Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Zum Tag der Erinnerung und Mahnung

Ellen Brombacher, Berlin

 

"Nicht nur im Osten herrscht ein Klima, das glauben läßt, nie hätte es Zeiten gegeben, in denen Juden mit der Zahnbürste und unter dem Beifall guter deutscher Bürger Gehwege schrubben mußten", schrieb Rene Heilig am 21. August im ND. Und: "Die Gänsehaut vieler schützte sie nicht vor dem Transport ins Gas ... Die Bande, die sich an der 'Inder-Hatz' beteiligt hat, ist in der Masse zu jung, um diese Art Konsequenz mit der Seele spüren zu können. ... Das jedoch trifft nicht auf jene zu, die latenten Rassismus für eigene politische Ziele nutzen." Es sei, so Heilig abschließend, Jürgen Rüttgers, Chef im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW gewesen, "der Wahlkampf mit dem Spruch 'Kinder statt Inder' machte. Rassismus als Randerscheinung nach Mügeln zu verbannen, wäre Selbstbetrug." Heilig schreibt gegen den Zeitgeist. Dafür ist ihm zu danken. Die Medien übertrafen und übertreffen sich wieder einmal gegenseitig, fürsorglich auch darauf zu verweisen, daß der Schatten der "Zweiten deutschen Diktatur" bis heute für Nazinachwuchs sorge. Die DDR sei schuld. Nicht die im Osten doppelt so hohe Arbeitslosigkeit, nicht fehlende Lehrstellen und geschlossene Jugendeinrichtungen, nicht PISA, nicht geistige Leere, tagtäglich erzeugt durch Bildzeitung und Privatfernsehen, nicht Killerspiele am Computer – nicht ein sich durch die Totalität der Profitmaximierung zersetzendes Gemeinwesen also erzeugt das für Naziideologie so trächtige Klima: Nein, die DDR verkorkst selbst noch die Generation, die nach 1989 das Licht der Welt erblickte.

Kaum ein Tag vergeht, an dem wir nicht über Faschokonzerte oder in letzter Instanz gerichtlich legitimierte Nazidemonstrationen lesen. Kaum ein Tag, an dem wir nichts über Nazigewalt erfahren: von krankenhausreif Geschlagenen, bisweilen auch von Ermordeten, von geschändeten jüdischen Friedhöfen oder sowjetischen Mahnmalen. Wohl kein Tag vergeht ohne Informationen über vielfältige Naziaktivitäten; die entstehenden Schulungszentren gehören dazu. Ohne Gehirnwäsche keine von Nachhaltigkeit geprägten Faschostrukturen! Doch Nazis rüsten nicht schlechthin geistig auf. Sie erhalten – wie bereits im Kontext mit Ministerpräsident Rüttgers erwähnt – ihr Rüstzeug nicht zuletzt aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Auch die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Frau Steinbach, ist CDU-Bundestagsabgeordnete, und der 'Tag der Heimat' ist keine NPD-Bildungsveranstaltung. Just anläßlich dieses Tages erklärte sie, "die Tatsache der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft" werde "mißbraucht, um ... Massenvertreibungen zu rechtfertigen". Und der Präsident des Europäischen Parlaments Pöttering fügte hinzu: "Kein Unrecht darf durch seine historische Einordnung relativiert und geschmälert werden. Jedes einzelne Opfer hat Recht auf die Anerkennung der Einzigartigkeit seines Leids." Man bedenke: JEDES!

Kürzlich war ich in Auschwitz. Zum ersten Mal. Der Lagerkommandant Höß wurde an jenem Ort gehenkt, wo die erste Gaskammer des Lagers in Betrieb genommen worden war. Höß – ein Opfer? Soll ich – vielleicht noch unter Berufung auf den Roman von Robert Merle "Der Tod ist mein Beruf" – die Einzigartigkeit auch seines Leids anerkennen? Wie Merles Leser wissen, war der Vater von Höß ein Tyrann und hat zweifelsfrei zu dessen Pervertierung beigetragen. Ich bekenne: Zu solcherart Großzügigkeit, selbst für diesen fabrikmäßig Mordenden noch eine Spur Verständnis aufzubringen, fühle ich mich weder in der Lage noch finde ich diese moralisch gerechtfertigt. Wir, mein Sohn und ich, gingen die Rampe entlang zu den gesprengten Gaskammern und Krematoriumsöfen. Mehr als eine Million Menschen waren dorthin in den Tod geschickt worden. Jahr für Jahr. Tag für Tag. Stunde für Stunde. Unbegreiflich. Die Bestialität unfaßbar. Und da soll derer mit den Totenköpfen an der Militärkleidung als Täter und Opfer gedacht werden? Diese abstrakte, vermeintliche Güte ist Zynismus, der aus Phantasielosigkeit kommt – oder aus politischem Kalkül. Solche SS-Schergen seien eher nicht gemeint, wird mancher mir entgegenhalten. Und Höß schon gar nicht. Aber – die "saubere Wehrmacht" hatte Auschwitz im Rücken und hat es mit verteidigt.

