zu Ende gehenden Jahrhunderts war unfertig, gewissermaßen roh. Mag sein, er kam zu früh. Immer voluntaristischer wurde seine Realisierung gehandhabt. Dynamik und Flexibilität gingen verloren. Wir erstarrten. Je unbeweglicher wir wurden, desto mehr verbreiteten sich ernsthafte Störungen auf das ganze System. Der Schluss ist bekannt. Der letzte Generalsekretär der KPdSU hat sich inzwischen auf Pizzareklame verlegt. Eine Analyse, ob das Ende unausweichlich war, steht aus, ist derzeit auch kaum möglich unter dem Druck des allgegenwärtigen Antikommunismus. Anstelle wissenschaftlicher Untersuchung dominiert noch immer würdelose Selbstbezichtigung. Der sozialistische Versuch wird losgelöst von Raum und Zeit bewertet, abgehoben von konkreten Bedingungen, vom Kampf ums Überleben. Die skrupellose Feindschaft, die uns das Kapital entgegenbrachte, wird weitgehend negiert, unsere Fehler, Irrtümer und Verbrechen werden verabsolutiert. Der gesamte sozialistische Versuch, so heißt es, sei seinem Wesen nach stalinistisch gewesen. Demzufolge ist, wer sich zu seiner Legitimität bekennt, Stalinist. Jedes Quäntchen Sachlichkeit muss unter diesen Umständen mühsam erkämpft werden. Dennoch: Analyse muss sein. Die Fragen müssen gestellt werden, um der Zukunft willen.
Musste unser System nicht an dem Bestreben erkranken, den Wettbewerb mit der Profitgesellschaft zu gewinnen? Bestand unsere Tragik nicht auch darin, dass wir, um anders zu werden, noch zu sehr sein mussten, wie die anderen waren? Als mehr denn problematisch erwies sich, was Brecht in der »Maßnahme« in die Worte fasste: »Versinke in Schmutz. Umarme den Schlächter. Aber verändre die Welt.« Und andererseits: War es denn, einmal angetreten, eine Ermessensfrage, ob wir uns diesem in äußerster Härte geführten Systemwettbewerb stellen würden oder nicht?
Es ging. Länger als 70 Jahre
Natürlich stellten wir uns. Und wenngleich wir in diesem Kampf um Sein oder Nichtsein immer die ökonomisch Schwächeren blieben, wenngleich wir letztlich zunächst unterlagen, realisierten wir schon etwas von dem, was Marx und Engels im Kommunistischen Manifest in die Frage kleideten: »Bedarf es tiefer Einsicht, um zu begreifen, dass mit den Lebensverhältnissen der Menschen, mit ihren gesellschaftlichen Beziehungen, mit ihrem gesellschaftlichen Dasein, auch ihre Vorstellungen, Anschauungen und Begriffe, mit einem Worte auch ihr Bewusstsein sich ändert?«
Selbst in historisch kurzer Frist war Wesentliches menschlicher geworden. Trotz alledem! Wenige Jahrzehnte ohne die unumschränkte Herrschaft des Ellenbogens ließen auch aufkeimen und ahnen, was in einer Gesellschaft möglich sein wird, in der »an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen [...] eine Assoziation tritt, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«. Die über siebzig Jahre währende Systemalternative war von Anbeginn auch durch nichtsozialistische Tendenzen und Erscheinungen geprägt, die zum Ende hin rapide zunahmen; aber ebenso schon durch sozialistische Errungenschaften. Der soziale Wert einer Gesellschaft lässt sich an der Lage der Schwächsten messen. Was immer uns angelastet werden kann: Die Menschen hatten Arbeit, ein bezahlbares Dach über dem Kopf, satt zu essen und kostenfreie medizinische Betreuung. Bildung sowie Kultur waren für jeden erschwinglich. Humanistische Erziehung war Verfassungswirklichkeit, Antifaschismus desgleichen. Wir kannten die Angst vor dem morgigen Tag nicht mehr, die das Leben unserer Großeltern und Eltern geprägt hatte und unser eigenes Dasein heute wieder bestimmt. Keine Kleinigkeiten, damit der Mensch ein Mensch sein kann.
Um es auf einen Freudschen Begriff zu bringen: Nunmehr ist die Realität zumindest unterbrochen, in der die Kultureignung des Menschen sich gesellschaftlich auf dem Prüfstand befand. Annähernd global dominiert die Bourgeoisieherrschaft. Die von einem dritten Weg träumten, erleben, dass ihre Illusion von einem besseren Kapitalismus wie eine Seifenblase zerplatzt. Sarkastisch lässt sich sagen: Wir sind wieder bei Marx: »Die Bourgeoisie [...] hat kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt.«
Schritt für Schritt begreifen Menschen, was sie verloren haben. Und das Verlorene ist nicht vergessen. Es erreicht ihre Herzen und zunehmend ihre Hirne gerade deshalb, weil sie es nicht mehr besitzen. Eine Identität stellt sich her mit etwas nicht mehr Existierendem. Welches, als es noch existierte, im doppelten Sinne nicht Traum war. Es war weder so schön, wie ein Traum sein kann, noch so unwirklich. Schmerzhaft, hilflos noch, kommt die Erkenntnis: Die Welt des Profits ist keine Alternative zur gescheiterten Alternative zur Welt des Profits. Und flugs werden all jene als Nostalgiker denunziert, die dem Sozialismus dieses zu Ende gehenden Jahrhunderts seine historische Existenzberechtigung zugestehen. Es ist schon eigenartig. Da liegen wir geschlagen am Boden, und dennoch stimmen 150 Jahre nach Erscheinen des Manifestes die Worte, als seien sie hier geschrieben: »Wo ist die Oppositionspartei, die nicht von ihren regierenden Gegnern als kommunistisch verschrien worden wäre, wo die Oppositionspartei, die den fortgeschritteneren Oppositionsleuten sowohl wie ihren reaktionären Gegnern den brandmarkenden Vorwurf des Kommunismus nicht zurückgeschleudert hätte.«
Woher kommt der ungebremste Hass auf einen geschlagenen Gegner? Könnten sie nicht großzügig sein? Die Probe aufs Exempel scheint wohl beunruhigender ausgefallen zu sein, als es irgend jemand zugeben würde. Und also sind die Bemühungen der Geschlagenen, die Kräfte wieder zu sammeln, offenkundig keine Peanuts für die bürgerliche Welt. Das Schreckliche für die vorläufigen Sieger der Geschichte ist, dass wir existierten. Länger als siebzig Jahre. Es ging. Das ist für sie das Entsetzliche: dass es ging. Was tun sie nicht alles, um diesen Punkt aus der Welt zu ideologisieren. Sie wollen uns einreden, die Unmenschlichkeit des sozialistischen Versuchs habe in der Absicht bestanden, den Menschen zu vermenschlichen. Dies sei wider dessen Natur. Demzufolge muss es ja menschlich sein, den Menschen dem Menschen ein Wolf sein zu lassen. Und in der Tat liegt hier des Pudels Kern: Das Maß aller Dinge ist die Funktionsweise der kapitalistischen Gesellschaft. Wer die außer Kraft setzen will, ist nicht normal, handelt widernatürlich, ist a priori zum Untergang verurteilt.
Ungebremster Hass
Kürzlich äußerte Siegmar Faust, einer der Unterdenunziatoren des Pfarrers Gauck: »Die zukunftsweisende Frage kann es [...] nicht sein zu ergründen, warum ›dieser erste Sozialismusversuch auf deutschem Boden gescheitert ist‹, was ja bald den zweiten Versuch verspricht, sondern man sollte darüber nachdenken, warum das Umsetzen utopischer, also unrealistischer Entwürfe immer in Terror, Tod und Elend mündet. Der Sozialismus ist weltweit gescheitert. Als was soll man Menschen bezeichnen, die ihre Artgenossen wiederum für solch ein Experiment missbrauchen möchten, nachdem es Abermillionen Opfer gekostet hat? Als Unmenschen, Zyniker oder nur als Ignoranten?« Soweit Faust.
Hier haben wir sie wieder, die uralte Methode: Der sozialistische Versuch wird – obendrein ohne jegliche zeitliche und territoriale Differenzierung – auf seine Negativseiten reduziert. Alles andere wird hinweggelogen. Kürzlich fand sich im Neuen Deutschland ein Bericht über eine religiöse Minderheit in Armenien, die Yezidi. In der UdSSR, so hieß es einleitend, hatten sie ihren gesicherten Platz. Und heute? Ein Bauer wird erpresst. Er will Anzeige erstatten. Auf der Polizeistation steht er plötzlich einem seiner Peiniger gegenüber. Dieses Mal ist der nicht in Zivil, er trägt die Uniform eines Polizisten ... Eines Tages kommen die Männer wieder in Zivil auf den Hof. Sie dringen in das Haus ein, schlagen den Mann. Sie zwingen den Bauern zuzusehen, wie sie seine Frau vergewaltigen. Nie wird er deren Schreie vergessen. Einige Kerle halten ihn fest, drücken ihm glühende Zigaretten auf die Handgelenke und das Ohr. Als der Sohn aus der Schule kommt, setzen die Männer dem Jungen ein Messer an die Kehle. [...] Alltag irgendwo in Armenien, einstmals UdSSR. Welch gewaltiger Fortschritt zurück hinter die bereits einmal überschrittene historische Linie. Alles scheint bestens geregelt, im Interesse der Profitmaximierung. Aber – wenn dem so ist, warum pfeifen sie dann so laut im Walde? Sie sind doch die Sieger! Gesiegt haben sie. Aber der Beweis über die Machbarkeit einer am Sozialprinzip orientierten Ordnung ist erbracht, mit ihm allerdings die bittere Lehre, dass Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte eben nicht bedeuten, selbige sei nach vorn nicht mehr offen. Dies jedoch gilt nicht nur für uns. Es bleibt, dass die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft die Geschichte von Klassenkämpfen ist. Vermutlich zu keinem Zeitpunkt aber war die Gefahr so ungeheuer groß, die Kämpfe könnten nicht mit einer revolutionären Umgestaltung, sondern mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen enden. Heute beträfe das dann vermutlich die Menschheit.