Der Gedanke läßt sich weiterführen. Er ist so grausam, wie es die Realität des Faschismus war. Natürlich sind viele unschuldige Menschen umgekommen; überall wo Bomben fielen, denken wir nur an die verbrannten Kinder. Auch deutsche Kinder waren schuldlos. Aber – die Verantwortung für das bittere Schicksal vieler Deutscher, die nicht oder nicht unmittelbar schuldig geworden waren, ist nicht jenen Völkern in die Schuhe zu schieben, denen die deutschen Faschisten unendliches Leid zugefügt hatten, bevor der Krieg an seinen Ausgangspunkt zurückgekehrt war. Natürlich ist der deutschen Kriegsopfer zu gedenken. Zu verantworten haben sie jene, denen deutsche Kapitalinteressen mehr als fünfzig Millionen Menschenleben wert waren. Doch genau diese Sicht auf Geschichte lehnt Herr Pöttering ab. Auf historische Einordnungen soll verzichtet werden, und also sollen die Opfer jenseits der Ursachen von Krieg und Kriegsende ahistorisch einander gleichgesetzt werden, damit ...? Ja, damit auch die pauschal als Täter Definierten gleichgesetzt werden können. Etwas Besseres kann den heutigen Nazis nicht passieren. Sarkastisch formuliert: Sie überlassen unsereins das Gedenken an die sechs Millionen Holocaust-Opfer in Auschwitz, Majdanek, Sobibor und anderen Vernichtungslagern, das Gedenken an die insgesamt elf Millionen, die in faschistischen Konzentrationslagern ermordet wurden und sie, die Nazis, gedenken in Dresden und andernorts der Opfer der Alliierten-Luftangriffe, die sie dreist "Bomben-Holocaust" nennen. Die "moderne" Naziideologie, deren Aggressivität im Kontext mit Sozialabbau, Krieg, repressiver Innenpolitik und Kulturverfall "gedeiht", entwickelt sich vorrangig aus den Komponenten Nationalismus und Rassismus, aus der Gleichsetzung des faschistischen Vernichtungskrieges mit Vergeltungsaktionen, die aus eben diesem Krieg resultierten und aus der sogenannten Totalitarismusdoktrin. Und genau diese Quellen entspringen der sogenannten Mitte der Gesellschaft.

Ein letztes Beispiel soll für die Totalitarismusthese stehen. "Geschichte im Dissens – Die Auseinandersetzungen um die Gedenkstätte Sachsenhausen nach dem Ende der DDR" ist der Titel einer umfangreichen Studie aus dem Leipziger Universitätsverlag. "Der hier abgehandelte Dissens", schreibt Hans Canje in der antifa Juli/August 2007, "besteht in der historischen Einordnung des faschistischen Konzentrationslagers Sachsenhausen (1937-1945) und des nach der Befreiung auf diesem Gelände installierten sowjetischen Internierungs- respektive 'Speziallagers Nr.7/Nr.1' (1945-1950)." Nun hätten sich Historiker auf die These geeinigt, das eine Lager dürfe durch das andere 'weder relativiert noch bagatellisiert werden'. Dennoch hielte der Dissens an. DENNOCH? Heinz Junge, meines Vaters vor wenigen Jahren verstorbener Freund – beide waren in Sachsenhausen inhaftiert – gab Mitte der sechziger Jahre in Neumünster eine Broschüre über dieses KZ heraus. Vierzig Seiten Beschreibung des Grauens. Ein Auszug: "Am heiligen Abend 1936 wurden mehr als dreißig Häftlinge auf dem Appellplatz an den "Pfahl" gehangen. ... Die Hände wurden dem Opfer auf dem Rücken zusammengebunden, ein Strick um die Unterarme gelegt und der Häftling so hoch gezogen. Frei in der Luft baumelnd, unter entsetzlichen Schmerzen wurde er von rohen SS-Fäusten hin und her geschaukelt. Andere SS-Leute stießen dem Opfer harte Gegenstände ... in die angespannten weichen Schulterteile. ... Das "Pfahlhängen" dauerte zwischen 30 Minuten und zwei Stunden." Im sowjetischen Internierungslager, so Horst Jänischen, der als 15-jähriger verhaftet und bis Juli 1948 in Sachsenhausen inhaftiert worden war "ist niemand gefoltert, erhängt oder erschossen worden". Relativiere ich nun, wenn ich das "Pfahlhängen" zitiere?

Es relativieren jene, die unentwegt über die beiden deutschen Diktaturen reden. Und die können sich auf ein solches Maß an Verteuflung der DDR durch das Gros der Medien verlassen, daß der Haß vieler "guter deutscher Bürger" – um noch einmal Rene Heilig zu zitieren – vor allem die DDR trifft und, wenn überhaupt, in viel geringerem Maße die Hitlerdiktatur. Ein weiteres Geschenk für Nazis aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Wohin das führt, kann man dieser Tage in Budapest erleben. Dort gründete sich eine paramilitärische Garde ungarischer Faschisten. Ihre Uniformen sind schwarz. Faschisten seien heutzutage nicht die Gefahr, sondern die Kommunisten, erklärte einer der Protagonisten am 24. August im ARD-Morgenmagazin. Denken wir auch dran, am Tag der Erinnerung und Mahnung am 9. September 2007.

Den Aufruf zum Aktionstag gegen Rassismus und Krieg am Sonntag, 9. September 2007, dem Tag der Erinnerung und Mahnung, 13 bis 18 Uhr im Berliner Marx-Engels-Forum neben dem Roten Rathaus, dokumentierten die "Mitteilungen" im Heft 8/07 auf Seite 17 f.

 

Mehr von Ellen Brombacher in den »Mitteilungen«: 

2007-07: Sie schaute mich an, als sei ich von Sinnen ...

2007-07: Antisemitismus in der DDR

2007-06: Am Vorabend des Gründungsparteitages