Die latente Angst der Bourgeoisie vor dem Gespenst des gewesenen sozialistischen Versuchs resultiert wohl in erster Linie aus deren eigener Lage. In unglaublicher Weise bestätigen sich auch hier Gedanken aus dem Manifest: »Die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor.«
Der Hexenmeister – das sind die Mechanismen einer Wirtschaftsordnung, in der eine Handvoll Großindustrielle, Banker und Spitzenmanager faktisch unbeschränkt über die Ressourcen der Gesellschaft verfügt, in der ausschließlich die Chance auf privaten Profit das wirtschaftliche Verhalten bestimmt. Gerade in den letzten Jahrzehnten beschleunigte sich die Konzentration des Kapitals im Rahmen der Internationalisierung der Produktion. Dies brachte die annähernd vollständige Beherrschung der Weltwirtschaft durch vergleichsweise wenige Multis mit sich. Der Begriff »Globalisierung« dient der Verschleierung dieses ausschließlich von Profitinteressen diktierten weltweiten Vorgangs. Die sozialen und politischen Auswirkungen der sogenannten liberalisierten Kapitalmärkte werden immer katastrophaler. Mit außerordentlichem Nachdruck und Tempo wird ein Kurs sozialer Konfrontation und unerbittlichen Sozialabbaus verfolgt. Dieser asoziale Kurs ist zwingend begleitet von einem erheblichen politischen Rechtsruck. Er findet seinen Ausdruck in einer immer repressiveren Innenpolitik, in zunehmenden Großmachtambitionen und damit einhergehender wachsender Militarisierung sowie in grassierendem Nationalismus und Rassismus. Das ist auch der Nährboden für sich ausbreitende Fascho-Aktivitäten und den steigenden Einfluss der entsprechenden Ideologie.
Kommunisten in der Periode der Restauration
Wir sind zunehmend in der Lage, die Situation zu beschreiben, in der wir uns befinden. Sehr langsam schwindet der ideologische Einfluss derer, die uns einreden wollen, man müsse dem Kapital nur ein wenig entgegenkommen, damit es sich von seiner guten Seite zeige, man solle so eine Art Wandel durch Annäherung zu sozialistischen Gunsten betreiben. Dabei widerlegt das Leben selbst Tag für Tag die Illusion über die – auf wundersame Weise – das große Kapital überlistende Gesellschaft. Doch weiter erzählt wird die endlose Geschichte, einst würden nicht mehr die Kapitaleigner die Politik bestimmen, sondern die Politik würde – sozusagen freischwebend im klassenlosen Raum – Ausdruck einer Gesellschaftssituation, die es plötzlich ermöglicht, über das private Eigentum und den Profit im Interesse der Allgemeinheit zu verfügen. Freilich teilt niemand mit, wie eine solche Transformation sich praktisch vollziehen soll. Aber ein bisschen Konspiration muss ja auch sein. Nein, dieser Unsinn verfängt immer weniger. Und die Situation lässt sich mit den Worten der Luxemburg beschreiben: »Angesichts dieses ist nicht die Entstehung der opportunistischen Strömung, sondern vielmehr ihre Schwäche überraschend. [...] Nun sie aber«, so Luxemburg weiter, »in dem Bernsteinschen Buche zum vollen Ausdruck gekommen ist, muss jedermann verwundert ausrufen: Wie, das ist alles, was ihr zu sagen habt? Kein einziger Splitter von einem neuen Gedanken. Kein einziger Gedanke, der nicht schon vor Jahrzehnten von dem Marxismus niedergetreten, zerstampft, ausgelacht, in nichts verwandelt worden wäre.«
In der sogenannten Wendezeit hatten nicht zuletzt die nicht vorhandenen Splitter von neuen Gedanken Hochkonjunktur. Die Konzeptionslosigkeit im Verhältnis zur Perestroika wurde durch die Konzeptionslosigkeit der Perestroika selbst ersetzt.
Wir erlebten zusammen, was daraus wurde. Beinahe ein Grund, sich lustig zu machen. Nur ist das Ganze eben nicht lustig. Die Obdachlosen, die offiziell fünf Millionen ohne Arbeit, die Sozialhilfeempfänger, die Kurden, die in geschlossenen grünen Wannen gefesselt zu den Abschiebeflughäfen gebracht werden, denen ist zum Lachen kaum zumute über die Blauäugigkeit, mit der seinerzeit das kapitalistische System beurteilt wurde. Gorbatschow hatte der Menschheit mitgeteilt, es gäbe keine Gegner mehr, wenn nur die Feindbilder aus den sozialistischen Stuben genommen würden, und schon fanden sich allerorts Gutmenschen, die sich bestenfalls noch vor dem Donner fürchteten, nicht aber mehr vor dem Blitz. Der vielgepriesene dritte Weg erwies sich als sichere Umleitung zurück in den Kapitalismus. Das Problem häufiger Migräne wurde durch Enthauptung gelöst. Ein unvollkommener sozialistischer Versuch wurde durch einen sich rasend schnell vervollkommnenden Kapitalismus ersetzt.
Dass der sozialistische Versuch in seiner Unvollkommenheit eine komplexe Entfaltung sozialistischer Demokratie nicht annähernd zu bewältigen vermochte, hat ihm elementare Möglichkeiten verstellt. Aber – so wichtig das gegebene politische System für das Funktionieren einer gesellschaftlichen Ordnung ist – entscheidend sind die Eigentumsverhältnisse. In diesem Sinne werden wohl die Grundaussagen des Kommunistischen Manifests den einen oder anderen theoretischen Schnellschuss der so sanft und friedlich ins neue Großdeutschland hinübergewachsenen 89er Herbstzeitlosen durchaus überleben. Darüber muss nicht einmal gestritten werden. Das Leben wird die Erkenntnisse richten. Kommunisten jedenfalls bekennen sich bis auf den heutigen Tag zu dem im Manifest formulierten Anspruch, »in allen diesen Bewegungen die Eigentumsfrage, welche mehr oder minder entwickelte Form sie auch angenommen haben möge, als die Grundfrage der Bewegung hervorzuheben«.
Das ist ein unveräußerliches Prinzip. Aber was tun Kommunisten, wenn es kaum Bewegungen gibt, und schon gar keine revolutionären? Wie verhalten sie sich nach einer welthistorischen Niederlage in einer Periode tiefster, von militantestem Antikommunismus geprägten Restauration? Zur Zeit zumindest zittern die herrschenden Klassen kaum vor einer kommunistischen Revolution. In Deutschland jedenfalls nicht. Und es macht auch nicht den Eindruck, dass das Proletariat, oder welchen Begriff auch immer man als zutreffend empfindet, für all jene, die ausgebeutet werden oder – noch schlimmer – ausgeschlossen sind aus dem Reproduktionsprozess, dass diejenigen zur Zeit sehr heftig die Absicht verfolgen würden, eine Welt zu gewinnen. Es scheint wie die Quadratur des Kreises, worauf schon die Achtundsechziger ziemlich hilflos verwiesen. So Herbert Marcuse: »Wir stehen heute vor dem Problem, dass die Umwandlung objektiv notwendig ist, dass aber das Bedürfnis nach dieser Umwandlung gerade bei den Schichten, die klassisch für die Umwandlung prädestiniert waren, eben nicht vorliegt. Erst einmal müssen die Mechanismen, die dieses Bedürfnis ersticken, beseitigt werden, was wiederum das Bedürfnis nach ihrer Beseitigung voraussetzt. Das ist eine Dialektik, aus der ich keinen Ausweg gefunden habe.« Soweit Marcuse.
Um wie viel perfekter ist die Manipulation heute. Und die Linke hat kaum Einfluss auf die öffentliche Meinung, verfügt kaum über finanzielle und materielle Möglichkeiten, die es ihr erlauben würden, auch nur bescheiden in dieser Mediengesellschaft zu stören. Und doch muss sie genau damit beginnen. Es gibt keine solide Debatte über den subjektiven Faktor heute, die sich an diesem Thema vorbeimogeln kann. Eine künftige Gesamtbewegung ist an diesem Problem vorbei kaum vorstellbar.
Doch – was ist das in der Gegenwart Mögliche und was das zugleich Notwendige? Die Antwort darauf ist vielleicht das Schwierigste. Resultiert sie nicht am ehesten aus der Frage nach den Hauptgefahren? Gewissheiten gibt es nicht. Annahmen schon. Das Kapital selbst muss Wege suchen, die Krisenmanagement in seinem Sinne erlauben. Die Richtung zeichnet sich ab. Es geht konsequent nach rechts. Nazitöne an den sogenannten Stammtischen sind zu sehr zur Normalität geworden, als dass es nicht fahrlässig wäre, diesen sich häufenden Dreck niedlich zu reden. Es gibt schon wieder Opfer. Tote, Verkrüppelte. Deutsche wie Ausländer. Es schwelt. Diese zunehmende Gefahr macht zugleich jede politische Übertreibung zu einem besonderen Hindernis, linke Zersplitterung zu überwinden. Natürlich ist die Auseinandersetzung mit jenen wichtig, die uns weismachen wollen, der Kapitalismus sei die bislang höchste Errungenschaft der Zivilisation, in der man ankommen müsse, um in Ordnung zu bringen, was noch nicht in Ordnung ist. Nicht weniger Aufmerksamkeit sollte allerdings dem linken Radikalismus, unserer durch den Opportunismus resistent gehaltenen, überkommenen Kinderkrankheit, gewidmet werden. Er äußert sich in unproduktiver Ungeduld ebenso wie in Provokationen gleichkommenden Verhaltensweisen während Demonstrationen. Wir sollten die Ungeduld mit uns selbst zuvörderst auf das sicher Machbare richten. Es gibt keinen geraden, kurzen Weg aus der kapitalistischen Gesellschaft hinaus.
»Wir sind Kommunisten (schrieben in ihrem Manifest die blanquistischen Kommunarden), weil wir bei unserem Ziel ankommen wollen, ohne uns an Zwischenstationen aufzuhalten, an Kompromissen, die nur den Sieg vertagen und die Sklaverei verlängern.« »Die deutschen Kommunisten sind Kommunisten«, schreibt Engels, »weil sie durch alle Zwischenstationen und Kompromisse, die nicht von ihnen, sondern von der geschichtlichen Entwicklung geschaffen werden, das Endziel klar hindurchsehen und verfolgen: die Abschaffung der Klassen, die Errichtung einer Gesellschaft, worin kein Privateigentum an der Erde und an den Produktionsmitteln mehr existiert. Die Dreiunddreißig (gemeint sind die Blanquisten) sind Kommunisten, weil sie sich einbilden, sobald sie nur den guten Willen haben, die Zwischenstationen und Kompromisse zu überspringen, sei die Sache abgemacht, und wenn, wie ja feststeht, dieser Tag ›losgeht‹ und sie nur ans Ruder kommen, so sei übermorgen ›der Kommunismus eingeführt‹. Wenn das nicht sofort möglich ist, sind sie also auch keine Kommunisten. Kindliche Naivität«, so Engels abschließend, »die Ungeduld als einen theoretisch überzeugenden Grund anzuführen!«
Vorstellungen, die kapitalistische Gesellschaft könne sich durch Reformen von innen evolutionär so verändern, dass sie ihre Widersprüche und Konflikte produktiv löst und in eine zunehmend humane Gesellschaft hinüberwächst, widersprechen dem Gang der Dinge. Die reale Entwicklung nach dem Wegfall des europäischen Sozialismusversuchs geht in die entgegengesetzte Richtung. Und dennoch: Können sich Linke respektive Kommunisten darauf beschränken, gegen die herrschenden Verhältnisse zu sein, sie zu entlarven, und ansonsten sozusagen darauf warten, dass die Straße endlich aktiver wird, weil ohne Massenproteste ja ohnehin nichts zu machen ist?
Wir meinen, sich auf zukünftige Massenbewegungen zurückzuziehen, ist auch nicht produktiv. Den dem Wesen nach Abwehr verkörpernden Tageskämpfen, mögen sie noch so begrenzt sein, muss unsere besondere Aufmerksamkeit gelten. Dort, wo Bewegung ist, wo Erfahrungen gesammelt werden, sollten wir sein. Nicht zuletzt Theoriebildungsprozesse werden vorwiegend hier ihre Impulse erhalten. Auch unser Verhältnis zu Reformen kann nur aus den Möglichkeiten abgeleitet werden, die eine außerparlamentarische Opposition erschließen könnte, so sehr eine linke parlamentarische Vertretung hier als Rückenhalt erforderlich ist.
Revolutionäre Geduld
Wenngleich wir wissen, dass mit dem Reformbegriff seit geraumer Zeit vor allem Schindluder getrieben wurde und wird, akzeptieren wir ihn in seiner ursprünglichen Bedeutung, der der Umgestaltung im Sinne von Besserung des Bestehenden. Auf der jüngsten Bundeskonferenz der Kommunistischen Plattform haben wir uns bemüht, einen Standpunkt zu dieser Problematik zu entwickeln: »Wir sind verpflichtet, eine Politik zu betreiben, die an die Lage der Menschen anknüpft, so wie sie heute ist. Eine reale Lageeinschätzung schließt die Bewertung des allgemeinen Bewusstseins breitester Schichten der Werktätigen ein. In dieser Hinsicht wird wohl kaum jemand übermäßig optimistische Einschätzungen treffen.
Natürlich nehmen wir wahr, dass die Sicht auf den Kapitalismus heute bedeutend illusionsloser ist als vor Jahren. Es gibt eine breite Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen. Besonders im Osten hat sich in diesem Kontext auch der Umgang mit der DDR objektiviert. Aber die Stimmungslage mag sein, wie sie will: Unzufriedenheit erbringt nicht automatisch linke Positionen, und wo diese vorhanden sind, gibt es ohne organisatorisches Wirken eben noch lange keinen sich artikulierenden Widerstand. Nur eine Minderheit wehrt sich, und das Kapital versteht es meisterhaft, Stimmungen, die sich dem Ursprung nach gegen die Verhältnisse richten, im Sinne der Verhältnisse zu kanalisieren. Wie nicht nur einmal in der Geschichte werden Sündenböcke zum Beladen erfunden. Der rechte Einfluss ist beträchtlich und wächst. Eine kraftvolle, in wesentlichen inhaltlichen Fragen einheitliche, gut organisierte gesamtdeutsche Linke gibt es nicht. Daraus folgt, dass zur Zeit auch kein Licht am Ende des Tunnels eine baldige Änderung dieser, häufig von Angst und Lethargie geprägten Stimmung anzeigt, während Demagogen aller rechten Strömungen ihre große Stunde haben. Wir sind also, wie immer die Gründe dafür bewertet werden, von einer die Verhältnisse in ihrem Wesen in Frage stellenden Situation weit entfernt und müssen es verstehen, eine Politik zu betreiben, die – vorerst jenseits grundlegender Veränderungen – die Interessen jener verficht, die die Leidtragenden des ungedämpft funktionierenden Profitmechanismus sind.
Die Anerkennung unserer eigenen gegenwärtigen Schwäche verbindet sich für uns nicht mit dem Schluss, die auf Skrupellosigkeit beruhende Stärke des Kapitalismus als Status quo zu akzeptieren und daher faktisch Frieden mit dem System zu machen.« Das gegenwärtige Kräfteverhältnis zur Kenntnis zu nehmen, heißt nicht, die Schuldigen für die zunehmende Misere nicht zu benennen, und auch nicht, das eigentliche Ziel sozialistischer Politik, den Sozialismus also, aus dem Auge zu verlieren. Das Ziel beizubehalten darf allerdings nicht zu voluntaristischen Verkürzungen führen. Sozialistische Politik, will sie nicht wunschdenkend sein, muss sich derzeit darauf konzentrieren, Abwehrkämpfe gegen den modernen Manchesterkapitalismus mit zu befördern, was aktives Wirken in den Gewerkschaften erfordert, muss Vorschläge in die politischen Debatten und in linke Programmatik einbringen, die auf die Dämpfung der Verwertungsprozesse des Kapitals gerichtet sind.
Es geht darum, Ansprüche an dieses System zu artikulieren, die die Potenz in sich bergen, Menschen für deren Realisierung zu mobilisieren und – solange das nur in sehr begrenztem Umfang gelingt – zumindest die Grenzen des Systems aufzuzeigen. Wir denken, dieses Herangehen lässt sich schon mit jenen Überlegungen in Zusammenhang bringen, die wir bei Lenin im »Linken Radikalismus ...« finden. Wir sind nicht in der Offensive, so gern wir es auch wären. Wir haben überlebt. Das ist schon viel, und vielleicht kann man, was zur Zeit stattfindet, als ein Ordnen der verbliebenen, noch auf dem Rückzug befindlichen Kräfte betrachten. »Die ganze Aufgabe der Kommunisten besteht darin«, so Lenin, »dass sie es verstehen, die Rückständigen zu überzeugen, unter ihnen zu arbeiten und sich nicht durch ausgeklügelte, kindische ›linke Losungen‹ von ihnen abzusondern. Man muss«, so Lenin, »die Revolutionäre der Phrase schonungslos entlarven [...], die nicht begreifen wollen, dass man den Rückzug antreten und es verstehen muss, den Rückzug durchzuführen, dass man unbedingt lernen muss, selbst in den reaktionärsten Parlamenten, in den reaktionärsten Gewerkschaften, Genossenschaften, Versicherungskassen und ähnlichen Organisationen legal zu arbeiten [...]. Es kommt nur darauf an, dass man es versteht, diese Taktik so anzuwenden, dass sie zur Hebung und nicht zur Senkung des allgemeinen Niveaus des proletarischen Klassenbewusstseins, des revolutionären Geistes, der Kampf- und Siegesfähigkeit beiträgt [...]. Den Kampf aufzunehmen, wenn das offenkundig für den Feind und nicht für uns günstig ist, ist ein Verbrechen, und Politiker der revolutionären Klasse, die nicht ›zu lavieren, Übereinkommen und Kompromisse zu schließen‹ verstehen, um einem offenkundig unvorteilhaften Treffen auszuweichen, sind keinen Pfifferling wert.«
Für breiteste Bündnisse gegen neuartigen Faschismus!
Die heutige Situation zwingt uns, für die ernsthafte Gefahr zu sensibilisieren, dass mit dem Wegfall des sozialistischen Versuchs auch die bürgerliche Demokratie ihre Schuldigkeit getan haben könnte. Das Kapital ist seiner Natur nach aggressiv und volksfeindlich, also antidemokratisch. Der bloße Ansatz einer gesellschaftlichen Alternative veranlasste es zu Modifikationen, die heute nicht mehr nötig und vermutlich auch schon nicht mehr möglich sind. Die ökonomische, soziale und politische Entwicklung macht Gleichschaltung für das kapitalistische System immer mehr zum Gebot, als müssten in Anbetracht von alleine in Deutschland fünf Millionen offiziell registrierten Arbeitslosen verschiedene Optionen der zukünftigen politischen Rahmenbedingungen für Profitmaximierung zumindest ins Kalkül gezogen werden. Eine Transformation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft in einen neuartigen internationalen Faschismus kann nicht ausgeschlossen werden. Die Erfahrung von Auschwitz ist keine Garantie gegen dessen Wiederholbarkeit. Dieser Gefahr wegen kann unser Schluss nicht kurz sein. Es gilt, die heutige bürgerliche Gesellschaft gegen die Rechten vor der teils schleichenden, doch zunehmend offener werdenden Verbreiterung des sie umgebenden faschistoiden Rands zu verteidigen.
Dies zu tun, ohne hierbei zu Apologeten des Systems zu werden, darin besteht eine der größten Schwierigkeiten unseres politischen Kampfes. Wollen wir geschichtliche Fehler nicht wiederholen, so kommen wir allerdings um diese intellektuelle und charakterliche Mühe nicht herum. Wenn, wie es im Manifest heißt, die Kommunisten theoretisch vor der übrigen Masse [...] die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der [...] Bewegung voraushaben – wir wissen heute, dass noch nicht einmal diese Einsicht garantiert ist, sie ist lediglich möglich –, so hat schon die bloße Anerkennung einer Gefahr erneuter offener Kapitaldiktatur prinzipielle Konsequenzen. Oberster Grundsatz aktuellen politischen Handelns muss dann darin bestehen, breiteste Bündnisse zu befördern. Das schließt ein, sich hierzu das intellektuelle und praktisch-organisatorische Rüstzeug zu erarbeiten. Eine Reihe von Erfahrungen, nicht zuletzt die Liebknecht-Luxemburg-Ehrung, belegen, dass hier gute Ansätze für Mobilisierungsarbeit und ideologische Klärungsprozesse liegen. Konzentration auf heute schon Machbares widerspricht nicht dem objektiven Interesse einer anzustrebenden Gesamtbewegung.
In der gegenwärtigen Phase des Kampfes die Gefahren von rechts auch nur ein wenig zu unterschätzen, hieße möglicherweise, sich für die Zukunft alles zu verstellen. Wenn wir diese Aufgabe allerdings als eine elementare betrachten, so erhebt sich die Frage, welches für die Rechten selbst der Kulminationspunkt ihres Wirkens ist. Und das ist die sogenannte Ausländerfrage. Es ist auch für die Linken in Deutschland eine Schande, mit welcher Selbstverständlichkeit in diesem Lande die Ausländer zu Sündenböcken abgestempelt werden, die Konsequenzen ihrer Behandlung eingeschlossen. Wenn es einen konzentrierten Ausdruck faschistoider Entwicklungen gibt, so ist es die Asyl- und Ausländerpolitik. Nicht nur hierzulande. Was den alten Nazis einst die Juden waren, sind den neuen die Ausländer. Es ist, als würde sich ein Gift in alle Schichten der Gesellschaft fressen, nur wenige erweisen sich als resistent. Wenn der Bundesrat einen Gesetzentwurf beschließt, der Zehntausenden von ausländischen Flüchtlingen in naher Zukunft die Sozialhilfe entziehen wird, so ist das staatlich sanktionierte Barbarei. Um sie aus dem Lande zu treiben, wird Menschen die Möglichkeit genommen werden, unter einem Dach zu leben und zu essen zu haben. Und es erhebt sich kaum eine Stimme.
Auch wir verwenden mehr Zeit darauf, uns darüber zu streiten, ob uns hier und heute die Machtfrage theoretisch beschäftigen sollte oder ähnliches, als wir uns damit befassen, wie wir in dieser Eiseskälte praktische Solidarität entwickeln. Und es geht beileibe nicht um bloße karitative Hilfe. Es geht um eine Grundfrage. Als 1938 die Synagogen brannten, gaben deutsche Kommunisten unter Einsatz ihres Lebens eine Sondernummer der ROTEN FAHNE heraus. Sie ist in der Villa am Wannsee zu sehen, wohl als einzige innerdeutsche Protestaktion. In der ROTEN FAHNE finden wir die Klassenanalyse dessen, was damals mit den jüdischen Menschen passierte. Es ist ein todesmutiger Akt der Solidarität mit den am meisten Erniedrigten und Beleidigten. Es ist der Kampf gegen die von den Nazis mit unglaublicher Brutalität betriebene Gleichschaltung, nicht zuletzt zum Zwecke der mentalen Verelendung mit dem Ergebnis des Verfalls jeglicher humanistischer Werte. Im Kern vollzieht sich heute Vergleichbares: Sie diskriminieren, sie schalten gleich, sie brutalisieren, und das Quantum an mentaler Verelendung, welches diese Gesellschaft erzeugt, ist enorm. Wer Kriege vorbereitet, wie gerade jetzt gegen den Irak, ist auf so etwas allein aus diesem Grunde angewiesen. Wir müssen den scheinbar alles beherrschenden Verdummungs- und Verrohungsprozessen unsere eigene Kultur entgegensetzen, vor allem die Kultur der Solidarität. Wenn uns das nicht gelingt, wird man einst über uns sagen, was Walter Laqueur über den Holocaust schrieb: »Viele Monate lang glaubten die polnischen Juden, die Massentötungen würden auf die besetzten Gebiete der Sowjetunion beschränkt bleiben. Als die Aktionen innerhalb Polens einsetzten, dachte man allgemein, es handle sich um vereinzelte und eigenmächtige, nicht offiziell angeordnete Maßnahmen irgendwelcher Ortskommandanten. Nachdem bereits ganze Gettos liquidiert waren, herrschte immer noch die Meinung, die Nazis würden es nicht wagen, Hunderttausende von Menschen in der Hauptstadt zu töten. Als die Deportationen in Warschau begannen, dachte man, dass nur die davon betroffen würden, die nicht in den Werkstätten und Fabriken für die Kriegswirtschaft produzierten. Unter den deutschen und österreichischen Juden herrschte die Anschauung, dass die Nazis zwar durchaus imstande seien, jede unvorstellbare Grausamkeit an russischen und polnischen Juden zu begehen, die sie als eine mindere Spezies Mensch betrachteten, dass sie aber Juden ihres eigenen Kulturkreises anders behandeln würden. Französische, italienische und niederländische Juden ihrerseits waren davon überzeugt, dass die Nazis zwar ihre eigenen (deutschen) Juden immer gehasst und verachtet hätten, dass sie aber ihr Ressentiment nicht unbedingt auch auf die westeuropäischen Juden übertragen würden, die sie kaum kannten.«
Welch maßlose Übertreibung liegt in diesem Vergleich, mag mancher jetzt denken. Einerseits zu Recht. Es wäre eine absolute Verniedlichung des Faschismus, würden wir die heutige Situation mit der damaligen gleichsetzen. Natürlich haben wir keinen Faschismus. Andererseits ist es so: Entwicklungen sind nicht ausschließlich nach ihrem Resultat zu beurteilen, sondern auch nach ihrem Beginn. Und es ist äußerst alarmierend, dass in diesem Land widerstandslos Gesetzesinitiativen durchkommen, die Menschen in den Hunger, in die Obdachlosigkeit und somit in die Kriminalität zwingen. Fluggesellschaften, so bestätigte das Bundesverfassungsgericht kürzlich, dürfen asylsuchende Ausländer ohne Visum nicht nach Deutschland befördern. Das ist die faktische Aushebelung jeglicher Asylmöglichkeit für viele Menschen. Und es ist still. Nun sollen Asylbewerber unter die Lupe genommen werden, die heiraten möchten. Es seien, wird behauptet, ohnehin nur Scheinehen als letztes Schlupfloch gegen drohende Abschiebung. Und die Abschiebungen sind natürlich vollkommen legitim. Für den, der betroffen ist, klingt das so: »Wir fordern Sie hiermit auf, sich zur Durchführung der Abschiebung am Dienstag, dem 24. Februar 1998, um 7.00 Uhr beim Polizeipräsidenten in Berlin«, es folgt die exakte Adresse, »mit Ihrem Reisegepäck (maximal 20 kg) und – sofern nicht hier hinterlegt – mit gültigem Reisedokument einzufinden.«
Und dann gibt es welche, die wollen sich nicht abschieben lassen. Die klagen, wie eine Familie aus Bosnien. Und das Oberverwaltungsgericht Berlin teilt zur Begründung der Unanfechtbarkeit der bevorstehenden Abschiebung mit: »Die von den Antragstellern geäußerte Furcht vor Minen, die Flüchtlinge und Bewohner Bosnien-Herzegowinas gleichermaßen betrifft, ist [...] nicht auf eine so extreme Gefahrenlage gegründet, dass sie die Rückkehr nach den oben dargestellten Maßnahmen als unzumutbar erscheinen ließe.«
Das passiert. Jeden Tag. Massenhaft. Der polnische Dramatiker Slawomir Mrozek kommt einem da in den Sinn: »Die eigentliche, nicht zu vermeidende Bedrohung ist alles, was langsam geschieht, stufenweise, fast unbemerkt. Die Erosion, das stufenweise Verbleiben, das Auseinandergehen, das Vergehen. Alles, was sich so unbemerkt ereignet, dass es sich unserem täglichen Bewusstsein entzieht, alles was sich erst dann erkennen lässt, wenn es schon zu spät ist, wenn wir überrascht ausrufen: ›Ah, ist es soweit, jetzt also schon?‹ [...] entsprechend dem bekannten Spruch ›Nichts passiert und alles geschieht.‹«
Sie kommen anders daher, aber sie kommen. Das bedeutet noch nicht, dass sie die Schlacht schon gewonnen hätten, aber es heißt, dass sie sie gewinnen könnten, wenn nicht alle humanistischen und linken Kräfte ihre Möglichkeiten bündeln. Arbeit von Kommunistinnen und Kommunisten orientiert sich stets an den brennendsten Gegenwartsfragen, und sei ihre Bewältigung mit noch so großen Schwierigkeiten verbunden, ganz im Sinne des Manifests: »Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung.« Immer tiefer in die Barbarei. Oder Sozialismus. Es liegt auch an uns.
(»Mitteilungen«, 03/1998)
Anmerkung:
[1] Komplett nachzulesen ist der Beitrag in: Werner Wüste und andere (Hrsg.), Klartexte, Beiträge zur Geschichtsdebatte, Verlag am Park 2009, S. 18-35, und hier in der Online-Fassung des Heftes 2/2023. Zwischenüberschriften: Mitteilungen-Redaktion.
Mehr von Ellen Brombacher in den »Mitteilungen«:
2023-01: Günter Herlt (18. Juni 1933 – 20. Dezember 2022)
2022-11: Deutsch-jüdisches Familienbild
2022-10: Wortmeldung zum 24.10.1992 (Landesparteitag der PDS Berlin)